Tag Archive for: Gerechtigkeit

«Auferstehung», «Himmelfahrt» – Zeitgenossen können wenig damit anfangen, auch in die Bibel ist das spät gekommen. Sie antwortet damit auf Herausforderungen ihrer Zeit. Wie lässt sich die Wirklichkeit begreifen, wenn sie sich widerständig zeigt gegen alle Hoffnung auf positive Veränderung? Haben Recht und Gerechtigkeit keine Heimat auf dieser Erde?

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In Italien gab es Überschwemmungen. Die Nachrichten zeigen einen Mann, der bis zum Hals im Wasser watet. Seine Frau trägt ein Kind. Solche Bilder sieht man immer nach Überschwemmungen, man hat sich daran gewöhnt. Ungewöhnlich war aber, dass das nicht «einer der üblichen Verdächtigen» war, aus den «Problemregionen» dieser Welt, an die wir uns gewöhnt haben. Weiterlesen

Gestern haben wir den Film «Coup de Chance» gesehen von Woody Allen. Es ist eine Antwort auf seinen früheren Film «Match Point» und nimmt das Thema von Zufall und Glück wieder auf. Dort schlägt es zugunsten des Gauners aus, jetzt zu seinen Ungunsten. Der Mörder fängt sich in der Falle, die er andern zugedacht hat. Weiterlesen

«Schaffe mir Recht!», so betet ein Mensch im Psalm. Ist Gott gerecht? Ist das Schicksal gerecht? Oder schläft Gott? Sieht er die Not nicht in der Welt? Die Jünger sind mit Jesus unterwegs in einem Boot. Sie fahren auf dem See und kommen gut voran. Da erhebt sich ein grosser Sturm und die Wellen schlagen ins Boot, so dass es bald voll wird. Jesus ist hinten im Boot und schläft auf einem Kissen. Weiterlesen

Wo steht die Kirche? Kirche als religiöse Instanz scheint heute kaum noch vorhanden, in einer anderen Form begegnet sie an allen Enden. Die Hoffnungen sind aus der Religion ausgewandert, die Versprechungen erfolgen nicht mehr im Namen eines Gottes, die Sehnsucht bindet sich an Gehalte dieser Welt, die aber doch mit religiöser Kraft aufgeladen werden. Das kann als Fortschritts-Versprechen erfolgen, wenn das Handeln in dieser Welt optimistisch eingeschätzt wird. Weiterlesen

Wenn die Zeiten sich verschärfen, wächst auch eine Suche, was helfen kann. Früher forschten viele Menschen in der Bibel und wurden dort auch fündig. Sie ist immer wieder eine Fürsprecherin für Verfolgte und Bedrängte. Aus vielen Stellen liesse sich ein „soziales Evangelium“ zusammenstellen, aber die Bibel redet nicht nur in Einzeltexten, sie ist als Ganzes dem Volk verpflichtet, das Träger der Verheissung ist, dem sich Gott in Erbarmen und Gerechtigkeit zuwendet. Zu den sozial engagierten Texten gehört auch der Jakobus-Brief, der Mitte Oktober in den Kirchen gelesen wird. Weiterlesen

Wir haben den Film «Wilde Fields» gesehen. Er spielt in der Ukraine, nach 2014, als der Krieg im Süden und Osten begonnen hatte. Der Film zitiert einen „Western“, spielt aber im Osten und sagt damit: Das Recht ist noch nicht angekommen. Hier gilt das Faustrecht. Es gewinnt, wer den Revolver schneller ziehen kann. Weiterlesen

Die Geschichte vom Menschen, der von einem Wal verschluckt wurde und bis zum Grund des Meeres reiste, ist fiktiv. Es sind aber reale Erfahrungen, die hier zu einem Mythos verdichtet werden. Auch wer heute von der Erzählung gepackt wird, fühlt sich erinnert an eigene Erlebnisse von Überwältigt-Werden, von Dunkelheit und von Suchwegen im Ungewissen. Das Folgende ist ein Auszug aus meinem Büchlein «Im Innern des Wals. Was Jona sah und erlebte als er zum Grund des Meeres reiste, edition winterwork 2021. Das Büchlein folgt verschiedenen Erlebnissen «Im Bauch des Wals», das Nachwort, aus dem hier zitiert wird, versucht, es zu verstehen.

Peter Winiger

 

Falsches Aha!

Immer wieder erlebe ich als Erwachsener, wie ich etwas tue, was ich nicht will. Und was ich will, das tue ich nicht. Der Widerstand, der kommt nicht erst am Schluss dazu, der mischt schon von an Anfang mit. Schon die Wahrnehmung ist geprägt. Sie zeigt mir die Wirklichkeit nach dem Muster frühkindlicher Erfahrungen. Und die Antwort darauf ist schon beigemischt. So hatte ich als Erwachsener seltsame Aha-Erlebnisse: Wenn etwas ganz aussichtlos erschien, dachte ich, ich sei endlich am Boden der Wirklichkeit angelangt.

 

Ist es das, was wir erwartet haben, oder kommt noch etwas Grösseres?

Erdbeben, Tsunami, Kernschmelze, Super-GAU – eine Katastrophe zieht die andere nach sich. Ist das das grosse Dunkle, das wir vor uns sahen und vor dem wir uns immer gefürchtet haben oder kommt noch etwas Grösseres?

Das traumatische Erleben ist nicht nur «schräg», nicht nur eine private Spinnerei – es ist von Erfahrungen geprägt, auch wenn die Reaktionsweisen, die es bei den Menschen auslöst, oft dysfunktional sind. In grösserer Sicht ist die Falsch-Nehmung eben doch eine Wahr-Nehmung – es gab das Ereignis wirklich, das das Wahrnehmen verbog und das ganze Leben auf eine falsche Bahn brachte.

Da wurde das Vertrauen verletzt. So muss das in allen Situationen zum Vorschein kommen, die Vertrauen verlangen: in den Beziehungen, die ein Mensch eingeht, in den Begegnungen am Arbeitsplatz. Es entsteht ein Mensch, der nicht vertrauen, d.h. glauben kann, denn Glauben ist Vertrauen. So zeigt es sich hier am reinsten, ob ein Mensch vertrauen kann: im Glauben, ob er dieses Risiko eingehen kann.

 

Die Wende zu Gott in der Lebensmitte

Die Frage der Religion muss auftauchen, wo vom Leben und vom Tod die Rede ist. Sie hängt nicht am Kinderglauben, die Frage kann sich immer wieder neu stellen. Insofern haben jene Kirchen nicht alles verspielt, die die Tradition abbrechen liessen. Und die Verächter, die die Gläubigen für ihre Kindlichkeit verlachen, sind nur nie verzweifelt genug gewesen in ihrem Leben.

Hiob ist kein Kinderbuch. Er rechtet mit Gott. Er braucht Gott, um ein Gegenüber zu haben, wo er seine Verzweiflung hintragen kann – und seine Intuition, dass es doch gerecht zugehen müsste im Leben und Zusammenleben.

 

Grossmutter

Ein «Trauma» ist selten das Leiden eines einzelnen. So wie die Erfahrung von vielen geteilt wird, wenn die historischen Umstände betrachtet werden, so geht sie in die Tiefe der Zeit: Ein Trauma kann über die Generationen weitergegeben werden.

Der traumatisch Verletzte scheint wie unter einem Bann zu stehen, sein Verhalten läuft wie in einer Kreisbahn, so dass immer wieder dieselben Konstellationen auftauchen. Diese Bannkraft wirkt auch über die Generationenfolge, so dass immer wieder ähnliche Schicksale auftauchen.

So entstehen die grossen seelsorgerlichen Fragen, die Familienfragen, wo getrunken wird, wo Gewalt ausgeübt wird – oder wo Menschen «ins Wasser gehen». Und es kann wie ein «Auftrag der Ahnen» empfunden werden, endlich mal die Frage zu stellen: ob diese Welt verlässlich ist oder nur ein schwarzes Loch. Das ist die Frage nach Gott.

 

Glaube entsteht im Gehen

Vertrauen ist kein kognitiver Akt, es kommt nicht einfach durch ein «Aha» zustande. Vertrauen, vor allem wenn in diesem Vertrauen ein Weg eingeschlagen wird, wenn eine Handlung erfolgt, die durch nichts als Vertrauen gerechtfertigt wird, ist ein existenzielles Risiko. Denn oft stehen dieser Entscheidung viele Gründe und Motive entgegen, es ist nicht lebensklug, hier zu vertrauen, die Klugheit würde Sicherheit verlangen. Und es mobilisiert schlicht Angst, wenn die bekannten und verlässlichen Geländer losgelassen werden und ein Weg ins Ungewisse eingeschlagen wird. Es gibt aber Akte im Leben von dieser Art, die weder ökonomisch versichert noch sozial abgestützt werden können. Wo der einzelne allein steht und «jetzt», in diesem Moment eine Entscheidung fällen muss.

Da ist «Gott» keine theoretische Frage, es ist die Vertrauensfrage schlechthin. Und auch das psychologische Wissen, wie Vertrauen entsteht, wie es verletzt oder geheilt wird, hilft nicht weiter. Denn hier ist der Betroffene nicht Beobachter im eigenen Leben. Die Zeit der «Es-gibt- und es-hat-Sätze» ist vorbei. («Es gibt Gott» oder «Es gibt keinen Gott». Auch der Atheismus hilft nicht weiter.) Der Schritt ist jetzt fällig und er muss ihn gehen. Das unterscheidet ein gelebtes Leben von einer Theorie über das Leben oder von einer Erzählung über das Leben, die immer von einem anderen Standpunkt aus erfolgen, vorher, nachher oder darüber, aber nie vom Ort der Entscheidung aus. Und der gleicht dem Ort des Seiltänzers oben auf dem Seil, das nur ein Vorwärts kennt.

Was wir jetzt tun, verrät etwas über uns. Wie wir uns auf dem Weg verhalten, darin zeigen wir, wer wir sind. Mit jedem Schritt vertrauen wir uns Gott an, so machen wir mit jedem Schritt Erfahrungen mit ihm. So geschieht auf dem Weg eine doppelte Auslegung: wer wir sind und wer er ist.

Der Weg ist ein Risiko, und er sucht das Risiko. Der Glaubensweg scheint davon angezogen. Wir wollen nicht nur ein bisschen Vertrauen im Leben, wir wollen das ganze Leben vom Vertrauen her gestalten und erfahren. Es ergibt sich damit fast zwangsläufig, dass wir in alle möglichen Ängste hineingehen, dass der Glaubensweg da hineinführen muss. Denn dort, wo es früher hiess «ich fürchte mich» soll es in Zukunft heissen «ich vertraue». Ich gehe vorwärts, auf die Menschen zu, die mich erwarten, auf die Aufgabe, die vor mir steht.

 

Wie weiss ich denn, dass mir das Leben gelingen wird?

Wenn ich wüsste, dass mein Leben gelingt, wie ganz anders könnte ich es leben! Ohne Angst und in Freude. Und die Probleme, die alles in Frage stellen, wären keine Probleme mehr, es wären Aufgaben auf dem Weg. Schade, weiss ich es immer nur hinterher, ob es gelungen ist. Muss ich also bis zum «Jüngsten Gericht» warten, bis ich es weiss? Stehe ich immer in Zweifel? Soll ich es da nicht lieber gleich fahren lassen, da es doch aussichtslos ist?

So fragte schon Thomas a Kempis: „Ich kenne einen Freund; der war von Angst ergriffen und schwebte lange zwischen Furcht und Hoffnung. Eines Tages, da ihn der Kummer halb aufgezehrt hatte, warf er sich, aus dem Herzen betend, in der Kirche vor dem Altar nieder und grübelte bei sich: Oh, wenn ich gewiss wüsste, dass ich im Guten bis ans Ende verharre! Da hörte er die göttliche Antwort in seinem Innersten: „und wenn du das wüsstest, was wolltest du dann tun? Tue jetzt, was du dann tun wolltest, und du wirst sicher zum Ziele kommen.“ Dieses Gotteswort tröstete und stärkte ihn, dass er sich ganz dem Willen seines Herrn hingeben konnte, und alle Angst war dahin.“

Wie weiss ich denn, ob mein Leben gelingt? – Ich weiss es heute schon, wie Wissen davon überhaupt möglich ist: im Glauben. Also kann ich vorwärts gehen, auf die Menschen zu und in die Situation hinein.

(Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi. Stuttgart 1967. S. 52.)

 

Nicht vom Glauben her, auf den Glauben hin

Den Glauben, den man zum Leben braucht, habe ich noch nicht. Das Vertrauen, mit dem es mir gelingt, davon bin ich noch weit entfernt. Ich bin erst auf dem Weg. Aber schon auf dem Weg gibt mir der Glaube etwas, mit dem ich ihn finden und bestehen kann: Wenn ich die Frage, die vor mir auftaucht, auch nicht vom Glauben her beantworten kann, ich kann sie auf den Glauben hin betrachten. Ich kann sie ins Gebet nehmen, sie anschauen im Licht des Evangeliums. So kann ich den Schritt tun.

So öffnet sich zwischen mir und dem Ziel auch kein Abgrund mehr. Ich bin nicht einfach schlecht und ungenügend (die Symptome stehen schon bereit, mit denen man mein Scheitern beschreiben kann). Ja, ich scheitere, und das mit Notwendigkeit. Ich kann das Ziel des Lebens gar nicht aus eigener Kraft erreichen. Die Vollendung erfolgt aus derselben Kraft, die den Anfang geschaffen hat. So kann ich meinen Standort annehmen, muss ihn nicht kleinreden und schlecht machen. So kann ich in mir Platz nehmen. Das Leben beginnt.

So habe ich endlich die Kraft gefunden, mit der ich in alle Angst hineingehen kann. So kann ich alles nochmals ansehen, mich mit allem versöhnen. Das bin ich. Und da ist Gott, mit ihm finde ich den Weg.

 

Wenn es Gott wirklich gäbe?

Wahrheit zeigt sich für mich, wenn ich mich vor Gott stelle. Das klärt die Situation, enthüllt sie, zieht den Schleier weg.

Es hat Folgen für das Erkennen: Es zerreisst die Projizierungen, zeigt auch den Menschen in seiner Vollgestalt, wie er nur im Gegenüber Gottes sichtbar wird, das macht die Liebe leicht; es legt die Impulse frei: auf den Menschen zuzugehen; es zeigt die Wege; es ersetzt die Angst-Projektionen durch Erkenntnis-Bilder der Liebe und setzt so einen Wirkkreis in Gang, der dem Teufelskreis der Angst entgegengesetzt ist.

Und es hat Folgen für das Tun: Ich kann das Richtige auch tun, die Blendwirkung der Angst wird aufgehoben, so dass ich sehen kann, wo vorher nur eine weisse Wand war, und ich kann hineingehen, wo vorher nur etwas Schreckliches war, was mich von sich weggetrieben hat.

 

Gebet

„Gott, ich weiss, dass Du da bist!
Ich höre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Schweigen!
Ich sehe dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Dunkel!
Ich spüre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alle Beweise meiner Hand, die ins Leere tastet.

Ich weiss es einfach, und damit weiss ich was „Wissen“ ist.

„Wissen“ ist einzig und allein diese Gewissheit, mit der ich Dich weiss. Alles andere ist nur Panik, Illusion, falsche Beweise. Mein Stolpern beweist nichts, meine Hände stolpern wie die Beine, die Augen irren wie die Hände…

Lieber Gott, führe mich, hier meine Hand. Ich bitte – ich weiss, du wirst mir geben.
Ich klopfe an – Du machst auf.

Du bist, ich bin.

 

Grösste Not und grösste Freude

Das Schlimmst-Mögliche, so die schreckliche Ahnung, wird vielleicht von der Angst selber herbeigeführt! So wären wir selber die Übeltäter in unserem Leben. Und wir brauchen die Menschen um uns herum nur zur Staffage, um unser eigenes Drama immer und immer wieder aufzuführen.

Jeder wird im Laufe seines Lebens eingeholt vom tiefsten Punkt seiner Verletztheit. Es kann nicht anders sein, die Heilung muss zum tiefsten Punkt gehen. Vertrauen, wenn es ein Leben anleiten will, muss Antwort wissen gerade auf diese Fragen, die am meisten in Verzweiflung stürzen. Glaube ist nicht Glaube, wenn er nicht durchgehalten wird bis in die schmerzhaften inneren Dialoge hinein, die wir dauernd in uns wiederkäuen.

 

In Blaubarts Zimmer

Irgendwann geht der Weg bis ins Innerste. Dort wird auch das Äussere verständlich. Die Rätsel klären sich. Erst im Innersten kehrt die Bewegung um. Wenn ich das Innerste aufgesucht habe, bin ich fähig und bereit, mich nach aussen umzuwenden. Sonst sitzt es mir als Angst im Nacken. Im Innersten aber, wo die Angst am dichtesten scheint, kehrt Ruhe ein. Im Innersten klären sich auch die Rätsel der Familien-Geschichte.

Der Weg des Nachgehens, des Aufsuchens, des Wiederholen-Müssens aber auch des Heilens, geht bis zum Schlimmst-Möglichen, die Bewegung geht bis zum Innersten. Da ist die Schatzkammer – und das Blaubart-Zimmer der Familien-Geschichte. Hier werden Schicksale geprägt und Lebensläufe entschieden. Hier eintreten ist wie eintreten in eine andere Wirklichkeit. Sie ist mit nichts anderem zu vergleichen.

 

Die Zukunft der Kinder

Unsere Kinder werden die Welt nicht mehr so erleben, wie wir das noch durften. Das hat mir lange am meisten zu schaffen gemacht. Es macht mir Angst, in die Zukunft zu gehen und die Kinder auf diesem Weg allein lassen zu müssen. Wer behütet sie?

Auch der Tod hat sein Gesicht verändert. Alles ist unbekannt und unerprobt. Wer könnte hier voran gehen, wer hat das schon erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?

 

Notwendig

Tatsache ist, wir können gar nicht weniger erwarten. Kranke hoffen auf Gesundheit, Ausgestossene, dass sie wieder aufgenommen werden. Wir erwarten, dass am nächsten Morgen die Sonne aufgeht. Es gibt Erwartungen, die sind lebensnotwendig: dass die Welt Bestand hat, dass der Weg der Menschheit sich nicht im Dunkeln verliert, dass es für das eigene Leben ein Ankommen gibt. Die Erwartungen der Menschen sind absolut, sie richten sich aufs Ganze. Wir können gar nicht anders.

 

Hinausgehen

Petrus sitzt im Boot. Er ist mit den anderen Jüngern hinausgefahren. Der See ist stürmisch. Einmal, als die Wellen ins Boot schlagen, fürchtet er um sein Leben. Aber das Boot gibt ihm Schutz, hier fühlt er sich einigermassen sicher.

Aber jetzt sieht er, wie Jesus auf den Wellen wandelt – ungeschützt, ganz ausgesetzt. Mitten im Sturm. Es hat eine ungeheure Leichtigkeit. Es ist nicht Sicherheit, es ist Vertrauen. Er stützt sich auf nichts, was ein Mensch machen kann, auf nichts, was zu dieser Welt gehört.

Es gibt keine Bedingung in der Welt, die zuerst erfüllt sein müsste, damit er so leben kann, wie er sich das vorstellt. Er lebt bedingungslos und frei. Er hat sein Leben auf Gott geworfen, dieser trägt die Welt. Er hat sein Leben ihm anvertraut.

Petrus sieht Jesus auf dem Wasser gehen, und er begreift mit einem Mal, dass er sein Leben falsch verstanden hat. Es geht nicht darum, sicher im Schiff zu sitzen. So verliert er gerade, was er retten will. Es geht darum, das zu verwirklichen, was gemeint ist und was auch ihm zugesagt ist.

Und jetzt will auch Petrus den Schritt wagen.

Er ruft Christus an: „Herr, bist Du es, so heisse mich zu Dir auf das Wasser kommen!“ „Komm!“ sagt Jesus und Petrus steigt aus dem Boot. Und er geht.

Das Wasser trägt.

 

Von nahem gesehen
Die Geschichte hat einen kleinen Nachspann. Als Petrus ausgestiegen ist, sieht er die Wellen von nah. Hier draussen macht der Sturm einen Höllenlärm.
Da fürchtet er sich.

Er fürchtet um sein Leben, um seinen guten Ruf, sein dieses und jenes, wovor wir uns immer fürchten im Leben. Plötzlich wird es ihm nicht mehr geheuer, da draussen.

Er möchte sich absichern, schaut sich nach dem Schiff um, um wieder einzusteigen.
Da beginnt er zu sinken.

Er hat den Schritt getan, er hat erlebt, wie es ist, als freier Christenmensch zu leben. Aber „immer“ gelingt es nicht. Es gibt Rückfälle. Darum endet diese Geschichte mit dem ängstlichen, dem zweifelnden Petrus.

Christus sagt wohl: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ Aber damit verurteilt er ihn nicht, damit will er uns sagen: Ihr dürft noch viel mehr glauben, ihr dürft viel mehr Vertrauen haben, als ihr denkt!

Als Christus sieht, dass Petrus sinkt, geht er ihm entgegen und hilft ihm. „Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus und ergriff ihn.“ (Mt 14, 22 ff)

 

Im Bauch des Wals, der Weg dieses Büchleins

Man kann die Religion aufsuchen bei den Glücksmomenten, die sie begleitet: wenn ein Kind geboren wird, wenn zwei heiraten… In den vorliegenden Texten scheint die Religion etwas Dunkles, jedenfalls verbunden mit Dunklem. Das ist heute nicht verwunderlich, wo Religion fast nur noch in Zusammenhang mit kirchlichen Fehlleistungen thematisiert wird. Und doch ist hier etwas anderes gemeint.

Es geht um Leid, um die grossen Umwälzungen, um Kriege und Krisen, wo Menschen traumatisiert werden. In der Art, wie Traumata erlebt und ausgedrückt werden (angefangen bei der frühkirchlichen Passions-Geschichte von Verfolgung und Kreuzigung) finden sich religiöse Bilder. Sie helfen, der Verletzung Ausdruck zu geben, und sie begleiten auf einem Weg der Heilung.

Glaube wird hier nicht begriffen als System von Sätzen, sondern als Haltung des Vertrauens, das elementar nötig ist, um das Leben als einzelner oder als Gemeinschaft zu führen. Wird das Vertrauen verletzt, hindert das die Integration der Menschen in sich selbst und in die Gemeinschaft. Der Weg zur Heilung muss die Verletzung aufsuchen. So ist der religiöse Weg, wie er hier beschrieben wird, ein Weg ins Dunkle. Ein Bild dafür gibt der Weg von Jona, der sich einschifft, in einen Sturm gerät, über Bord geht und von einem Wal verschluckt wird.

Die Reise des Jona im Bauch des Wals bis zum Grund des Meeres geht durch die Krisen der Historie, durch das Trauma der Menschen, die verletzt werden, und dabei helfen die Bilder der Mythen und des Glaubens. Drama, Trauma und Traum der Religion gehören zusammen. Das wollte ich mit diesem Büchlein zeigen.

Peter Winiger

 

Die Texte stammen aus dem Nachwort zum Büchlein «Im Innern des Wals. Was Jonas sah und erlebte, als er zum Grund des Meeres reiste.» Von Peter Winiger, 2021 edition winterwork, Borsdorf.

Bild: Hortus Deliciarum. Der Prophet Jonas wird vom Fisch bei Ninive ausgespien.

Die heissen Tage haben begonnen. In Deutschland ist Starkregen angesagt. Ich will etwas über Wirklichkeit scheiben. Wer ist dazu berufen? Vielleicht der, der den Impuls empfindet, ein Fenster aufzureissen, damit man atmen kann. Die Alternativlosigkeit der geltenden Wirklichkeits-Behauptung erstickt einen. Danke Du da vorn, danke, dass Du das Fenster aufmachst! Weiterlesen

Vor dem Einschlafen höre ich Psalmen. Da betet einer, er wasche seine Hände in Unschuld. Und er beteuert, er habe «ohne Schuld gelebt». Mit dem Schlafen ist es erstmal vorbei, wie kommt einer zu einer solchen Aussage? Weiterlesen