Im „Café mystique et plastique“

Zurück von einer Wanderwoche im Jura. Meist kamen wir am Regen vorbei. Auf dem Weg nach St. Ursanne mussten wir mehrmals umsteigen, mit schlechten Verbindungen. In Delémont hatten wir Zwischenhalt. Wir hasten beim Regen über die Strasse zu einem Café, um dort die Zeit zu überbrücken.

Zunächst scheint es, als ob wir in eine enge Welt eingedrungen seien. An einem freigewordenen Tisch räumt die Serviertochter das Geschirr weg. Sie unterhält sich mit dem Mädchen am Buffet. Der Geruch von Kaffee, die Geräusche erinnern mich. –

Zauber
Das ist wie im Tea-Room meiner Eltern! Wie damals, als ich ein kleiner Junge war! Die Serviertochter wäre mir nicht fremd wie jetzt, wo ich als Tourist dasitze, an „Tisch drei“. Sie würde mir ein Lächeln schenken oder auch nicht, ich würde jedenfalls dazugehören: zu dieser Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die „Tea-Room“ heisst.

Eigentlich ist es wie damals, diese jetzige Zeit ist nicht zum vornherein abqualifiziert, weil sie nicht mehr zur Kindheit gehört und zu den goldenen Tagen. Sie hat noch die Offenheit, zu einer Kindheitszeit zu werden: für Kinder, die kommen, für jeden, der offen ist, sie zu leben wie ein Kind – aufnahmefähig, prägefähig, offen, empfindsam, neugierig auf sie zugehend.

Die vertrauten Verrichtungen, die bekannten Geräusche – als ob die Zeit aufgehoben wäre. „Le Café mystique et plastique“ sage ich später zu Antonia und frage sie, ob sie sich vorstellen könnte, statt Frau eines Pfarrers zu werden ein Café zu führen.

Zeit-Maschine
Diese Gegenwart hat eine Tür zur Kindheit, aber – als Gegenwart – auch eine Tür zu mir. Diese Verbindungstür möchte ich finden! Ich will nicht in die Kindheit zurück, sondern in die Gegenwart – aber so, wie ich in der Kindheit fähig war, Gegenwart zu leben.

Ich möchte in der Jetzt-Zeit leben. Die Kindheit der Erinnerung ist ein Modell behüteten Lebens – die Eltern lebten noch, die Familie war beisammen. Ein solches Modell besteht in einem verkleinerten Massstab, daher ist es ein „Modell“, nicht die Wirklichkeit selbst. Paradox: Ich gehe in das Modell hinein, in die Vergangenheit – und ich lande in der Gegenwart. Je tiefer ich ins Modell hineingehe, desto grösser wird es – bis es Massstab eins zu eins ist. Ich bin ganz eingetaucht, wie damals, oder umgekehrt: Was war, ist jetzt. Ich lebe mit demselben Gefühl, mit derselben Wachheit – mit demselben unenttäuschten Vertrauen.

Ich möchte umblättern, wieder anknüpfen, einen dicken Strich ziehen – nicht neu anfangen, sondern weiterfahren wo ich schon mal war – einfach sein. Dass das Leben wieder „Poesie“ enthält, auch im Schrecklichen. Poesie nicht als Anschein von heiler Welt. Aber auch nicht jene furchtbar biedere Sicht der Welt, die alles in Schuldbewusstsein taucht, die angebliche Allverantwortung, Allzuständigkeit, die doch nur lähmt und sich nur in Verdrängung retten kann – das Gegenprinzip von „Poesie“.

Gegenwart
Heute liegt die Herausforderung für mich in der Gegenwart: So möchte ich mein Leben führen, aus diesem Gefühl von Ruhe und Geborgenheit, das mich hier gestreift hat! Es ist wie im Café oder in der Kindheit. Ich bin nicht daraus „vertrieben“, die Zeit ist nicht schlechter geworden, als ob sie gewisse Erfahrungen nicht mehr zulassen würde.

Jene intensive Gegenwart ist eine Kammer, zu der zwei Türen führen: eine aus der Kindheit – die bin ich gegangen, mit der Offenheit des Kindes. Aber es gibt noch eine zweite Tür, die zu meinem jetzigen Standort hin offen ist. Wenn ich sie benütze, lande ich nicht in der Kindheit, sondern in der Gegenwart. Sie ist so intensiv wie die Gegenwart, die ich in der Kindheit lebte, aber es ist die Gegenwart von heute.

 

Aus Notizen 1991
Foto von Maarten van den Heuvel, Pexels