Das Altern läuft auf lange Sicht kontinuierlich ab. Aber es gibt Kipp-Punkte wie beim Klimawandel. Es gibt Kanten, über die man stolpern kann, und nachher ist vieles anders.

Es gleicht einer Terrassen-Landschaft, lange geht es ebenaus, dann kommt eine Stufe. Man kann sich immer wieder einrichten. Aber wenn man einen Schritt gemacht hat, ist wieder ein Stück vom Alten vorbei, man kann es nicht zurückhaben. Man muss sich einrichten damit und zufrieden sein.

Ein gemeinsamer Weg
«Zusammen alt werden» – das taucht oft als Wunsch auf von zwei Menschen, die den Weg gemeinsam gehen wollen. Aber meist gibt es einen Altersunterscheid, der Mann ist oft älter und die Frau hat eine längere Lebenserwartung. So ist es der Mann, der den Schritt zuerst macht, wenn wieder eine Stufe ansteht. Und für die Frau ist es langweilig, wenn sie sich anpassen muss an den kleiner gewordenen Radius ihres Partners. Plötzlich sind nur noch Wanderungen möglich, wo es nicht bergab geht (das Knie!), Ausflüge, wo man bald einkehren kann (die Blase!). Man macht nur noch Reisen, wo man nicht zu lange im Zug sitzt. Selber könnte man noch Marathon laufen, man freut sich auf weite Reisen.

Sieht das so aus?
Und wenn der Partner wirklich ernsthaft erkrankt, wenn man ihn pflegen soll, dann steht plötzlich ein Bild vom Lebensende vor einem, wie man es sich nie erträumt hat. Ich verstehe, wenn Frauen sich von ihren Männern lossagen. Ein Bekannter bekam MS, bevor er pensioniert wurde. Es ging in Schüben abwärts. Er wurde frühpensioniert, verlor sein altes Leben. Schliesslich verliess ihn seine Frau. Er fluchte. Er kannte sich nicht mehr aus in seinem Leben. Fluchen war eine erste Form, sich in diesen neuen Kleidern zu betrachten. «Ach, so einer bin ich! Ich hätte nie gedacht, dass es drauf hinausläuft!»

Stufen
Er hatte keine Zeit, um sich zu arrangieren. Hermann Hesse ist alt geworden. Man kennt die Bilder, wie er vor seinem Haus im Tessin im Garten steht und die Pflanzen pflegt. Er meditierte das Kommen und Gehen und schrieb sein Gedicht «Stufen», das viele Glückwunsch-Karten ziert. Er ging wohl viele Stufen auf einer dieser Steintreppen im Tessin. Mein Bekannter ging eine kurze Treppe, oder er stürzte und liess die Zwischenstufen aus.

Das Fluchen stand bei ihm aber nicht zuletzt. Ich kann mich erinnern, wie ich ihn in seinem neuen Heim besuchte, als sie ein Weihnachtsspiel aufführten. Er hat sich für Religion wieder interessiert, leider konnte er nicht mehr lesen und konnte sich nur in Erinnerung rufen, was er auswendig kannte. Das ist einer der Gründe, warum ich mir ab und zu die biblischen Texte vorsage, die ich noch behalten habe.

Bis ihr grau werdet
Einer dieser Texte stammt aus Jesaja: „Hört auf mich, die ihr von Mutterschoss an von mir getragen und von Geburt an gehegt worden seid: bis in euer Alter bin ich derselbe, und bis ihr grau werdet trage ich euch. Ich will euch tragen und erretten.“  (Jes 46,3f)

Und solange ich noch lesen kann, ist Psalm 71 ein schöner Text für das Alter:

«Mein Gott, hilf mir in meiner Not / Denn du bist meine Hoffnung von meiner Jugend an. / Auf dich habe ich mich verlassen vom Mutterleib an; / du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen.

Verwirf mich nicht in meinem Alter, / verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. / Denn meine Feinde reden über mich, / und die auf mich lauern, beraten sich miteinander.

Gott, du hast mich von Jugend auf gelehrt, / und noch jetzt verkündige ich deine Wunder. / Auch im Alter, Gott, verlass mich nicht, / und wenn ich grau werde, / bis ich deine Macht verkündige Kindeskindern / und deine Kraft allen, die noch kommen sollen.

Ich aber will auf Dich hoffen / und mehren all deinen Ruhm. / Mein Mund soll verkündigen deine Gerechtigkeit, / täglich deine Wohltaten, die ich nicht zählen kann. / Ich gehe einher in der Kraft Gottes des Herrn; / ich preise deine Gerechtigkeit allein.»

 

Foto von Foto von Hussein Altameemi, pexels