Die Wende am Nullpunkt

Die Kirche, wenn sie vom Glauben erzählt, kann heute gar nichts mehr voraussetzen. Im Gegenteil, es steht im Gegenwind und stösst auf aktive Abwehr (nicht nur passives Desinteresse).

Jedes Reden vom Glauben muss begleitet sein von Schuldübernahme. Es gibt kein unschuldiges Reden mehr, als ob wir am Anfang der Geschichte stünden, als all die Verfehlungen und Versäumnisse noch nicht geschehen waren. Und wenn ein Gegenüber im Moment des Gesprächs nichts davon weiss – er kann es wissen, er hat irgendwie davon gehört (er ist nur einen google-Klick davon entfernt). Und wenn der Redende das nicht von sich aus anspricht, untergräbt das sein Vertrauen.

Dieses Vertrauen finde ich nur wieder, wenn ich Antwort geben kann, wenn mein Gegenüber sieht, dass ich davon „weiss“ – ich habe mich gründlich damit auseinandergesetzt und ich habe Gründe, um dennoch am Glauben festzuhalten. An einem Glauben allerdings, der um diese Verfehlungen „aufgeklärt“ ist und nicht wieder in dieselbe Falle gehen wird. So respektiert der Redende das Gegenüber in dieser Verletzungsgeschichte und zeigt durch Schuldübernahme, dass er so nicht weiterfahren will.

Wie wirbt denn Christus für seine Botschaft?
Welches Symbol wirkt am stärksten, weil am ehrlichsten, wahrhaftigsten? Welches Bild lässt sofort begreifen, dass es hier um etwas geht, das den elementarsten Intuitionen des Lebenkönnens entspricht: Wahrheit, Gerechtigkeit und – ja auch Schönheit? Und auch das verletzte Leben, gerade das verletzte Leben, wird hier Zuflucht suchen, wird das als verwandt erleben und Vertrauen fassen?

Christus am Kreuz! Da hört das menschliche Tun allerdings auf. Gut zu wissen, dass nicht unsere Klugheit Proselyten macht, nicht die Vorteile, die wir versprechen können, nicht Brot und Macht und Geld – damit wirbt der „Herr der Welt“ in der Versuchungsgeschichte Jesu. So macht man vielleicht Kirchenmitarbeiter. So findet die Kirche Unterstützung in der Welt. Aber jene Wende am Nullpunkt, wenn der Mensch mit seiner Weisheit und seiner Macht am Ende ist, ereignet sich so nicht. Und gerade darum führen die Evangelien (als Meistererzählungen vom Glauben) alle Hörer unter das Kreuz.

Das ist Bein von meinem Bein
Darin erkenne ich mich: dass ich aus mir nichts vermag. Da wird mir nichts vorgemacht. „Das ist Bein von meinem Bein“ – so erkenne ich meine Wirklichkeit wie Adam seine Eva erkannte. Ich habe in meinem Leben wohl auch öfters etwas vorgemacht, eine Identität gebaut, Pläne geschmiedet, als ob alles mir zur Verfügung stünde. Ich bin aufgetreten, als ob ich es schon im Sack hätte, trug jene Sicherheit in der Stimme, als ob ich die Verantwortung für mein Leben tragen könnte – dass es gelingt, dass es ankommt. Ich war optimistisch oder gedankenlos genug, zu leben, als ob die Geschichte des Menschengeschlechts nicht im Dunkeln versinken müsste, weil „wir“ da sind und dafür sorgen. Weil wir Menschen die Bedingungen unseres Lebens selber in Händen tragen.

Ich weiss es jetzt besser. Und andere wissen es auch. Diese finden sich unter dem Kreuz ein. Dort gewinnt diese Erfahrung Evidenz. Und die Menschen unter dem Kreuz erkennen sich, wie Adam und Eva. Das ist Bein von meinem Bein. Und die Evangelisten erzählen sich, Christus selbst hätte sie einander beigesellt, als ob er sie verheiratet hätte zu der neuen Gemeinschaft, die Kirche heisst: „Siehe, dein Sohn! Siehe, Deine Mutter!“ sagt er zu Maria und Johannes, die unter dem Kreuz aushalten.

Das Kreuz als Symbol für die neue Rede vom Glauben?

Steht das Kreuz nicht für Brutalität?
Das Kreuz ist ein Folterinstrument, es ist hässlich. Es scheint unbegreiflich, wie es zu einem Symbol für eine Religion werden konnte. Es ist brutal. Mit dieser Brutalität wollten die Herrscher die Gegner abschrecken, die Unzufriedenen stillhalten, das Volk unterwerfen. Es sind nicht die Menschen unter dem Kreuz, die diese Folter ersonnen haben. Sie sind ihr unterworfen. Aber in dieser äussersten Verlassenheit, als die Besiegten verhöhnt und verspottet werden und die Sieger sich schon auf der sicheren Seite glauben, ereignet sich etwas.

Die Stunde null
Gerade in dieser Stunde null, als niemand einen Pfifferling darauf verwetten würde, dass es in der Welt so etwas gäbe wie „Gerechtigkeit“, erwacht diese mit Macht. Es kann gar nicht anders sein. Gerechtigkeit ist eine allererste Intuition des Lebens. Ohne sie kann niemand den Kopf heben, ein „Ich“ bilden, zur Welt kommen und in psychischer Gesundheit leben. Ohne sie kann niemand den Frieden finden mit sich selbst und seinem Nachbarn. Ohne sie zerfällt das Ganze in seine Teile, sei es die Psyche der Menschen oder die Gesellschaft in ihrem Zusammenleben. Ohne sie entsteht Aufruhr und Gewalt. Und eine Herrschaft, die sich auf so etwas gründen will, zerfällt.

Der Anfang
So erhellt die Brutalität den Frieden, das Unrecht das Recht. Und das Kreuz erhält einen neuen Sinn. Es erinnert an jene tiefen Erfahrungen unter dem Kreuz, als aus der dunkelsten Nacht ein neuer Tag begann und aus dem Tod ein neues Leben. Die Intuitionen auf Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit, die im Moment ihrer äussersten Negation zu Bewusstsein kamen, inspirierten die Menschen zu gemeinsamem Handeln. So folgte auf den Karfreitag der Ostermorgen. Und die Menschen unter dem Kreuz fanden zueinander, wie Christus gesagt hatte.

Aus Notizen 2016
Bild: Frans Masereel, steht auf, ihr Toten! 1914