Die Fenster öffnen

Die heissen Tage haben begonnen. In Deutschland ist Starkregen angesagt. Ich will etwas über Wirklichkeit scheiben. Wer ist dazu berufen? Vielleicht der, der den Impuls empfindet, ein Fenster aufzureissen, damit man atmen kann. Die Alternativlosigkeit der geltenden Wirklichkeits-Behauptung erstickt einen. Danke Du da vorn, danke, dass Du das Fenster aufmachst!

Eine andere Art, auf die Welt zu schauen
Die Kirche mit ihrer traditionellen Sprache (wo sie diese noch pflegt) gilt heute als «Subkultur», sie wird in den Auseinandersetzungen nicht mehr zu Rate gezogen. Und doch bewahrt sie in ihren Altertümern, in ihren Gebäuden, Institutionen und Sprachformen noch eine andere Art, auf die Welt zu schauen und das Leben zu begreifen. So könnte sie eben doch für die Auseinandersetzungen der Zeit etwas beitragen, wenn man es nur zur Kenntnis nehmen wollte.

Meine Frage zielt auf die heutige Welt, das immer engere Zusammenziehen, der immer grössere Reichtum an einigen Spots der Welt und das Ausbluten ganzer Regionen. Die internationale Verflechtung hat den Prozess ungeheuer dynamisiert. Es sind exponentielle Kurven. Sie wachsen mit kurzer Verdoppelungszeit. Darum steigen sie steil an. In den Graphiken wird immer nur ein Ausschnitt wiedergegeben, aber eine Verdopplung von 20 Jahren heisst, dass in den nächsten 20 Jahren so viel produziert, verbraucht, zerstört wird wie seit Beginn der Menschheit bis heute.

Intuitionen
Die Wirklichkeitserfahrung, wie sie sich in der Bibel abzeichnet gehört zu einer anderen Welt, zu einer anderen Weltsicht. Es widerspiegelt eine ganz andere Art, die Wirklichkeit zu erfahren und zu begreifen. Gegenüber der heutigen säkularisierten Welt würde man zuerst sagen: es ist eine religiöse Sicht. Aber mir geht es noch nicht einmal um Gott und den Gottesbegriff, oder noch nicht an erste Stelle.

Am Anfang meines Mich-Fremd-Fühlens in der heutigen Welt und meines Mich-Zuhause-Fühlens in der biblischen Welt steht etwas anderes: dass die alte Welt durchlässig ist für die grossen Intuitionen. Die Art, wie von Welt und Leben gesprochen wird, widerspiegelt die denk- und lebensnotwendigen Intuitionen, die wir haben müssen, wenn ein Mensch sich als Subjekt konstituieren will, wenn er seine psychische Gesundheit aufrechterhalten will und wenn die Gemeinschaft in Treu und Glauben zusammenleben will. Das Zielbild ist – religiös gesprochen – das Reich Gottes, ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit.

Warum will ich also über «Wirklichkeit» nachdenken? Ich möchte die biblische Wirklichkeits-Erfahrung der heutigen Sicht entgegenhalten. Weil ich dort etwas aufbewahrt sehe, was in der dominierenden Kultur verloren gegangen ist. Vielleicht ist es ja noch da, aber es ist hinunter gerutscht, wird vom Licht der Aufmerksamkeit nicht mehr beleuchtet, ist vergessen gegangen, auch wenn es als Lebensquell hinter der ganzen abendländischen Kultur steckt, auch wenn es die Erfahrungsform ist für das, was das abstrakte juristische Denken «Rechtsstaat» nennt, was aber nicht zum Leben kommt, wenn es keine Existenzform findet, durch die es von handelnden Subjekten internalisiert und in Handeln umgesetzt werden kann. So wundert man sich, warum wachsende Gruppen sich gegen die Normen verhalten, die sie offenbar gar nicht aufgenommen haben.

Raubbau an der Vergangenheit
Diese Welt lebt nicht nur in Bezug auf die natürlichen Ressourcen von der Vergangenheit, sie beutet die Lagerstätten aus und kann sie nicht ersetzen. Das gilt auch in Bezug auf die kulturellen Ressourcen, auch hier lebt die heute Gesellschaft und Wirtschaft von Ressourcen, die unter einer anderen kulturellen Daseinsform entstanden sind. Und da sie heute, unter den Bedingungen, wie Menschen heute leben, nicht reproduziert werden können, werden sie ausgebeutet wie natürliche Bodenschätze.

Das Wichtigste davon ist vielleicht «Treu und Glauben», wenn darunter nicht nur ein Rechtsgrundsatz verstanden wird, sondern eine Gesellschaft, die tatsächlich danach funktioniert, weil sie in einem Gleichgewicht steht, weil Chancen offen verteilt sind, weil Lebenshoffnungen nicht beschnitten werden. Weil die Menschen nicht versuchen, sich durch Gewalt zu holen, was durch Arbeit und legale Mühen nicht zu finden ist.

Welt erzählen

Heute wächst die Einsicht, dass Wirklichkeit nicht einfach gegeben ist. Sie kann auf verschiedene Weise aufgespannt werden, wie ein Netz, das Fäden verknüpft, Knoten macht, Erkenntnisse ermöglicht, Handlungen in Gang bringt, das Gefühl von Schönheit zur Sprache bringt.

Die Bibel wird in diesem Gespräch nicht beachtet, das scheint ein Thema für Ewiggestrige, die intellektuell nicht ernst genommen werden müssen. In der Bibel zeichnen sich verschiedene Wirklichkeits-Auffassungen ab. Das Neue Testament erzählt vom Kommen Gottes in die Welt. Das ist ein derart fundamentaler Prozess, dass die Grundkategorien des Welt-Erzählens in Bewegung kommen. Das zeigt sich auch im Kirchenjahr. Im Lauf eines Jahres feiert die Kirche den Weg Jesu, sein Kommen in die Welt, sein Sterben und Auferstehen, seine Auffahrt und sein Wiederkommen am «Ende» der Zeit. Die Spanne zwischen «Anfang» und «Ende» der Welt wird hier erfasst und erzählt.

Das Wunder der Wirklichkeit

Wer der Bibel folgt, stösst auf widersprüchliche Bilder von Wirklichkeit. Extrem ist das im Kirchenjahr, das in seinen Feiern drei grundverschiedene Bilder von Wirklichkeitserfahrung durchläuft, während sie auf den ersten Blick einfach dem Schicksal von Jesus Christus folgen (Weihnacht: Geburt, Karfreitag: Tod, Ostern: Auferstehung). Aber spätestens bei Auferstehung zeigt sich, dass hier ein grösseres Bild von Wirklichkeit gemalt wird. Und es ist nicht so, dass das nur an Ostern so wäre, dass Geburt, Leben und Tod ohne Zuhilfenahme von metaphysischen Bildern auskämen. So sieht es nur aus für eine Lektüre, die zum vornherein die biblischen Kategorien auf «historische» Aussagen reduziert und darum bei der «Auferstehung» anstösst.

In der Bibel wird an Weihnachten nicht ein Kind geboren, sondern Gott kommt zur Welt. An Karfreitag stirbt nicht ein Mensch, sondern der Sohn Gottes wir gekreuzigt, er versöhnt in Tod und Vergebung die Welt mit sich und schenkt neues Leben. Das zeigt sich an Ostern, das nicht einfach das Spektakel einer «philosophischen Hinterwelt» darstellt, sondern die Konsequenz ist von Karfreitag: dass die Menschen neu auf einander zugehen können, dass sie neu in den Stand der Unschuld treten, als ob sie neu zur Welt gekommen wären. Dass das Leben neu beginnt, dass Gott seine Schöpfung erneuert und erhält … Aber das ist dogmatische Sprache. Es ist das Wunder dieser Wirklichkeit, dass es sie «gibt» und dass sie andauert und immer wieder neu zu erfahren ist.

Geschichtsbetrachtung von unten

Die Bibel im Übergang vom alten zum neuen Testament steht in einer apokalyptischen Phase. «Apokalyptik» ist nicht v.a. eine Geschichtstheorie, sondern der Versuch, in einer Phase grosser historischer Leiderfahrungen eine Perspektive zu sehen, die Trost gibt und hilft, auszuhalten. Dazu wird mit Hilfe des Glaubens in die Zukunft gesehen, und man vertraut dabei auf die Zusage von Bewahrung und Vergebung. Lässt sich so nicht ein Hoffnungsfunke ausmachen?

Und doch ist Apokalyptik v.a. bekannt wegen ihrer düsteren Zukunftsbilder, wegen der Schecken, die sie ausmalt. Sie ist sogar in Verruf geraten, als ob sie das heraufbeschwören oder androhen würde. Aber die Schrecken hat sie nicht erfunden. Es ist ein Versuch, mit der Brutalität der Welt zurecht zu kommen und trotz der Erfahrung auf die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit Gottes zu vertrauen.

Versucht man, «Wirklichkeit» zu denken, steigen einem vielleicht zuerst Bilder aus dem antiken Griechenland auf. Dort ist Wirklichkeit etwas Zeitloses, Unbewegtes.  Und es ist völlig unvertraut, wenn man sich in die Bibel vertieft und realisiert, dass die Wirklichkeit dort selber in Bewegung ist und damit das Gesicht der Welt grundsätzlich verändert.

Die grossen Linien der Geschichte
Das Denkschema der Apokalyptik mit seinen aufeinander folgenden Weltzeitaltern oder Äonen ist entstanden aus zwei Quellen des biblischen Denkens. Da ist die lineare historische Zeit aus der Väter- und Volksgeschichte des ersten Testamentes. Der Stammvater Abraham empfängt eine Verheissung:

«Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum grossen Volk machen.» (Gen 12)

In einer Hungersnot flieht das Volk nach Ägypten, so wird erzählt. Es wird dort immer zahlreicher, weshalb der Pharao es bedrückt und niederhält. Schliesslich flieht es aus Ägypten und kommt in einem grossen «Exodus» ins «Gelobte Land».

Zyklen der Erfahrung
Dieses lineare Erzählen von Geschichte wird ergänzt von einem zyklischen Verstehen des Geschehens. Der alte Orient, die Umwelt des ersten Testaments, ist geprägt vom Leben in Flusstälern. Die grossen alten Kulturen sind in Flusstälern entstanden, sei das am Nil oder in Mesopotamien, am Indus oder am Gelben Fluss. Das Hauptereignis im alten Ägypten ist die jährliche Nilflut. Das Wasser steigt an, es befeuchtet und düngt den Boden, dann zieht es sich wieder zurück. Auch in anderen Flusstälern wird das mythologisch erzählt als Kampf mit dem Chaosdrachen. Die Schlange, der Drache, der Fluss, wird in einem Kampf zurückgehalten, damit die Flut nicht alles überschwemmt und zerstört. Und sie wird dank Mithilfe göttlicher Kräfte herbeigerufen, damit auch dieses Jahr wieder Wasser und Segen einkehren und das Leben weitertragen.

Im Chaoskampf wird das jährliche Ereignis von Flut und Erneuerung, aber auch von Tod und Zerstörung, mythologisch erzählt, so dass das Vertrauen zu göttlichen Kräften darin Platz hat und sie in Gebeten angerufen werden können. Es ist eine Konzeption von Wirklichkeit, wo religiöse und irdische Entitäten sich durchdringen.  Das wurde nicht nur erzählt und rituell begangen, man findet es auch immer wieder abgebildet, z.B. auf Rollsiegeln. Hier ist ein Verständnis von Wirklichkeit zu einem Text und zu einem Bild geworden und zu einem Ritus, der immer wieder aufgeführt wird und der die erfahrene Wirklichkeit beeinflussen soll.

Rituelle Gegenwart
Die Menschen, die sich Schöpfungs-Geschichte erzählen, verstehen diese nicht als Aussagen, wie es früher war. Es sind für sie Ursprungs-Geschichten. Mit diesen Geschichten wollen sie nicht von der Vergangenheit reden, sondern von der Gegenwart, davon, was die Welt trägt und aufrechterhält und was heute noch gilt.

Auch heute gibt es noch Völker, die sich Schöpfungs-Geschichten erzählen. Völkerkundler berichten davon. Wenn ein Mitglied des Stamms krank ist, kommt der Medizinmann, er erzählt vom Ursprung. Und er erzählt nicht nur, er führt einen Ritus auf. Da tauchen die Kräfte auf, die das Leben bedrohen, und die Kräfte, die es aufrechterhalten. Und der Kranke ist mitten in dieses Geschehen hineingestellt. Es ist nicht Vergangenheit, es ist Gegenwart. Was damals war und was heute ist, es ist gleiche Zeit. Denn die Kräfte sind damals und heute dieselben.

Zyklen und Linien durchdringen sich
In den Texten des späteren Alten Testamentes ist zu sehen, wie das lineare und das zyklische Denken in der Bibel sich begegnen und befruchten. Gott, der sein Volk durch die Geschichte führt, ist auch der Schöpfer und steht hinter den Kräften der Natur. So kann er Frieden und Gerechtigkeit «sprossen» lassen, dass sie wachsen wie Pflanzen, wenn er Regen kommt. Die Naturkraft wirkt sich auch in der Geschichte aus.

Umgekehrt folgen auch die Bilder, in denen Natur erlebt wird, nicht mehr nur dem zyklischen Auf und Ab der Jahreszeiten bzw. der Nilflut, auch die Naturereignisse folgen jetzt einer grösseren Logik, wie sie vom lineare Geschichtsdenken her bekannt ist.  Die jährlich erneuerte Nilflut und das Wiederaufleben der Natur im Niltal ist eine Folge von Schöpfungszyklen. Aber die Erinnerung an die verschiedenen Zyklen verbindet sich mit der Erinnerung an die Ereignisse, die in diesem Jahr hereinbrachen. Da gab es z.B. einen Einfall von Fremdvölkern, der wie die Flut über das Land hereinbrach. Die Naturflut nimmt als Bild die Erfahrung einer Überflutung durch eine fremde Gewalt auf.

Die Kulturen im «fruchtbaren Halbmond» Vorderasiens, wo sich Handels- und Heereswege bündeln, wurden immer wieder von den angrenzenden Grossreichen beeinflusst, bedrängt, unterjocht oder überfallen. Das lineare Denken hat die zyklische Erfahrung in sich aufgenommen. Die Epochen der Geschichte sind auch Phasen der Schöpfungsgeschichte. So unterstehen sie auch der Ordnungsmacht des Schöpfers, der eine neue Welt hervorrufen kann, so wie er eine Wüste wieder erblühen lassen kann. So kann er sein Volk, das dem Hunger nahe ist, speisen, indem er das Leben neu aufblühen lässt.

So folgen sich die Weltreiche wie Weltzeitalter, es sind Äonen und gehören zugleich der zyklischen Zeit an wie der linearen. Hier wird die Schöpfungskraft angesprochen und der in der Geschichte erfahrene Gott, der sein Volk in einem neuen Exodus aus dem Exil ins gelobte Land führen wird. So sieht der Prophet Daniel in den Weltreichen, die immer wieder auf Israel übergreifen, Weltzeitalter, die sich folgen wie Naturereignisse. Sie haben einen Anfang und einen Untergang. Und sie unterstehen einem Lenker, der Herr ist über Natur und Geschichte.

Weltzeitalter
Im Alten Orient wiederholt sich die Schöpfung mit jeder Nilflut. In der Verbindung mit der «linearen» historischen Erfahrung reduziert sich die Zahl der Schöpfungs-Epochen. So nutzt der Prophet Daniel das Schema, um die Abfolge von Grossreichen besser zu verstehen, sie kommen, brechen über das Land herein wie die Flut und gehen wieder unter. Bis am Ende Gott selbst eingreift und einen gesalbten Hönig schickt oder selber die Herrschaft übernimmt in einem endzeitlichen Reich Gottes.

«Du, o König, bist ein König der Könige, dem der Gott des Himmels das Königtum, die Macht, die Stärke und die Ehre gegeben hat. (…)  Nach dir aber wird ein anderes Reich aufkommen, geringer als du; und ein nachfolgendes drittes Königreich, das eherne, wird über die ganze Erde herrschen. Und ein viertes Königreich wird sein, so stark wie Eisen; ebenso wie Eisen alles zermalmt und zertrümmert, und wie Eisen alles zerschmettert, so wird es auch jene alle zermalmen und zerschmettern. (…)  Aber in den Tagen jener Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das in Ewigkeit nicht untergehen wird.» (Daniel 2: 37ff)

«Jetzt» und «dann»
In Apokalypsen jener Zeit kann man verschiedene Ausprägungen finden. Allmählich reduzierte sich die Zahl der Äonen auf zwei oder drei: da ist der alte Äon, die alte Zeit, die Zeit der Not, in der man lebt und das Wichtigste vermisst. Es kommt ein Herrscher von Gott her, der einen neuen Äon beginnen lässt, und es beginnt eine Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit. Im Neuen Testament hat diese Zeit mit Jesus begonnen, seine Auferstehung ist der Anfang der neuen Schöpfung. Und jeder hat daran Anteil, der an ihn glaubt und sich zu ihm bekennt. (Röm 10.9)

So hilft die Apokalyptik mit ihrem Denkschema, die Abfolge der Reiche und Fremdherrschaften zu verstehen, wichtiger noch, den Glauben an Gottes Wirken in der Geschichte nicht zu verlieren. Weniger wichtig, als alle möglichen Reiche in dieses Schema einzupassen, ist der Grundimpuls: diese Folge von historischen Ereignissen zu durchstossen und den Blick auf eine Wirklichkeit zu öffnen, die zwar noch nicht empirisch zu erfahren ist, die sich aber schon vorbereitet, die bei Gott in seiner Gnade schon beschlossen ist.

Das Christentum erkennt in Christus jenen neuen König, der von Gott herkommt und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit mit sich bringt. Voll wird es am Ende der Zeit erwartet, in einem zweiten Advent. Bei seiner ersten Ankunft scheint er gescheitert, er wurde verfolgt und am Kreuz getötet. Doch Gott hat den Unschuldigen nicht im Grab gelassen, er hat ihn auferweckt und erhöht. Er sitzt zur Rechten Gottes, von wo er kommen wird in einem zweiten Advent.

Ein Weltdrama
Das Kirchenjahr feiert den Weg Jesu in verschiedenen Festen. Dieses Einpassen von so disparaten Ereignissen wie Weihnacht, Karfreitag und Ostern in eine lineare Abfolge von Festen erzeugt den Eindruck, als ob sich alles auf einer Ebene abspielte. Hier wird aber das Erbe der Apokalyptik deutlich, die den Weltprozess in einem gewaltigen Drama sah, wo «Sterne vom Himmel fallen und der Mond seinen Schein verliert.» (Mk 13, 24ff)

Es ist die Wirklichkeit selbst, die hier in Bewegung gerät. Karfreitag, das steht für Tod, Untergang, das Ende der alten Schöpfung. Das ist die Jetztzeit, in der sich die Angesprochenen erkennen können, eine Zeit von Not und Tod, die keinen Ausweg mehr kennt, weil menschliche Kraft hier zu Ende ist. Ostern, das ist die neue Schöpfung, das neue Leben. (An Weihnachten wird der neue Äon schon angekündigt durch einen Stern und die Geburt eines neuen Königs.) Das ist das Ziel, das den Menschen zugesagt ist aus der Schöpferkraft Gottes. Er sucht das Verlorene, heilt das Kranke, er bückt sich zu den Gedemütigten, tröstet die Traurigen. Er berührt den Aussätzigen und er ist nicht mehr ausgesetzt, er ist wieder rein.

Ostern ist die Hoffnung, die Zusage, die Gemeinschaft, der neue Anfang. Hier wird die Erzählung der Welt umgekehrt. Es gibt eine neue Wirklichkeit. Die Welt ist nicht undurchdringlich, nicht unabänderbar. Es gibt eine neue Welt, eine neue Gemeinschaft in Frieden und Gerechtigkeit.

Wirklichkeitserfahrung in der Bibel

„Wirklichkeitserfahrung in der Bibel“, was soll das also sein? Die Wirklichkeit wird in der Bibel nicht statisch gedacht. Selbst Gott ist nicht unbewegt und unbeweglich. Die Wirklichkeit selbst ist in Bewegung, und sie hat einer Richtung auf Versöhnung und Erlösung. Es ist eine Erzählung, die die Intuitionen aufnimmt von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, und dass Anfänge nicht einfach abbrechen in Schuld und Leid.

Die Erzählung vom Reich Gottes gibt allem ein Gegenüber, die Welt ist sich nicht mehr selbst genug. Da ist eine Vollkommenheit, die das Leben und Handeln in dieser Welt anspornt, weil es ihm eine Richtung gibt und dem Gutgläubigen zeigt, dass ein Weltprozess an seiner Seite steht. Es ist aber auch ein Korrektiv, weil nichts, was der Mensch vermag, dieses Ziel erreichen kann. Es kommt von Gott her, es ist ein Gnadengeschenk, und es wird allen zuteil wie das Leben, das kein Mensch sich selber schenkt.

Wozu über Wirklichkeit nachdenken?
Ich kehre zum Anfang zurück. Wozu über Wirklichkeit nachdenken? Das hat zu tun mit der heutigen Welt, mit den heutigen Wirklichkeitsbegriffen, in denen ich mich offenbar nicht mehr heimisch fühle. Offenbar bringt es mir etwas, wenn ich die Bibel lese, wenn ich die Welt unter biblischen Bildern anschaue. Offenbar öffnet sich dort ein Raum den ich hier nicht habe, ein Vertrauen, das ich hier nicht mehr aufbringen kann. Ich finde dort Wege, wo ich gehen kann, die mir hier verstellt scheinen. Es ist ein anderes Daseins-Gefühl.

„Es ist, was es ist“
Die Welt wird unter Spannung gesetzt. Es ist eine dialektische Spannung von „Jetzt“ und „noch nicht“. Es ist das Gegenteil einer positivistischen Eindeutigkeit: „Was ist, das ist“. So bricht das Denken ab und die Hoffnung versandet.

Diese Spannung stammt nicht aus dem Verhältnis von „Welt“ und „Überwelt“, sondern aus dem Verhältnis von alt und neu. Es geht um Zukunft! Es ist nicht jene Zukunft, die die grossen Interessen und Machtträger zulassen und erlauben, wo schon alles eingefädelt und in Beschlag genommen ist, so dass für 90 Prozent nichts übrigbleibt. Die Zukunft kommt von Gott her, wenn das Reich Gottes einbricht und Heil und Gerechtigkeit mit sich bringt.

Wie lange noch?
Die Apokalypse ist keine Geschichtstheorie, sie wirft den Blick in die Zukunft und findet Trost im Vertrauen auf Gott. Es ist ein „Trostbüchlein“, wie es Jeremia an die Verbannten in Babylon geschickt hat: «Schreib dir alle Worte, die ich dir gesagt habe, in ein Buch! Denn seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn -, da wende ich das Geschick meines Volkes.“ (Jer 30,2)

„Wie lange noch?“ fragen auch die Geschundenen und Geplagten, die in der Offenbarung angesprochen werden (Off 20,10).

„Und ich sah: Das Lamm öffnete das sechste Siegel. Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand und der ganze Mond wurde wie Blut. Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt. Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, die man zusammenrollt, und alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt.» (Off 20,12ff)

 

Foto von Kayley Dlugos, Pexels