Gott gesucht

Vor etwa 30 Jahren zog ich in eine andere Stadt. Ich war geschieden und fing eine neue Stelle an. Abends nach der Arbeit setzte ich mich an die Schreibmaschine. Ich befürchtete, mich zu verlieren und wollte mir über den Tag Rechenschaft geben.

Bald tauchte die Glaubensfrage auf. Sie kam durch eine andere Tür zurück als jene, durch die ich sie in der Pubertät verabschiedet hatte. Damals hielt ich den Glauben für eine Zumutung für das Denken. Jetzt begriff ich, dass ich nicht vertrauen konnte. Und das fehlte mir nicht nur zu einem Glauben, das fehlte mir auch im Alltag, im Verhältnis zu anderen Menschen und zu mir selbst.

Glauben, vertrauen – das ist nicht nur eine äusserliche Frage, begriff ich. Da geht es um mich selbst. Damit war die Glaubensfrage zurück in meinem Leben.

Als ich pensioniert wurde, sah ich die Notizen durch. Das war mir nicht bewusst gewesen, dass diese Frage sich solange durchgehalten hatte. Als ob ich 30 Jahre lang denselben Stein behauen hätte. Aber nicht als Repetition des Immer-Gleichen. Im Rückblick kam es mir vor, als ob die vielen tausend Seiten dieser Notizen nichts anderes erzählten als die Geschichte einer Heilung.

2016 durfte ich einige Texte aus dieser Zeit vor einer Gruppe von Pfarrpersonen vortragen. Das ist der Grund für diese Auswahl.

 

Vorübung

Eine Vorübung auf den Glauben wurde es für mich, als ich 1984 auf unbestimmte Zeit ins Ausland fuhr. Ich liess alles hinter mir, Stelle, Freunde, Wohnung, Altersversicherung. Es liess viele Ängste aufsteigen – und ich machte die Erfahrung: Ich kann alles aufgeben – und ich falle nicht ins Bodenlose. Es findet sich, was ich brauche.

Das wurde mir später zu einer Abbreviatur des Glaubens: aus Sicherheiten auswandern. Auf das zugehen, was ich als richtig erkannt habe. Und vertrauen, dass ich finde, was ich brauche.

 

Bin ich gläubig oder nicht?

Ich war weit entfernt von Religion und Glaube. Allerdings, als meine erste Frau so viel auf Autobahnen unterwegs war, da ertappte ich mich dabei, dass ich für sie betete.

Irgendwann fiel mir das auf und ich fragte mich: Wie kann ich beten, wenn ich keinen Gott glaube? – Wie kann ich ungläubig sein, wenn ich bete?

 

„Typisch ist vielleicht auch, dass ich mir gegenwärtig den Kopf darüber zerbreche, ob ich „gläubig“ bin oder nicht – ich bin so unsicher, dass ich diese Frage nicht mehr mit Entschiedenheit beantworten könnte. Mein Seelenleben in dieser Frage gleicht einem Yin-und-Yang-Zeichen…. Ich kann entweder sagen: die Grundierung ist weiss, darauf schwimmt aber eine Insel des Gegenteils, oder ich kann mich vom Schwarzen bestimmen lassen: der Hauteindruck meiner Befindlichkeit ist schwarz, aber da ragt als Fremdkörper etwas Weissen hinein.

Eigentlich rechne ich nicht mit „Gott“, aber da gibt es Erlebensbestände, ritualisierte Reste in meinem Verhalten, die zu gelegentlichen abendlichen Regressionen in einen Kinderglauben führen, was vielleicht eher aus psychologisch-emotionellen Motiven zu erklären ist als aus weltanschaulich-philosophischen.

Oder es ist überhaupt Unsinn, bei der Frage, wie man sein Leben bewältigt, „weltanschauliche“ oder „emotionelle“ Teile ausmachen zu wollen.

Genauso gut wie von der Ebene der Weltanschauung könnte ich von der Gefühlsebene ausgehen und zu folgender Feststellung gelangen:

Eigentlich bin ich „gläubig“, und das bricht abends durch, wo ich wie ein gepanzertes Weichtier eine Stelle habe, an der der Panzer durchlässig ist, wie der Halskragen einer Schildkröte. Das ist nicht die Ausnahme, sondern das Fenster, das einen Ausblick auf meine eigentliche Befindlichkeit erlaubt.

Am Abend, in der empfindlichsten Phase des Tagesablaufs, wenn alte Ängste aufsteigen, wenn ich mit nicht verarbeiteten Erlebnisbeständen konfrontiert werde, dann wechsle ich die Art meiner Lebensbewältigung. Ich schalte auf „religiös“ um, nehme neue Mittel in Anspruch, auf die ich in der Illusion der Mittagsklarheit meine, verzichten zu können: dann, wenn alle Ecken ausgeleuchtet sind, wenn ich ausgeschlafen habe und aufgestanden bin und mein Blutkreislauf seinen Normalzustand erreicht hat – keine unerklärlichen Schwindelanfälle mehr, kein Irrealitätsgefühl, wie ich das in den letzten Wochen meiner physischen und psychischen Erschöpfung zum Beispiel gekannt habe, kurz: wenn meine Augenblicks-Empfindung, die vielleicht nur fünf Prozent der Bewusstseins-Zustände ausmacht, die man überhaupt haben kann, mir eine eigene Kompetenz und Machtvollkommenheit vorspiegelt, so dass ich in einer Anwandlung von Optimismus meine, mein Leben selber in die Hand nehmen und mit seinen Grenzen durch eigenes Tun versöhnen zu können.“

24.4.85

 

Die Reise beginnt mit dem Widerstand

Bin ich gläubig oder nicht? – Ich habe offenbar beides in mir! Es schien mir unstatthaft, so zu leben: zu beten mit schlechtem Gewissen. Oder mich für ungläubig zu halten und im Notfall dann doch einen Gott zu Hilfe nehmen. Den Glauben hatte ich in der Pubertät verabschiedet. Ich dachte, ich müsste mein Wahrheit -Bewusstsein opfern. Jetzt begriff ich, dass ich mein Sicherheits-Bewusstsein opfern musste. Mich so auszuliefern, dagegen hatte ich aktive Widerstände. Glaube heisst in der Bibel „Pistis“ und meint eigentlich Vertrauen. Es meint ein Leben im Vertrauen auf das „andere“, das ich gerade nicht in Händen habe, was mir vorausliegt und mein Leben trägt.

Auf solche Weise vertrauen konnte ich nicht. Darum faszinierte mich ein solches Lebensprogramm und es erschreckte mich. Es weckte alle Angst-Abwehr-Mechanismen, die ich seit der Kindheit gelernt hatte. Kaum geriet ich in eine bestimmte Situation, so hatten diese Mechanismen sich schon eingeklinkt und ich konnte mir dabei zuschauen, wie etwas in mir handelte. – Und ich fand mich in der alten Falle wieder.

Bevor ich vorwärts gehen konnte, musste ich also rückwärtsgehen. Bevor ich vertrauen konnte, musste ich meine Ängste aufsuchen und eine andere Sicht auf die Wirklichkeit gewinnen. Eine Hilfe war es, als ich die Widerstände akzeptieren lernte: Sie machen mich nicht zum Ungläubigen. Wenn ich diesen Weg wähle, dann gehören sie dazu.

 

Ich dachte, erst muss da ein grosses Vertrauen sein, dann gehe ich mit auf die Reise. Jetzt sehe ich, dass das Vertrauen erst entsteht und fest wird, wenn ich reise, wenn ich mich aussetze, wenn ich den ersten Schritt tue, wenn ich das Vertrauen-Können auf die Probe stelle, wenn ich das falsifiziere, was den Platz des Vertrauens besetzt hält.

Die Reise beginnt nicht erst, wenn das Vertrauen da ist. Das Vertrauen ist ja das, was am Ziel erst voll erlaufen wird. Die Reise beginnt schon mit dem Widerstand, denn der Widerstand ist schon der erste Schritt.

Der Schritt ist eine Resultante aus verschiedenen Kräften. Alles Widerstrebende, alle Ängste gehören dazu.

Die Reise hat schon begonnen!

16.1.8

Gebet

Auf dem Weg zum Glauben wird alles sichtbar, was an mir ist. Da wird nicht nur der Glaube ausgelegt, was er für mich sein kann, sondern auch ich werde ausgelegt, wer ich bin. Und beide Texte beginnen miteinander zu sprechen.

 

Herr
Ich danke Dir, dass Du auch mich Rufst
Dass Du mich führst
Und dass Du mich Widerstand Leisten lässt
Ich danke Dir, dass Du mich Abholst (denn darin steigst Du bis In mein Dunkelstes hinab)

Ich danke Dir,
Dass Du mich auf Deinem Kreuzweg
So viele Stationen machen lässt:
Den Ungläubigen, den Verängstigen,
Den Feigling, den Schnippischen, Den Hochmütigen
Den Verdorbenen, den Klügelnden
Den, der sich auf billige Weise Etwas ertricksen will
Den Folterknecht
Den Judas
Der Dich verrät

So kann auch ich glauben,
Dass Du mich rufst
So fühle auch ich mich abgeholt
Mit allem, was an mir ist

Ich muss nichts zurückhalten
Nicht heucheln
Keinen andern vorspielen
Weil ich den Judas in mir nicht Zeigen kann

Den Hurer und den Schacherer
Und den raffinierten Zyniker, der
Nicht mehr über sich weinen kann und seine Verzweiflung
In die Kraft legt
Mit der er die Geissel gegen Dich Führt
Weil Du noch der einzige bist
Der ihm begegnen will

Herr
Ich habe keine grossen Wünsche
Die ich in das Gebet legen kann
Lass mich Dir vertrauen!
Ich vertraue Dir
Gerade weil mir das Vertrauen nicht gelingen will
Weil Du mich zweifeln lässt
Hast Du meine Zweifel überwunden

Wozu sollte ich Dich ablehnen
Wo Du mich schon angenommen Hast?
Du hast ein Bild von mir
Besser als ich es je beanspruchen Könnte
Aber nicht, um es mir fordernd vor Die Nase zu halten
Sondern um mich zu mir zu Befreien
Gegen meine eigene Gegenwehr

Herr
Ich danke Dir
Dass Du mich gerufen
Geholt
Und überwunden hast
Dass ich Dir schon ein bisschen Vertraue

Bitte führe mich weiter
Dazu möchte ich mich Dir Überlassen
Denn ich vertraue Dir
Herr

Ich habe keine grossen Wünsche
Nur den grössten:
Lehre mich vertrauen!
Ich danke Dir
Dass Du schon ja gesagt hast
Zu diesem Wunsch. Amen

22.1.87

 

Kinderleicht und kinderschwer

Vertrauen – anfangs war das der Inbegriff für alles, was ich suchte. Aber Vertrauen verfällt, wenn ich im Vertrauen nicht auch Schritte tue. Es braucht auch Verantworten, ein Handeln im Sinn des Vertrauens. Diese beiden Begriffe haben mich lange beschäftigt. Vertrauen ohne Verantworten ist nicht lebensfähig, aber auch Verantworten ohne Vertrauen ist nicht möglich.

Jeder kann es, und doch ist es so schwer zu erreichen, dieses Paradox von vertrauen und verantworten. Es liegt nicht ausserhalb der Grenze dessen, was einem Menschen möglich ist, es ist nicht einmal etwas, was nur ein Vorzeige-Exemplar der Gattung Mensch erreichen kann. Es ist kinderleicht, aber auch kinderschwer. Es liegt jenseits der Angst. Aber nicht auf jener Seite jenseits der Angst, auf der der Mut liegt, der Gläubige ist kein Kriegsheld. Sondern auf der Seite jenseits der Angst, auf der  das Vertrauen liegt.

Vertrauen ist immer nur ein Augenblick, eine Anwandlung. Wenn sie nicht sogleich in Leben überführt wird, vergeht es, bleibt es ungenutzt, kann sich nicht aufrechterhalten. Erst wenn im Vertrauen der Schritt getan, das Wort gesagt, die Hand erhoben wird, wird Vertrauen stark. Es wirkt und wirkt auf seine Grundlage zurück. So erhält es sich am Leben. So entsteht aus dem Vertrauen Verantwortung und aus der Verantwortung das Vertrauen.

26.4.88

Falsches Aha

Kinderleicht – in der Kindheit wurde vieles geprägt. Immer wieder erlebe ich als Erwachsener, wie ich etwas tue, was ich nicht will. Und was ich will, das tue ich nicht.

Der Widerstand, der kommt nicht erst am Schluss dazu, der mischt schon von an Anfang mit. Schon die Wahrnehmung ist geprägt. Sie zeigt mir die Wirklichkeit nach dem Muster frühkindlicher Erfahrungen. Und die Antwort darauf ist schon beigemischt. So hatte ich als Erwachsener seltsame Aha-Erlebnisse: Wenn etwas ganz aussichtlos erschien, dachte ich, ich sei endlich am Boden der Wirklichkeit angelangt.

 

Ich war so blockiert wie damals, als ich nach der Scheidung die Wohnung hätte zügeln sollen. Ich sass zwischen Schachteln, Kisten und halb eingepackten Sachen auf dem Boden und heulte. Ich kam nicht vom Fleck. Ich war wie angewachsen, ein Albtraum.

Da, wo das „Ich“ sein sollte, habe ich ein Loch. Wo das „Ja“ und das „Nein“, die Freude und die Lebensenergie sitzen sollten, habe ich einen Schalter, der beim kleinsten Anstoss “Klick“ macht; das Licht geht aus, die falsche Evidenz stellt sich ein: “ja, genau so ist das Leben; ich kann nichts machen.“

Statt Energie und Lebensfreude und Interesse ist da Apathie und Teilnahmslosigkeit; und alles ist wie mit einem Tuch von einer unendlichen Depression ausgeschlagen. So beginne ich alles halbbatzig, so endet alles halbbatzig.

Theoretisch habe ich es begriffen: Gläubig werden heisst, haargenau an die Stelle dieser falschen Evidenz das Ja Gottes hinein zu pflanzen. Gläubig werden ist eine Operation am offenen Herzen. Hier ist der Kern meines Verhaltens und meines Widerstandes. Es genügt nicht, das irgendwie therapeutisch heraus zu nehmen.

Es muss eine andere Evidenz hineinkommen. Ein Bild das zeigt, wie die Welt, wie die Menschen „eigentlich“ sind, ein anderes Bild auch für mich.

Statt in die Leere zu sehen, blinzelnd gegen das helle Blenden der Angst, muss ich dem Blick Jesu begegnen. „Und er blickte den Jüngling an und liebte ihn“. Der Segen muss über mir gesprochen werden: „Erhebe Dein Angesicht auf uns und sei uns gnädig!“

10.6.90

Gebet

Gott, ich weiss, dass Du da bist!
Ich höre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Schweigen!
Ich sehe dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Dunkel!
Ich spüre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alle Beweise meiner Hand, die ins Leere tastet.
Ich weiss es einfach, und damit weiss ich was „Wissen“ ist.

„Wissen“ ist einzig und allein diese Gewissheit, mit der ich Dich weiss.
Alles andere ist nur Panik, Illusion, falsche Beweise. Mein Stolpern beweist nichts, meine Hände stolpern wie die Beine, die Augen irren wie die Hände…
Lieber Gott, führe mich, hier meine Hand.
Ich bitte – ich weiss, du wirst mir geben.
Ich klopfe an – Du machst auf.
Du bist, ich bin.

18.6.90

Sprache des Glaubens

Ich habe damals als Journalist gearbeitet. Inzwischen war es nicht nur eine Gewohnheit, abends hinzusitzen und an der Schreibmaschine über mein Leben nachzudenken. Die Glaubensfrage hatte mich gepackt. Ich hatte angefangen, in der Bibel zu lesen. Es ging nicht lange, da beschloss ich, Theologie zu studieren.  Ich zitiere einige Sätze aus der Schluss-Arbeit von 1992.

 

Am Anfang dieser Arbeit steht eine missglückte Predigt. Ich wollte die Beunruhigung angesichts einer weltweiten Zerstörung der Lebensgrundlagen aufgreifen und im Licht des Evangeliums nach einer Antwort suchen.

Die folgende Predigt wollte mir aber nicht gelingen. Wenn wir bis zum Zellkern und bis in den Atomkern hinein in die Natur eingreifen, können wir uns ihrer Unversehrtheit noch in mythischen Herkunfts-Erzählungen versichern? Wenn uns die Folgen unseres Tuns aus den Händen gleiten, können wir die Natur noch als „Schöpfung“ begreifen und uns im Vertrauen beruhigen, dass Gott sie schon in Händen halte?

Die Flucht des Glaubensvertrauens zum welt-überlegenen Gott schien mir diese Welt vorschnell aufzugeben. Ausserdem tauchte der Verdacht auf, dass das Christentum mit seinem Glauben an einen weltüberlegenen Gott kulturgeschichtlich dazu beigetragen habe, dass wir mit unserer Welt wie mit einer vorläufigen Grösse umgehen, einer Grösse, auf die es „letztlich“ nicht ankomme.

Im Rückblick auf die Arbeit wird ein roter Faden sichtbar:

Wird zuerst nach einer Glaubenssprache gefragt, die „Systemkritik“ betreiben kann, statt sich in die Innerlichkeit des Glaubenslebens zurückzuziehen, so verschwindet bald das Vertrauen auf irgendein System, mit dessen Hilfe der Mensch noch „Subjekt der Geschichte“ werden könnte. Die angestossenen weltweiten Entwicklungen scheinen nicht mehr steuerbar.

Damit vertieft sich die Systemkritik zur Epochenkritik. In der Kritik an der „Moderne“ steht das ganze Freiheitsprojekt der Aufklärung in Frage. Was als Freiheit geplant war, scheint in Zwang umzuschlagen. Die radioaktive Wolke von Tschernobyl demonstriert, wie eine zivilisatorische Errungenschaft, die den Menschen vom Naturzwang befreien sollte, sich von seiner Kontrolle ablöst und als Wolke wie ein Naturphänomen unkontrollierbar gegen ihre Urheber richtet.

Ich suchte nach einer Glaubenssprache, die „Tschernobyl“ gewachsen ist, d.h. dem Gefühl, in einen unsteuerbaren historischen Prozess verwickelt zu sein, der zu immer grösserer Zerstörung der Lebensgrundlagen und zu immer grösserer Verelendung der „Zwei-Drittels-Welt“ führt. Wie war das Glaubensvertrauen auszudrücken angesichts dieses Eindrucks, in einen globalen Schuldmechanismus verstrickt zu sein, aus dem es keinen individuellen Ausweg gab und den auch das Kollektiv – selbst wenn es einen einheitlichen Willen hätte formulieren können – nicht mehr auflösen konnte?

Als ich in meiner gewohnten Sprache darüber predigen wollte, fühlte ich, wie unangemessen alles war, was ich gegen dieses Bedrohungs-Gefühl aufbieten konnte. Ich wollt daher die Gelegenheit dieser Arbeit dazu benutzen, aus einer Glaubenssprache auszubrechen, die nur zum „Glaubens-Sprung“ auffordert und die Gottesrede total in diese Ich-Du-Beziehung zurückzieht, als Frage des Vertrauens und sich Übergebens. Diese kreist immer wieder um diese „Erweckungsfrage“, wo alle traditionellen Geltungsansprüche aufgegeben werden, wo nicht mehr im Namen des Glaubens um theoretische Wahrheit und praktische Richtigkeit gestritten wird.

Ich suchte also nach einer Glaubenssprache, die offen ist für mittelfristige ethische Orientierungen, so dass ich nicht nur meine Intuitionen auf Vertrauen und Gelingen des Lebens in dem obersten Begriff Gottes aufheben kann, in dem alles Sein und Leben in Heil geborgen ist, sondern auch meine Intuition auf Verantwortung.

Eine solchermassen dogmatisch gestützte Ethik sollte wieder lernen, auf System-Ebene zu reden und historische Visionen anzubieten. Dann kann ich mich mit meinen begrenzten Kräften in eine Bewegung einreihen, die sich am Ziel orientiert und ich erlebe meinen kleinen, begrenzten Beitrag als etwas Sinnvolles, statt dass ich passiv einem Weltprozess zuschaue, der nach meinem Dafürhalten zu einer dauernden Verschlechterung der Situation führt, zum Raubbau an der Natur in einer Kadenz, wo stündlich und minütlich Arten ausgerottet werden, die während Jahrmillionen gewachsen sind, wo aber ebenso historische Kulturen zerstört werden, Menschen in Slums und auf internationale Flüchtlingswege getrieben werden.

Die moderne Kultur, die sich in Abwehr gegen Übergriffe der Religion religionskritisch herausgebildet hatte, verzichtete in ihrem philosophischen Wirklichkeitsdenken auf eine „absolute Synthese“, wo alle Wirklichkeit, Natur wie Kultur, in einem Gottesbegriff aufgehoben ist, wo alles Unrecht versöhnt, der Tod überwunden und selbst der Tod der Schöpfung im Schöpfer aufgehoben ist.

Die Kultur fragt allenfalls noch naturwissenschaftlich nach einer „allgemeinen Weltformel“ (die einheitliche Beschreibung aller Energieformen) oder denkt Kosmogonie in einem „Urknall“. Aus dieser Formel oder aus diesem „Knall“ sind wohl alle Phänomene herzuleiten, aber nur die physikalischen erscheinen in einem gewissen Ausmass als gesetzmässig beschreibbar und somit erkennbar; die kulturellen gelten als „kontingent“, allenfalls teleologisch zu beschreiben, im Sinn menschlicher Zwecksetzung, aber ohne absolutes Prinzip.

In dieser „Desabsolutierung der Moderne“ steht eine Tradition wie das Christentum vor der Wahl, entweder ihre absoluten Synthesen und Heilsaussagen apologetisch nach den Aussagemöglichkeiten der Adressaten-Kultur zu beschränken, um so verständlich zu werden auf Kosten des vollen Gehalts der Tradition, oder ungeschmälert an der Tradition und ihren Heilsaussagen festzuhalten und diese den Wirklichkeitsbegriffen der Kultur polemisch entgegenzuhalten.

Das beinhaltet die Gefahr, nicht mehr verstanden zu werden, es der Kritik allzu leicht zu machen und in ein belächeltes Ghetto einer Restkultur abgeschoben zu werden, das toleriert wird wie etwa ein Indianerreservat, mit dessen konkurrierenden Wahrheits-Ansprüchen man sich aber nicht mehr auseinandersetzt.

Das war also die Situation: in der „Desabsolutierung“ der Moderne konnte eine absolute Synthese nicht mehr erkenntnis-zustimmend ausgerichtet werden, diese blieb aber dennoch denk- und lebensnotwendig.

 

Von Gott reden

Das also schwebte mir vor: eine neue Weise, von Gott zu reden, die zugleich den Ansprüchen der Kultur und denen der Tradition Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte, wo die Denk- und Lebensnotwendigkeit der Heilsaussagen aufgenommen  wurde, ohne damit das Denken und Leben in dieser Kultur triumphalistisch bezwingen zu wollen.

Mit der geschilderten therapeutischen Heilserzählung sah ich einen Weg, nicht nur gesunde, erwachsene, „ich-starke“ Persönlichkeiten anzusprechen – wo wären die zu finden? -, sondern Menschen, die von der Wahrheit dieser Welt schon „erzogen“ wurden, bevor sie „ich“ sagen lernten, die das Unrecht schon derart verinnerlicht haben, dass sie an der Möglichkeit wahrhaften Rechts verzweifeln.

Denn diesen gilt doch das Evangelium zuerst, die schon so verwundet wurden, dass sie einen Kompromiss mit dem geschlossen haben, was sie verletzt, die traumatisch verkrümmt und gelähmt sind in immer wiederholten inneren Konflikten, so dass es effektiv Gottes selber bedarf und seiner kreativen Rechtfertigung: dass Jesus Christus selbst in Gottes Namen vor ihnen steht, sie in die Mitte ruft und sein „stehe auf!“ spricht.

Daran vor allem war mir gelegen – gegen den künstlichen Gegensatz, der zwischen  psychologischen und politischen Ansätzen der Exegese immer aufgerichtet wird – die Glaubensrede so ausrichten zu können, dass nicht nur ideal vorgestellte Normal-Subjekte sie hören können, sondern wir alle, die wir von der gegenteiligen Wahrheit schon so besessen sind, dass wir Evidenzerlebnisse immer nur dort haben, wo der Schwächere den Kürzeren zieht und der Letzte der Letzte bleibt.

(Aus einer Arbeit im Theologie-Studium: Glaubenssprache angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen – ein Gespräch mit Bultmann und Moltmann. Zürich 11.3.1992)

 

In welchem Sinn gelingt hier Leben?

Der Glaube sagt nicht einfach: „Du sollst!“, sondern stellt uns Bilder gelungenen Lebens vor Augen. Diese Bilder helfen uns in unsern konkreten Lebens-Situationen, uns „richtig“ zu entscheiden, und geben uns zugleich einen „Vorgeschmack“ des Gelingens, der das Handeln zu motivieren vermag.

Das zentralste Symbol „gelingenden Lebens“ im Christentum ist der Weg Jesu Christi. Aber in welchem Sinn „gelingt“ hier Leben? Hat er den Aufstieg geschafft und in Wohlstand gelebt? Hat er Glück gehabt, dass immer nur die andern von Krieg und Flüchtlings-Elend betroffen waren? Hat er immer rechtzeitig den Mund gehalten, um es mit den Machthabern nicht zu verderben?

Im Weg Jesu Christi wird nach den höchsten Ansprüchen umschrieben, wie Leben „gelingt“: Kranke werden heil, Lahme gehen, die Menschen leben in Frieden und Gerechtigkeit – und das trotz aller Gegenerfahrungen von Elend, Leid und Krieg.

Die Erfahrung von Krieg wird nicht zum Anlass genommen, um zynisch die eigene Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit zu verraten. Die Gewalt wird nicht zum Argument, seinen Teil nun ebenfalls mit Gewalt zu holen. Der Tod wird nicht zum Anlass der Resignation, dass „letztlich“ doch alles vergeblich sei. Das Bild der Auferstehung meint das Vertrauen, dass das Leben letztlich stärker ist als der Tod und Recht stärker als Unrecht. Der Glaube fasst dieses Vertrauen letztlich in das Bild Gottes.

Und dieser Glaube gibt Kraft, auch in diesem Sinn zu handeln: Trotz der Angst vor der Übermacht des Unrechts auf das Recht zu setzen, trotz der Gewalt, die Leben bedroht und nötigt, auf das Leben zu vertrauen. Und damit verändert dieser Glaube die Wirklichkeit. Er interpretiert sie nicht nur.

4. 3. 1993

 

Ostern muss durch den Körper gehen

Mit dem Kopf höre ich die Botschaft, aber im Körper ist sie noch nicht angekommen. Soll ich mich für gläubig halten, wenn ich dem Evangelium vertraue, aber die Angst mir immer noch in den Knochen sitzt?

 

Warum predigen wir ein Leben lang?
Die Nachricht ist einfach: wir sind erlöst!
Aber wir brauchen ein Leben, bis wir sie begreifen!

Bis der Knoten sich löst, bis das befreiende Atmen sich vortastet durch unsere Gedärme und unsere Alpträume, bis wir Schritt um Schritt die schon zum Krampf gewordene Abwehrstellung aufgeben können, bis die schreckliche Gewohnheit, uns klein zu machen und klein machen zu lassen, aufhört und wir wieder mit dem Gefühl der Heranwachsenden leben lernen: dass etwas Grosses vor uns steht.

Es hängt an Bildern. Wir leben mit alten Bildern, die sich im weissen Licht der Angst eingebrannt haben, und die bei jedem Nackenschlag, ja bei kleinsten atmosphärischen Veränderungen (ist es die Gruppen-Konstellation, in der wir zufällig sitzen?) die Bestätigung eines Déjà-Vu bei sich haben: „ja so ist es!“

Und wir spüren uns erstarren, in bodenlose Löcher fallen. „So ist es und nichts ist daran zu machen“, und unser Mund kriegt einen harten und bitteren Zug.

Die Bilder der Erlösung brauchen dagegen Zeit, bis sie uns erreichen, in uns eindringen: in unser Erwachen am Morgen (welche Wohltat, wenn sie die aussichtslosen Kämpfe der Albträume korrigieren), in unsere Träume, in unser Verhalten.

Wesentlich sind die Bilder, sie prägen die Atmosphäre, den Anblick, das Empfinden und Verhalten. Ich denke an meine Hochzeit: Ich war unfähig, für mich selbst eine Feier zu organisieren (als ob ich darauf keinen Anspruch hätte).

Als es dann doch gelang, wurde es ein Fest. Etwas Grosses hat sich an mir ereignet. (Ich „tue“ es nicht, es ist nicht Ethik. Ich „hoffe“ es nicht nur, es ist nicht bloss Verheissung. Es ereignet sich an mir. Wie das Grosse Gastmahl.)

Die Bilder der Erlösung wirken wie das Gleichnis vom Gastmahl: Jetzt ist es Zeit, und wenn ich bereit bin, es an mir geschehen zu lassen, dann beginnt es. Es ist Verheissung und Gegenwart zugleich, es ist Hoffnung und es strahlt schon aus auf das Verhalten.

10. 5. 1993

Ich mit Dir

Die Pfarrer-Existenz beginnt mit einem einjährigen Praktikum in einer Gemeinde. Mit meinem Charakter bin ich schlecht ausgestattet für die Rolle eines jovialen Pfarrers, der dank seiner extrovertierten Veranlagung auf alle zugehen kann, immer fröhlich und selbstbewusst. Ich starte mit dem Satz: „ich kann was ich soll.“ Und ich lebe mit den Umkehrsätzen: Meine Schwäche ist mein Talent. In der Angst liegt die Verheissung. Gott verlangt nicht den vollendeten Pfarrer, er beginnt mit denen, die da sind. Und er geht mit auf dem Weg.

 

„Aber ich kann nicht reden“ sagt Moses, „ich mache Fehler ich verpfusch Dir alles. Du kannst Dich nicht auf mich verlassen, ich kann mich ja selber nicht auf mich verlassen. Wenn ich reden soll, stottere ich. Immer kommen mir meine Schwächen in den Weg. Ich bin nicht würdig, dass Du mich schickst. Du hast nicht gut ausgelesen!“

„Ich bin mit dir“, sagt Gott. –

Das ist die Antwort auf alle Einwände, die wir etwa noch erfinden könnten. Es ist eine Zusage ohne Wenn und Aber. Da hält einer zu uns, auch wo wir uns selber im Stich lassen. Da hat einer mehr Vertrauen zu uns als wir selber.

„Vertrauen ist das Gefühl, nicht im Stich gelassen zu werden.“ Wer es als Kind nicht lernte, dem fehlt es sein ganzes Leben lang. Aber hier können wir es lernen, an dieser Stimme „ich bin mit dir“. Er lässt uns nicht im Stich, auch wenn wir Fehler machen. – Fehler können korrigiert und vergeben werden.

15. 8. 93

Wie erzählt man ein Leben?

 Wenn ich vom Glauben erzähle, steht es mir nicht frei, so oder anders darüber zu reden. In dem Satz „Ich glaube“ ist das „Ich“ nicht unabhängig von seiner Tätigkeit „glauben“. Da ist kein fertiges „Ich“ zu dem irgendwann ein „Glaube“ dazukäme. Das Ich findet sich im vollen Sinn erst in dieser Tätigkeit „ich glaube“. Das zeigt sich in den Schwierigkeiten, wenn ich ohne Glauben mein Leben erzählen will.

 

Ich bin gestern mit meiner Ferien-Beschäftigung fertig geworden. Am meisten Aufwand benötigte ich, um mich für eine Zahnoperation anzumelden und für eine Renten-Beratung. Denn hier musste ich Widerstände überwinden. Da geht es um Alt-Werden, um enttäuschte Lebenspläne, um Vorbereiten auf einen neuen Abschnitt, der definitiv begonnen hat, auch wenn ich nach meinem Gefühl den letzten Abschnitt noch gar nicht abgeschlossen habe. Aber von aussen her wird mir das Alter bereits zugeschrieben.

Das störte mich immer am Entwicklungs-Schema von Erik Homburger Erikson. Er reiht die Lebensalter und die dazu gehörenden Aufgaben wie Perlen auf einer Schnur auf. Eines folgt dem andern. (Es ist ein Weg zu „Vertrauen, Autonomie, Initiative, Werksinn, Identität, Intimität, Generativität und Integrität“). Mit Macher-Mentalität könnte man versuchen, eine nach der andern aufzugreifen und abzuhaken auf der Lebensagenda.

Ich mit meinem fatalen Verlierer-Hang habe keine Aufgabe je erledigt, ich schleppe sie in die nächste Phase mit. Nur schon die erste Aufgabe, ein „Grundvertrauen“ ins Leben zu finden, habe ich bis heute nicht geschafft. Ich werde suchend ins Grab gehen und den Namen Gottes anrufen, dass er mir entgegenkommt und die Hand ausstreckt.

Aber der „Normale“, so scheint es, der durchläuft eine Phase nach der andern. Schon die erste wird ihm halb geschenkt, weil er von seinem Elternhaus her wie mit einem Schuhlöffel in diese Schuhe reinrutscht, in die ich mein Leben lang nicht reinpasse. Und so latscht er durch das Leben und trampelt links und rechts alles nieder. (Nein, das ist nur der Neid, der hier das Wort führt.) Es gelingt ihm alles.

Wie es Erikson vorgibt, reiht er die Perlen auf seiner Schnur auf. Und es wird eine Schmuck-Kette, die er sich um den Hals hängt.

Meine Kugeln sind abgegriffen, weil ich immer wieder daran herumgemacht habe. Ich konnte sie nie ruhen lassen, weil sie mir keine Ruhe ließen. So nahm ich sie immer wieder in die Hände, nagte daran herum. Schon die ältesten, die aus der Kindheit, sehen aus wie ein abgelutschter Teddy-Bär, der Trost spenden soll, weil die Eltern weggegangen sind. Bei mir reihen sich diese Perlen bestenfalls zu einer Gebets-Schnur.

Und mein Leben, frei nach Erikson, liest sich wie die Negativ-Folge von „Misstrauen, Scham und Zweifel, Schuldgefühl, Minderwertigkeitsgefühl, Ablehnung und Identitäts-Diffusion, Isolierung, Selbstabsorption und Verzweiflung“. So charakterisiert er die Phasen, wenn die Aufgaben nicht gelöst wurden. Es ist jeweils der Schattenriss des gelungenen Weges, den er charakterisiert durch „Vertrauen, Autonomie, Initiative, Werksinn, Identität, Intimität, Generativität und Integrität.“

Und tatsächlich, ich fühle mich auf der dunklen Seite besser wahrgenommen. Ich bin wirklich der „Schwarze Peter“, den ich im Spiel oft zog. Ich wollte es nie wahrhaben. So schien mir das Leben unmöglich, ich hätte das Gesicht verloren, ich hätte vor Scham in den Boden sinken wollen. Da sind wir schon bei der zweiten Station, der Scham, die mich überreich begleitet hat in meinem Leben. Die Suizid-Gedanken, die mich oft begleitet haben, waren nie Suizid-Gedanken. Es war nur eine Unfähigkeit, „ja“ zu sagen zu einem beschädigten Leben und die Suche nach einer Flucht, die es nicht gibt.

Manche Kinder, wenn sie keinen Weg zur positiven Selbst-Identifikation finden, identifizieren sich mit dem Dunkeln. Sie werden die „ungeratenen Kinder“, die man in ihnen sieht, die „schwarzen Schafe“ der Familie, zu denen man sie macht, die „Satansbraten“, als die sie immer behandelt werden. Und sie ziehen schwarze Kleider an und feiern Satansmessen. Für mich ist das zu spät, eine solche Negativ-Identifikation, ich kann allenfalls noch kokettieren damit.

29.7.2010

Odysseus, Hiob, Christus

Interessanter sind die Gestalten, die es in jeder grossen Kultur gibt. Da fragen sich die Menschen, ob das Leben überhaupt zu leben ist, ob die Aufgaben überhaupt zu gewinnen sind. Und sie buchstabieren es durch, am Leben grosser, paradigmatischer Gestalten. Das Schlimmste widerfährt ihnen – finden sie da heraus? Alle Übel, die je ein Mensch erfahren hat – und wenn sie um das Feuer zusammen sitzen und erzählen, dann bringt jeder noch seine Geschichte ein, seinen Stolperstein, über den er nicht hinwegkommt – alles wird in das Leben dieser Gestalten eingetragen. Und jetzt wollen wir sehen, wie sie herauskommen?!

Ist das Leben auf dieser Erde überhaupt zu leben? Ist die Aufgabe, die jedem von uns mit der Geburt gestellt wird, überhaupt zu lösen – oder ist das Ganze ein grosser Betrug?!

Und dann lohnt es sich nicht mehr, davon zu reden. Dann wenden wir uns anderen, lohnenderen Dingen zu. Dann nehmen wir das Schicksal selber in die Hand. Dann verbünden wir uns mit dem Sinnlosen, denn es gibt keinen Sinn. Dann fügen auch wir andern Schmerzen zu, denn davon gibt es überreichlich auf der Welt. Und wer das Richtige tut, ist nicht davon verschont, denn das Richtige gibt es nicht. Und weil es nichts Richtiges gibt, ist alles richtig. Und wir sagen selber, was richtig ist für uns, etc.

An diesen Gestalten entscheidet sich, ob die Gesellschaft zusammenhält oder auseinanderfällt, ob sie ihre Werte verbindlich machen kann, oder ob die Menschen in die Wüste gehen und als Räuber und Mörder in die Dörfer einfallen.

Darum erzählen diese Kulturen diese Geschichten mit einer Verzweiflung, als ob das Leben der Menschheit davon abhinge. Und sie hängt davon ab.

Aber sie machen es diesen Helden nicht leicht, ob sie nun Odysseus heissen oder Hiob oder Christus. Im Gegenteil. Obwohl sie mit jeder Faser ihres Lebens hoffen, dass ihnen der Weg gelingt, legen sie ihnen immer mehr Schwierigkeiten in den Weg. Sie sind grausam in dem, was sie ihnen zumuten. Und sie können nicht anders. Denn das müssen sie ebenso ernst nehmen wie ihre Hoffnung. Denn das ist ihr Leben, das ist ihr Scheitern, das ist ihre tägliche Verzweiflung. Und nur wenn der Held hier einen Weg sieht, dann ist auch ihr Leben gerettet.

Darum muss Odysseus 20 Jahre um die Welt irren, obwohl der Kampf bei Troja doch schon siegreich beendet ist. Aber kommt er heim? Gibt es ein Ankommen nach dem Weg, nachdem so vieles schon zu Bruch gegangen ist?

Darum prasseln die Schicksals-Schläge auf Hiob ein, darum hören die Hiobs-Botschaften nicht auf. Denn das kennen auch die Menschen, die im Kreis sitzen und zuhören. Und sie wollen wissen, ob man das Vertrauen zu Gott auch behalten kann, wenn die Kinder umgekommen sind, und nicht nur eines, sondern alle. Sie wollen wissen, wie man lebt, wenn man alles verloren hat, Frau und Kind und Stelle, wenn man krank ist und obdachlos auf der Strasse sitzt. Oder in der „Asche“ wie Hiob, wo es noch etwas warm ist.

Der Penner geht zum Bahnhof, so lange sie ihn dort nicht ausschliessen. Er legt sich mit seiner Kartonschachtel auf Lüftungs-Schlitze, aus denen warme Luft kommt. Und der Hörer dieser Geschichte will wissen, ob der Gott, der hoch oben thront über den Lobgesängen der Väter, ob er so tief hinunterhorcht. Ob er sieht und kommt und hilft und handelt. Ob er sich erbarmt und die Hand ausstreckt. Ob er ihn aufrichtet aus dem Staub, dass er gerade stehen kann. Ob er sein Haupt aufrichtet, das vor Scham und Schuld in die Erde gesenkt ist. Ob er ihn erhebt zu sich, dass er sitzen kann zu seiner Rechten, neben den Fürsten des Volkes. Ob er es wirklich tut, was er verkündigt, dass er ihm die Trauerkleider vertauscht durch Hochzeitskleider. Ob er ihm entgegen kommt wie dem verlorenen Sohn.

Er will wissen, ob Christus, der verlorene Sohn, der am Kreuz der Schande verloren gegangen ist, wieder aufgerichtet wird, dass er thront neben dem, der sich als sein Vater zu ihm bekennt. Ob er sein Fest ausrichtet wie zu einer Hochzeit. Und alle, die es sehen, staunen und sagen: „Ja, der Herr hat Grosses an uns getan, darum sind wir fröhlich! Er hat uns ein Lachen in den Mund gegeben und Jubel ist auf unserer Zunge!“

Das wollen die Menschen hören, die im Kreise sitzen. Sie hoffen, dass Odysseus durchkommt, und erfinden doch immer neue Verstrickungen für ihn. Denn ihr Leben ist so verstrickt.

Das wollen die Menschen hören, die hoffen, dass Hiob seinen Glauben nicht verliert. Denn ohne Glauben ist kein Leben, da ist Heulen und Zähneknirschen. Und doch können sie nicht anders, sie müssen eine Hiobs-Botschaft auf die andere häufen. Auch ihre Not muss noch zur Sprache kommen.

So lassen sie immer wieder einen Boten bei Hiob ankommen. Und sie erzählen von dem Mann, der wegging und nicht wieder kam. Von dem Mädchen, das allein in die Stadt fuhr und von einem Jugendlichen erschlagen wurde. Von den vielen Menschen, die auf einer Hochzeit tanzten, und die Decke ist eingebrochen.

Wer wüsste all die Hiobsnachrichten dieser Welt? Wer könnte sie ertragen? Aber dieser Hiob muss es tragen. Das wollen wir jetzt sehen, ob das Projekt Mensch überhaupt zu lösen ist oder ob es nur ein sadistisches Spiel ist, das ein Dämon mit uns treibt.

Ist die Welt ein guter Ort, wo man leben kann, oder ist es eine Hölle und ein Jammertal? Ist das Geheimnis dieser Welt lebensfreundlich? Ist da ein guter Gott, der hört und Antwort gibt und der Anfang und Ende in seiner Hand hält, oder versinkt alles in einem dunklen Loch?

So stehen sie auch am Weg, wenn Christus mit seinem Kreuz zur Hinrichtungs-Stätte geht. Sie möchten wohl, dass er durchkommt, dass er beweist, dass es diesen „guten Vater“ gibt, von dem er redet. Aber sie können nicht anders, sie schlagen auch ihre Nägel noch ein. Sie bürden ihm auch ihre Lasten noch auf. Sie schlafen nicht nur im Garten Gethsemane, sie bereden ihn auch, wenn er Blut schwitzt, und haben tausend Gründe, warum es sinnlos ist auf Gott zu hoffen. Und wenn sie die Wahl haben, einen freizubekommen, dann wählen sie den Verbrecher, und wenn Pilatus auf ihn zeigt, schreien sie: Kreuzige ihn! Denn so verraten zu werden, das haben sie auch erlebt. Sie wollen sehen, wie einer davon loskommt.

Sie spucken ihn an, denn Demütigung, das kennen sie. Ist solch ein Leben lebenswert? Wie geht so einer damit um, der von grossen Dingen redet?

Die Folterknechte foltern ihn, aber das geschieht nicht nur in den Folterkammern dieser Welt. Auf dem Weg dahin stehen viele, die geben ihm noch einen Tritt, wenn sie das gefahrlos tun können. Sie stehlen sich in sein Haus und nehmen, was sie brauchen können. Sie verleumden ihn und machen ihn verantwortlich für die Verbrechen, die sie selber begangen haben. So lässt die Polizei sie in Ruhe, sie haben ja ihren Schuldigen.

Sie kühlen ihre Lust an ihm. Da ist doch etwas am Menschen, dass er gern quält und niedertritt und demütigt. Er hat Lust an sadistischen Spielen, und umso mehr, wenn das Opfer wehrlos ist. Wie ist es denn damit in der Welt? Ist Gott da sprachlos? Ist er ein Lieber Gott für die Kinderlehre oder kann er der Welt standhalten, wie sie heute halt ist?

Und wenn wir die Welt zerstören, die Meere bis zum Überkippen belasten, die Luft verdrecken, den Boden vergiften, uns selbst als Menschheit ausrotten?

Was dann? was dann?

So spucken wir heute noch auf Christus. Nicht nur ich, der Versager in seinem persönlichen Leben. Wir machen uns einen Spass daraus. Wollen Gott versuchen, wie das früher hiess. Es ist unsere Verzweiflung, die nie einen Halt findet, die immer noch eins drauf legt.

Nicht ich habe mich mit meiner dunklen Seite identifiziert. Die halbe Menschheit spielt den schwarzen Peter, weil sie immer die kürzere Karte gezogen hat. Die halbe Menschheit stolpert durch Eriksons Negativ-Katalog. Sie hat das „Urvertrauen“ nie gelernt, weil die Mutter nicht da war. Sie hat Autonomie nie gelernt, weil sie das „Schmutzige“ nicht kontrollieren kann, und schwankt zwischen Scham und Zweifel.

Sie hat Initiative nicht gelernt, weil sie Erotik nicht leben konnte. Und so laviert sie in Schuldgefühlen, etc.

Anstelle von Hiob und Odysseus und Christus haben wir heute Therapeuten, die uns die Welt erklären. Aber sie lösen das Rätsel nicht auf. Und wenn wir noch erzählen könnten, dann würden wir diese alten Geschichten erzählen:

Wie einer vom Kampf heimkehrt, aber der Wind treibt sein Schiff aufs Meer hinaus.

Wie einer reich und angesehen ist, er hat Frau und Kind und alles gelingt ihm. Aber da bricht eine Not nach der andern über ihn herein.

Wie einer auf Gott vertraut. Und es ist Weihnacht, als er ins Leben tritt. Aber sie bereiten ihm einen Karfreitag.

Wir wollen wissen: Gibt es einen Weg, wenn dieser zu unterst durchführt?

Dass die Sieger siegen, wissen wir. Aber was geschieht mit den Verlierern?
Dass die Smarten und Einflussreichen ihre Wege haben, ja, aber was ist mit denen, die keine Beziehung, kein Geld für Bestechung, kein Glück an der Börse haben? Deren Eltern kein Land hatten, das man teuer verkaufen kann. Und wenn sie das alles hatten – die so dumm und ungeschickt und glücklos waren, dass sie all das verloren hatten, und sei es noch durch eigene Schuld. Was ist mit denen? Gibt es da auch noch eine Antwort? Was?

Das Christentum erzählt davon. Es wird zu billig, das auch noch hinzuschreiben. Mache jeder sich selber auf den Weg.

29.7.2010

Christus, der Herr

Die Bibel erzählt tausend Geschichten, in denen sich die Hörer wiedererkennen können, vor allem das Alte Testament. Das Neue Testament ist dünner, erzählt weniger. Seine Zentralgestalt, Jesus Christus, wurde ja nur wenig über 30 Jahre alt.

Die Bibel erzählt nicht, wie er das Alter erlebte. Wir erfahren nichts über das Berufsleben. Über eine Partnerschaft ist nichts zu hören.

Wer hier Orientierung sucht, dem fällt nicht leicht eine Geschichte ein. Die Bibel erzählt nichts von diesen Dingen, aber sie gibt doch eine Antwort, die heute anstössig klingt. Die Menschen der Bibel nennen Jesus Christus ihren „Herrn“. Viele schalten heute innerlich ab, wenn sie vom „Herrn“ reden hören, weil sie in diesem Begriff das Wort „Mann“ heraushören oder den „Herrscher- Gott“, mit dem sie nichts mehr anfangen können.

Wer zu Christus als seinem Herrn betet, meint etwas anderes. „Kyrie Eleison“ heisst ein altes Gebet, „Herr erbarme dich!“ Wer so betet, erklärt Christus als zuständig für seine Situation. Und die Antwort, die er sucht, findet er im Gebet, auch wenn die Bibel keine einschlägige Geschichte dazu erzählt. „Herr erbarme dich!“ heisst: ich rufe dich an in meiner Situation, Du kennst sie, sie ist Dir nicht unvertraut. Dir vertraue ich alles an, was mich bewegt und zuletzt mich selber. So muss alles mir zum Guten dienen, wenn ich es im Vertrauen auf Dich lebe.

Ob ich ihn Herrn nenne, ist weniger eine Frage an ihn und welche guten Gründe es historisch gibt, ihn so zu nennen. Es ist eher eine Frage an mich: kann ich ihm vertrauen? Kann ich mich aufmachen, auch dort, wo ich Angst habe, weil alte Erlebnisse mich noch prägen? Kann ich der Falle eingeschliffener Abwehr-Mechanismen entrinnen und eine neue Antwort auf meine Situation finden, eine Antwort, die nicht aus dem alten Verhaltens-Repertoire stammt sondern aus dem Vertrauen? Eine Antwort, die mich aufmacht und mir neue Wege erschliesst?

Indem ich bete „Herr erbarme dich meiner“ erkläre ich ihn zuständig für alles, was mir gerade durch den Sinn geht, alle Freuden und Sorgen. Die Dankbarkeit erhält ihren Ort und die Sehnsucht. Der Schmerz weiss, wohin er sich wenden kann, und die Freude, woher sie stammt.

Es ist keine historische Aussage, sondern ein Glaubensakt. Daher sagt Paulus: „Wenn du mit deinem Munde Jesus als den Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten erweckt hat, wirst du gerettet werden.“ (Röm 10,9)

So beten heisst, sich ganz und gar hingeben, mit allem, was das Leben ausmacht – und sich zurückerhalten. Aber anders jetzt als zuvor – aus der Begegnung mit jener Quelle, der wir alles verdanken, die „Ja“ sagt zu uns und keine Bedingungen knüpft an unser Dasein und Sosein.

Daher macht sie frei von allen falschen Herrschafts-Verhältnissen.

Daher ist das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Herrn gerade nicht ein falscher Herrschafts-Anspruch, wie es oft kritisch heisst, sondern eine Befreiung von falschen Verknechtungen und Selbst-Verstrickungen. Es ist ein Akt des Glaubens und der Freiheit. Herr, erbarme dich unser!

15. 11. 1998

Erlöser

Bei der Arbeit als Pfarrer komme ich mir auf die Schliche. Meine Motive werden sichtbar. Sie tragen mich oder sie lassen mich auflaufen. Die Engpässe werden sichtbar, in denen mein Leben verläuft.

Glaube ist immer der Glaube eines Menschen und steigt mit ihm in alle Niederungen hinab. Aber er enthält in sich auch ein Bild des Richtigen und führt aus den Niederungen wieder heraus.

 

Ich bin bis ins Mark geprägt von einer Aufgabe, die so gross ist, dass ich alles aufbiete, was ich mobilisieren kann, alle Kraft und Kreativität, auch die Freizeit und die Zeit, die eigentlich meiner Familie gehört. Aber die Aufgabe ist unerfüllbar, ich überschreite immer wieder meine Grenzen und lande in Erschöpfung. Und bald kracht es im Gebälk, die Spannung in der Familie steigt, und alles droht, aus den Fugen zu geraten. Der Ton wird gereizt, es kommt zum Streit. Auch der Körper gibt Signale (Erkältung, Magen-Darm-Grippe, Hautausschläge…).

Je näher ich an meine Grenzen komme, desto mehr steigen Gefühle auf von Ohnmacht, Wut und Verzweiflung, weil es nicht möglich ist, die Aufgabe zu erfüllen. Ich empfinde Groll gegen „die“, die das von mir verlangen. Und bald schlägt es um in Verbitterung.

Ich bin es selber, der sich das auferlegt. Da ist das Kind, das sich eine Aufgabe anmasst, die ihm nicht zukommt. Vielleicht hat es Mitleid mit seiner Mutter, will ihr helfen. Eine solche stellvertretende Verantwortung für ein fremdes Schicksal hat eine grandiose Seite – das Kind wird zum Erlöser seiner Mutter -, aber auch eine Schatten-Seite. „Seine Mutter retten“ – das entfesselt eine Dynamik, die immer wieder in Überforderung und Krise führen muss, weil diese Aufgabe die menschlichen Fähigkeiten übersteigt.

Es ist eine Konstellation mit Sucht-Charakter: Da ist die manische, expansive Seite im Genuss, wenn das „Ich“ vergrössert wird, gefolgt vom Zusammenbruch und der depressiven Reaktion mit seinen Selbst-Minderungs-Ritualen, der Selbstablehnung. Anfangs mag das treibende Motiv dieses Sucht-Zirkels noch der Genuss sein, die Suche nach der Selbst-Vergrösserung.

Auf die Länge wird es aber immer unerträglicher, mit seinem Leben in diesem Zirkel gefangen zu sein und nie weiterzukommen, so dass das Leiden überwiegt. Und der Süchtige ertappt sich dabei und sieht sich selber verständnislos zu, wie er etwas abspult, das ihm nicht einmal mehr Freude macht.

Im Märchen wäre die Rede von Verzauberung, von einem Bann, einem Fluch, einer Versteinerung. Er sitzt mit seiner Lebens-Bahn in einer Ablauf-Schleife gefangen. Das Leben verstreicht, er wird nicht älter, weil er nicht reifen kann. Doch die Substanz wird unter der Haut ausgezehrt. Er hat irgendwo ein Kabinett, wie „Dorian Gray“, wo sein wahres Portrait zu sehen ist, während er gegen aussen ein ungebrauchtes Gesicht zeigt.

Wenn jetzt wieder so ein Abend kommt, wo er sich von neuem dieser Erlebnis-Schlaufe überlässt, dann ist das Motiv nicht mehr der Genuss; der ist längst vorbei. Er sucht vielleicht mehr die Krise. Das unbewusste Motiv ist vielleicht eher: immer wieder neu an dieser Aufgabe zu scheitern, damit er endlich mal lernen kann: „Das bin nicht ich. … Ich bin kein Erlöser.“

Einen „Erlöser“ zu kennen, das ist das Vertrauen, mit seinem ganzen Dasein in dieser Wirklichkeit gehalten zu sein.

Es kann sich ankündigen in vereinzelten Erlebnissen, die an die Kindheit erinnern, wenn die Mutter hereinkam und das Gefühl des Verlassenseins, des Ausgesetztseins im exaltierten Schreien aufhört und einer sinnlichen Empfindung Platz macht: gehalten zu sein, in der Mitte zu sein, geborgen zu sein in dieser Welt. „Es kann nichts geschehen, was immer passiert.“

Solche körperlichen Empfindungen tauchen wieder auf. Sie erinnern mich an die Kindheit. Ich fühle mich dann wohl in meiner Haut, ich muss fast 50 Jahre zurückdenken, um mich an ähnliche Empfindungen zu erinnern.

Und wenn das Vertrauen gross genug ist, dann geschieht von selbst, dass ich wie die anderen Gläubigen „das Kind zur Taufe trage“: Ich möchte auch meine Liebsten dort anvertrauen, wo ich mich selbst getragen weiss.

So kann ich endlich auch meine Mutter übergeben, jenes fremde Schicksal, das ich auf mich genommen habe und das mich erdrückt und erdrücken muss, weil ich und kein Mensch es behüten und bewahren kann.

Das alte Bild von mir loszulassen, ist anfangs ungeheuer demütigend. Es ist ein Gesichtsverlust, ein sozialer Tod. Das gelackte Gesicht des „Dorian Gray“ – es war vielleicht gar nicht mein wirkliches Gesicht, aber ich habe es mir immer zugerechnet. Ich habe mein ganzes bisheriges Leben mit Hilfe dieser Krücken gelebt, habe mich und mein Leben annehmen können dank der Grandiositäts-Gewinne: „ich bin der, der meiner Mutter hilft… Ich bin der, der helfen kann… Ich bin einer mit einer Botschaft und einer Aufgabe…“ Letztlich: „Ich bin der Erlöser“.

 

Es ist demütigend zu sagen: „ich bin wirklich der, den andere in mir sehen, ich bin wirklich der Peter W., der die und die Eigenschaften hat…“

Was passiv als „Demütigung“ erlebt wird, ist – als aktive Haltung – eine Tugend. Früher nannte man sie „Demut“: einfach schauen, was da ist. Nicht davon laufen, die Verantwortung übernehmen, und das heisst zunächst nur da bleiben und sehen, ohne zu werten: „Ja, ich bin der Peter W., von dem man das und das erzählt.“ Und den Schmerz aushalten.

Die Verantwortung für mein Schicksal und das meiner Lieben abgeben kann ich nur, wenn ich sie übergeben kann. In der Messe geschieht das im „Agnus Dei“: Agnus Dei qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Es ist der Anfang auf dem Weg des Johannes: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. –

Dieser ist es, von dem ich gesagt habe: nach mir kommt einer, der vor mir gewesen ist.“ (Joh 1,29)

11. 2. 2000

Du

Ich versuche, Geschichten zu finden, die verstehbar machen, was das ist: Erlösung. Ich spüre – viel wichtiger ist die innere Gewissheit, dass Er da ist.

Das kommt nicht durch Geschichten, das kommt an gewissen Punkten des Lebens – oft an Tiefpunkten, ganz unerwartet – wie am Karfreitag.

Das werden dann Wendepunkte im Leben – wie Ostern. Dann stellt sich auch die Glaubensfreude ein.

Ich lasse das Ärgernis stehen, dass wir es nicht verstehen. Wir haben Zugang nicht über den Verstand. Das Verstehbar-Machen-Wollen läuft auf eine Allegorese hinaus. Das macht es billig.

Es behandelt Ostern wie einen Mythos, den man entmythologisieren muss. Der antike Vegetations-Gott, der stirbt und aufersteht und so das Leben zurückbringt. Heute können wir astronomisch erklären, warum es Frühling wird. Die Pointe von Ostern ist nicht das Wiederaufleben der Vegetation, die Pointe ist, dass er diesen Jesus Christus auferweckt hat, den in Schande Gekreuzigten. (Der Gedemütigte wird aufgerichtet. Der schuldlos Verurteilte erhält Recht. Der Ermordete wird seiner Mutter zurückgegeben.)

Dazu kommt an Ostern aber auch die Begegnung mit dem „andern“. Sonst ist kein Anfang. Wenn unser Bewusstsein erwacht und wir die Welt verstehen lernen, finden wir uns vor, uns selbst, die Welt und das Leben. Da ist weniges, das von uns stammt, und eine ungeheure Übermacht von anderem, das vor uns war und uns Leben schenkt und ermöglicht.

Auch diese Rückübersetzung in ein nicht-glaubendes Weltbild, das ich jahrelang gepflegt habe, möchte ich allmählich hinter mir lassen.

Das Wesentliche des Glaubens lässt sich nicht rückübersetzen. Da gibt es nur ein Vorwärts-Übersetzen. Ein Über-Setzen über den Strom, an dem Christophorus Fährmann ist.

Da kommt eines Tages ein Kind und will hinüber. Der Christophorus, ein Riese, lacht, und packt es sich auf die Schulter.

Ist er nicht als Jugendlicher schon ausgezogen, weil er dem höchsten und mächtigsten Herrscher dienen wollte? So kam er von einem zum andern, immer höher, immer mächtiger, aber überall entdeckte er eine Schwäche.

Selbst beim Herrn dieser Welt hielt es ihn nicht lange im Dienst, weil er auch ihm auf die Schliche kam: Dass er nicht Herr über sich selber ist, dass er sein Leben und Schicksal nur geliehen hat.

Und jetzt dieses Kind. Er hebt es hoch, setzt es sich auf die Schulter. Dann reisst er eine Eiche aus, als Stock für den Weg. Und er watet ins Wasser.

Was ist das? Das Kind wird schwerer und schwerer! Der Riese glaubt es nicht, der Riese kommt in ernsthafte Schwierigkeiten. Der Riese fürchtet, er verliert sein Gesicht. Er watet weiter. Er kann nicht mehr. Endlich lässt er den Stolz fallen.

Wer bist DU!?

 

Es ist das Kind, das die ganze Welt auf den Schultern trägt.

Es ist das Lamm, das die Schuld der Welt auf dem Rücken trägt.

Das Wasser wird dem Riesen zur Taufe. Er geht unter und wird gerettet. Er stirbt und wird geboren, ein neues Wesen. Er vertraut auf den, der da ist wie ein Kind und die Welt in Händen hält.

Und sein lebenslanger Kampf – es ist nur ein Spiel. Ein heiliges Spiel.

8. 4. 2012

 

Titelbild

unter Verwendung eines Werks von Shirin Kavin (© bei Shirin Kavin)

„Es ist Teil einer fortlaufenden Arbeit mit dem Namen „Iris“. Es geht einerseits um die Suche nach dem Abbild der griechischen Göttin des Regenbogens Iris – und gleichzeitig auch um die Verbindung zwischen der Iris des Auges und dem Gehirn. Also um Wahrnehmung und Täuschung.“ Shirin Kavin