Innen und Aussen

Vorwort

Dieser Text kommt daher wie ein Stein, er wirkt abweisend wie ein Gestrüpp.

Damit schütze ich ihn vor mir selbst. Ich fürchte Ablehnung, will gefallen – schon neige ich mich nach links und rechts und schreibe krumme Zeilen.

Darum setz ich mich auch nicht hin, um ein „Buch“ zu schreiben. Ich folge den Texten, die sich angesammelt haben in meinem Leben. Sie wissen nichts von dem Titel, sie wollen nichts beweisen und haben ihr Unschuld bewahrt. So kann ich sie nachträglich befragen, was es denn damit auf sich habe: mit innen und aussen, was das ausbringen soll an Erkenntnis. Lässt sich das Leben besser verstehen?

Es sind jedenfalls spannende Fragen. Irgendwann ist mir aufgegangen, dass das in meinen Texten, im Tagebuch, in beruflichen Texten auftaucht, und dass da etwas dranhängt. Darum nahm ich, als ich pensioniert wurde, einige Texte, die ich mit einer Suchmaschine fand, indem ich das Wort „aussen“ eingab, und stellte sie zusammen.

Das Ergebnis liegt hier vor.  Es war spannend für mich, einem (meinem) Lebenslauf zu folgen unter diesem Blickwinkel. Im Nachwort nahm ich das Bewusstsein dazu, das ich bei der Sammlung der Texte ausschalten wollte, und begann, die Texte zu befragen. Was sagt das nun aus über ein Leben, wenn man ihm „innen“ und „aussen“ folgt? Was zeichnet sich ab, was sich mit anderen Fragestellungen nicht so leicht finden liesse? Und Fragen gibt es ja genug, jede Wissenschaft hat eigene Fragen, eine eigene Neugier.

Gern würde ich einen Namen unter dieses Vorwort setzen. Das Buch wäre dann kein Stein mehr. Der Autor wäre gefällig, die Angst vor Ablehnung käme zurück. Ich verlöre mich im Gestrüpp der Erwartungen, denen ich immer schon gefolgt bin, bis ich nicht mehr wusste, was es denn ist, um das es geht im Leben.

XY

 

«Meine Psyche enthält das Labyrinth in sich. Darum ist nichts verloren, egal, ob ich zuerst ins Zentrum vorstosse oder aussen herum gehe.

Ich muss wohl alle Wege in diesem Labyrinth abschreiten. Also ärgere Dich nicht um ein vertanes Leben. Es ist immer ganz und eins. Auch wenn ich nur die Bruchstücke sehe, auch wenn es mir in der Mitte zerbricht.

Aber die Mitte ist da, und ich kann mich hineinstellen. Und dort erfahre ich das Ganze. Dort ist Gegenwart und Schauen. Dort zeigt Gott dem Moses das gelobte Land.

6. Juli 2013

 

 

Kurzes Inhaltsverzeichnis

 

Afrika oder der Weg nach innen. 4

Ich kann nicht stillhalten. 6

Der Traum.. 19

In Blaubarts Zimmer 28

«Suchweg der Seele». 34

Im Labyrinth. 45

Der Innere Altar 52

Innen und Aussen. 63

Vom Umrunden des Berges. 78

Neue Infragestellung. 92

Weltinnenraum.. 103

Das Leben besichtigen. 121

Nachwort 123

 

 

Afrika oder der Weg nach innen

 

  1. Oktober 1991

Zurück von einer Wanderwoche im Jura. Meist kamen wir am Regen vorbei. Auf dem Weg nach St. Ursanne mussten wir mehrmals umsteigen, mit schlechten Verbindungen. In Delémont hatten wir Zwischenhalt. Wir hasten beim Regen über die Strasse zu einem Café, um dort die Zeit zu überbrücken.

Zunächst scheint es, als ob wir in eine enge Welt eingedrungen seien. An einem freigewordenen Tisch räumt die Serviertochter das Geschirr weg. Sie unterhält sich mit dem Mädchen am Buffet. Der Geruch von Kaffee, die Geräusche erinnern mich.

 

Zauber
Das ist wie im Tea-Room meiner Eltern! Wie damals, als ich ein kleiner Junge war! Die Serviertochter wäre mir nicht fremd wie jetzt, wo ich als Tourist dasitze, an „Tisch drei“. Sie würde mir ein Lächeln schenken oder auch nicht, ich würde jedenfalls dazugehören: zu dieser Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die „Tea-Room“ heisst.

Eigentlich ist es wie damals, diese jetzige Zeit ist nicht zum vornherein abqualifiziert, weil sie nicht mehr zur Kindheit gehört und zu den goldenen Tagen. Sie hat noch die Offenheit, zu einer Kindheitszeit zu werden: für Kinder, die kommen, für jeden, der offen ist, sie zu leben wie ein Kind – aufnahmefähig, prägefähig, offen, empfindsam, neugierig auf sie zugehend.

Die vertrauten Verrichtungen, die bekannten Geräusche – als ob die Zeit aufgehoben wäre. „Le Café mystique et plastique“ sage ich später zu Antonia und frage sie, ob sie sich vorstellen könnte, statt Frau eines Pfarrers zu werden ein Café zu führen.

 

Zeit-Maschine
Diese Gegenwart hat eine Tür zur Kindheit, aber – als Gegenwart – auch eine Tür zu mir. Diese Verbindungstür möchte ich finden! Ich will nicht in die Kindheit zurück, sondern in die Gegenwart – aber so, wie ich in der Kindheit fähig war, Gegenwart zu leben.

 

 

Ich möchte in der Jetzt-Zeit leben. Die Kindheit der Erinnerung ist ein Modell behüteten Lebens – die Eltern lebten noch, die Familie war beisammen. Ein solches Modell besteht in einem verkleinerten Massstab, daher ist es ein „Modell“, nicht die Wirklichkeit selbst. Paradox: Ich gehe in das Modell hinein, in die Vergangenheit – und ich lande in der Gegenwart. Je tiefer ich ins Modell hineingehe, desto grösser wird es – bis es Massstab eins zu eins ist. Ich bin ganz eingetaucht, wie damals, oder umgekehrt: Was war, ist jetzt. Ich lebe mit demselben Gefühl, mit derselben Wachheit – mit demselben unenttäuschten Vertrauen.

Ich möchte umblättern, wieder anknüpfen, einen dicken Strich ziehen – nicht neu anfangen, sondern weiterfahren wo ich schon mal war – einfach sein. Dass das Leben wieder „Poesie“ enthält, auch im Schrecklichen. Poesie nicht als Anschein von heiler Welt. Aber auch nicht jene furchtbar biedere Sicht der Welt, die alles in Schuldbewusstsein taucht – die angebliche Allverantwortung, Allzuständigkeit, die doch nur lähmt und sich nur in Verdrängung retten kann, das Gegenprinzip von „Poesie“.

 

Mein letzter „Aufbruch“, das war in Bern, als ich die Arbeit im zweiten Beruf aufnahm und den Schock etwas überwunden hatte: die Scheidung, das Misstrauen, den Misserfolg bei der ersten Stelle. Ich wollte „zeigen, dass ich‘s kann“. Als es so weit war, als ich das Gefühl hatte, ich hätte genug „Karriere“ gemacht, ging die Motivation verloren. Die Sklaverei war zu Ende. Und das Interesse wandte sich nach innen. Es war wie eine andere Türe, die aufging.

Ben aus der WG fuhr mit seiner Freundin per LKW durch Italien nach Afrika. Ich teilte seine Unternehmungslust, aber ich fuhr nicht mit. Ich machte mich auf eine Reise in die Vergangenheit – oder in das, was sich innerlich bei mir anmeldete, was angesehen werden wollte.

 

 

Ich kann nicht stillhalten

 

  1. Juli 1983

Es sind Ferien. Aber ich habe nicht die Ruhe, mich hinzusetzen, mein Leben auszubreiten und alles anzuschauen. Morgens wälze ich mich im Bett, um die verantwortete Zeit hinauszuschieben, bis der Mechanismus des Morgenessens und Aufstehens das Strukturieren und die „Verantwortung“ übernimmt. (Habe ich Angst, meinen grossen Anforderungen nicht genügen zu können?).

Dann ist es bald Mittag, ich stelle mich dem bürgerlichen Tag. Jetzt ist Pause, bald gehen die Büros wieder auf. Es ist Zeit, dieses oder jenes zu tun. Ich lasse mir die Struktur von aussen geben, noch schlimmer, ich rette mich in diese Fremdbestimmung, weil ich fühle, die Verantwortung freier Entscheidung nicht tragen zu können, mich als Versager fühlen zu müssen, wenn nichts dabei herauskommt.

Und bald ist es Abend, eine emotionell aufgeladene Tageszeit, in der Sehsüchte und Ängste erwachen, wo der Sog zwanghafter Empfindungen und Reaktionsweisen noch viel stärker ist. Lähmt mich am Morgen die Angst vor der Verantwortung, so ist es am Abend der Zwang, Anschluss zu finden.

Es ist aber gut, dass ich dieses Experiment mache: Ich habe vieles über mich erfahren, was ich nicht wusste oder längst gelöst glaubte. In Gesprächen taucht es etwa auf in dem typischen Satz: „Ja, das hat mir früher auch grosse Mühe gemacht“. Vor allem die Rolle der Ängste ist geradezu phänomenal. Dass ich bei solchen Korsetts und Zwangsjacken überhaupt noch atmen kann! Mit solchen Fussangeln und Abgründen kann man nicht gerade gehen, nur verkrüppelt humpeln. Und so was träumt von autonomer Lebensgestaltung!

 

 

Sieht aus wie Autonomie

 

  1. April 1985

„Das Gegenteil der Angst ist nicht Sicherheit, sondern Vertrauen“ (Luther). Aber Angst will Sicherheit. Sie kann nicht vertrauen, sich hingeben, glauben. Es ist „unechte Autonomie“, weil es von aussen aussieht, als ob dieser Mensch sein Leben „im Griff“ hätte. Er vertraut nur sich selber, ist seines Glückes Schmid. Aber es ist eine zwanghafte Autarkie, weil Schwäche zu zeigen ihn an traumatische Verletzungen erinnert und die Angst, verlassen zu werden, neu belebt.

So löst die Glaubenszumutung geradezu Panik bei ihm aus. Und ein Weg in den Glauben würde für ihn zu einer Geisterbahn, in deren Verlauf er allen Gespenstern seines bisherigen Lebens begegnen würde. Wenn er das nicht passiv erleiden wollte, so dass er immer wieder, im dümmsten Moment, wenn er in einer Sitzung ist, wenn er vor Menschen reden soll, wenn er als Mann auf eine Frau zugehen will, von seinen Ängsten überfallen wird, dann müsste er aktiv seine Ängste aufsuchen.

Denn schlimmer noch als die Ängste ist das Angstabwehr-Verhalten, das er seit frühester Kindheit eingeübt hat, so dass es ihm gar nicht mehr bewusst ist. Aber bevor er die Hand ausstreckt, hat es schon gehandelt, bevor er den Mund aufmacht, hat sich schon etwas mitgeteilt, bevor er selber sich überlegt, was er denn eigentlich will und was er tun soll, ist die Situation schon bereinigt. Er fand die Worte nicht in der Sitzung, er war blockiert, und die Hand, die schon ausgestreckt war zu der Frau hin, sie bleibt in der Luft stehen, die Geste kommt nicht ans Ziel.

Die Angst-Abwehr-Mechanismen lassen nichts aus. Sie schützen ihn und haben ihn ganz umgeben wie mit einem Panzer. Dazu gehört schon die Wahrnehmung. Er kann die Situation gar nicht mehr unbefangen wahrnehmen. Er sieht sie im Licht seiner Ängste. Da ist Bedrohung, da ist Konkurrenz. Und selbst, wenn Menschen ihm Akzeptanz und Respekt entgegenbringen, es kommt bei ihm nicht an. Er denkt, sie seien „auf ihn reingefallen“, eines Tages würden sie schon noch herausfinden, wer er sei. Und dann komme die „verdiente“ Strafe. So sehr hat er sich schon selber verraten.

 

«Dableiben»

So wäre es das Erste, wenn er sich wiedergewinnen will, so wäre es das Wichtigste, wenn sein Leben eine gute Wendung nehmen soll, dass er nur einmal lernt, standzuhalten, nicht wegzugehen, sich selber nicht zu verraten und die Ansprüche für ein ganzes und volles Leben. Jetzt steckt das nur noch in der Enttäuschung, die er empfindet, wenn er abends nach Hause kommt. In seinem Bewusstsein hat er den Anspruch aufgegeben. Denn so etwas verdient er doch nicht, oder? So steckt es nur noch in den Rückenschmerzen, weil der Kopf ihn schon verraten hat. Und die Schmerzen mahnen ihn beharrlich: Nein, er möchte ein Leben ohne Schmerzen. Nein, er möchte ein ganzes Leben. Anders geht es gar nicht! Ohne die Zuversicht, dass das Leben gelingt, kann man es nicht führen. Ohne die Garantie, dass es am Schluss ankommt, ist schon der erste Schritt nicht möglich.

Dann mache dich auf den Weg. Suche deine Ängste auf. Dass sie dir nicht weiterhin in den Rücken fallen. Schau dem ins Gesicht, was dir im Nacken sitzt. Und mache dich gefasst: auch das Allerschlimmste, was du dir gar nicht vorstellen kannst, das „Loch“, das alles verschlingt, wo das Denken aufhört und die Panik anfängt – es sieht bei jedem anders aus – auch das wird dir begegnen.

Aber dort im Grenzgebiet, wo du die Kontrolle aufgibst, dort am Fluss, wo du spürst, dass du nur auf die andere Seite kommst, wenn du dich anvertraust, dort wird dir das begegnen, was du brauchst. Und diese Zuversicht kannst du wie einen Segen mit dir nehmen, wenn du dich auf diesen Weg machst: „ich finde, was ich brauche.“

 

 

Dumm und leer werden

 

  1. August 1987

Ich stelle das Telefon auf Beantworter und schliesse das Geschäft – zögernd, als sollte ich noch was erledigen; aber es gibt nichts mehr zu tun. In der Fussgänger-Unterführung ertappe ich mich, wie ich den Schritt beschleunigen will. – Wozu denn, ich habe doch Feierabend? Das Weggehen hinterlässt ein schlechtes Gewissen, als Reaktion verfalle ich in Geschäftigkeit, in die Hülle der Geschäftigkeit, denn es gibt nichts mehr zu tun. Dieser Arbeitstag ist vorbei. Ich versuche, mich los zu schütteln und gehe weiter, zum Bus, um nach Hause zu fahren. Mein Atem geht flach, bewusst ziehe ich den Atem ein. Ich darf einatmen.

 

Die Menschen verunsichern mich. Ich möchte ihnen sicher und ruhig entgegengehen. Ich will ganz im Augenblick leben, um auf jeden zugehen zu können, jeden annehmen zu können. Aber ich fühle mich selber nicht, wie ich sollte. Es ist, als ob ich auf einem Seil balancierte. Nur schon, dass einer mir in der Unterführung entgegenkommt, verunsichert mich, als ob er mir auf demselben Seil entgegen käme und für mich kein Weg mehr wäre. Ich halte den Schritt zurück, weiche aus und verunsichere damit den Entgegenkommenden, der auch ausweicht, so dass wir uns wieder in die Quere kommen.

 

Ich bin verunsichert. Wenn mein Bürokollege mit mir plaudert, kann ich ihm nicht ruhig zuhören, ab und zu etwas entgegen, wie es gerade so kommt. Ich bin mir seltsam meiner selber bewusst, als ob ich mich selber von aussen beobachtete.

Ich versuche, eine Pose zu finden, um ihm zuzuhören, versuche, die Unschuld eines Zuhörers zu finden. Aber ich spiele sie ja, ich spiele das Ungespielte. Ich kann nicht in der Situation aufgehen, ich weiss um die Situation und fürchte, er bemerkt es. Ich bin sicher, dass er es bemerkt. Er findet mich sicher doof, naiv, beschränkt. „Der ist seltsam, nicht ganz gebacken. Die Arbeit ist nichts Besonderes, die er macht; dazu ist er ein komischer Kauz.“

 

 

Ich habe das Gefühl, nicht zu genügen, so werde ich ein «Braves Kind». Ich höre besonders brav zu, mache Konversation. Was denke ich selber? Weiss nicht, ich bin nur Ohr, nur Stichwort-Lieferant, versuche, doch ab und zu etwas Eigenständiges einzuwerfen, damit es echt wirkt, aber gerade dadurch ist es unecht. Alles Pappe, Plastik, Fassade, Kulisse.

So lässt mich Gott die Demut lernen. Ganz dumm und leer werden. Ich versuche, sie anzunehmen, wenn ich mir meiner Situation bewusst werde. Ich mache nichts mehr richtig, weder mein Studium noch eine Arbeit. Ich möchte beides gut machen. Ich habe viele Ideen. Gerade so habe ich immer gewusst, mir Anerkennung zu verschaffen, mir Achtung und Selbstachtung zu holen. Jetzt ist alles abgeschnitten.

Wenn ich lernen soll, wirklich aus dem Vertrauen auf Gott zu leben und nicht im Verlass auf meine Tricks und Schlichen, mir Sicherheit zu verschaffen, dann muss dieser Halt mir aus der Hand genommen werden. Dann muss ich dieses Geländer los lassen: den Halt des „tüchtigen Mitarbeiters“, des geschätzten und etwas gefürchteten Kollegen, der mit seinen Anstrengungen die Konkurrenz-Normen hoch schraubt. Dann muss ich leben und lachen und auf Menschen zugehen lernen, auch wenn ich nicht der bewunderte „gescheite Kopf“ bin, der dieses und jedes weiss etc.

Ich bin verunsichert, kann nicht lachen, nicht Konversation treiben. In der Unterführung verunsichern mich die Entgegenkommenden, als ob sie mir den Weg auf einem Seil abschnitten. Aber diesen Weg will ich annehmen.

 

Ich will dumm und leer werden, ohne „ausgezeichnete Ideen“, ohne „geschätzte Beiträge“, ohne gefürchtete Alleingänge. Ich will die Impulse verpuffen lassen, die mich antreiben, geschäftig etwas in die Hand zu nehmen, eine „unerhörte Idee“ zu verfolgen… Ich will das Image tragen, das Bild eines dummen, beschränkten und naiven Mannes, der offenbar doch nicht so viel taugt, wie es der ihm vorauseilende Ruf meinte, eine Enttäuschung, eine Niete. ‘Und wenn der in dem Alter noch studiert, so liegt das wohl nur daran, dass er mit seinem Leben nicht zurechtkommt, ein Trick, um sich wichtig zu machen…’

 

 

Wenn dieses Sicherheitsstreben mich noch von Gott trennt; wenn es mich immer wieder zurückzucken lässt; wenn es mich immer wieder Halt an jenem Geländer suchen lässt, wo es doch darauf ankäme, endlich los zu lassen, mich Gott anzuvertrauen, mit Gott ernst zu machen, nicht nur vom Glauben zu reden, sondern so zu leben, ALS OB ES DIESEN GOTT TATSÄCHLICH GÄBE. Dann muss ich genau diesen Reflex verlernen. Dann muss die Hand einsam in der Luft stehen bleiben, die nach dem Geländer sucht.

Dann muss ich es ertragen, wenn ich in der Unterführung nur flach atmen kann, als ob es mir nicht erlaubt wäre, den Atem einzuziehen wie ein vollwertiger Mensch, weil ich mich in der Arbeit heute nicht als „kleines Genie“ entpuppt habe.

Dann muss ich haargenau diesen Weg gehen, auf dem ich jetzt stehe – nicht um aus dem Unbehagen auszubrechen, um das Gefühl, dass ich nichts mehr richtig mache, weder studieren noch arbeiten, zum Anlass zu nehmen, jetzt erst recht ins Zeug zu liegen… Dann muss ich loslassen, das Verdikt annehmen: Ja, ich bin nichts besonders. Ich könnte vielleicht etwas Wind machen, Erfolgs-Wind, aber das ist nichts Besonderes. Gebe ich es doch lieber gleich zu: Ich bin der, als den ihr mich seht, sogar der, als den ihr mich sehen wollt, wenn ihr mir schlecht gesinnt seid, wenn ihr auf mich herabsehen wollt, um von euch selber eine bessere Meinung zu haben…

 

Herablassung zum Glauben

Ich will glauben und es doch nicht nötig haben. Ich will nicht als Bettler zu Gott kommen, eher als Gleichgestellter auf Staatsbesuch. Ich will tüchtig sein, von meinem Wert überzeugt, meinem unabhängig von ihm geltenden Wert.

Dann will ich mich herablassen und glauben.

 

Jetzt habe ich eine Gelegenheit, dumm zu werden, jetzt ist Gelegenheit, mich auszuliefern, abhängig zu werden, gefährdet. Jetzt kann ich erproben, ob ich tatsächlich leben kann – mit nichts in der Hand als – Vertrauen.

 

 

Jetzt steigt alles auf, was Angst macht, was Angst bändigen kann, was Sicherheit gibt, einen Geländer-Griff. Jetzt stellt sich die Situation schrecklich dar: “Dann hält er mich ja für einen Dummkopf! Dann denken sie vielleicht, ich sei gar nicht ein so wertvoller Mitarbeiter! Dann triumphieren vielleicht meine alten Neider, dass jetzt endlich für alle offenbar ist, zu was ich tauge!“ Dann bricht alles zusammen.“

 

Dann kann ich selber nicht mehr an mich glauben. Denn wie soll ich an mich glauben, wenn ich das Leben verfehle? Wenn die Arbeit nichts taugt, die ich mache? Früher konnte ich mich wenigstens fallen lassen und auf meinen „eigentlichen Interessegebieten“ etwas leisten, was mir in meinen Augen Wert verlieh und das Gefühl gab, das Leben nicht umsonst zu leben.

 

Jetzt ist mir auch dieser Weg abgeschnitten. Ich stecke in einem Nirgendwo, wenn ich da vor meinem Kollegen sitze und versuche, ein idealer Zuhörer zu werden. Ich weiss selber nicht mehr, was ich denke. Ich bin nur Kulisse für ihn, alles um mich ist Papier. Ich weiss selber nicht mehr, was ich denke, ich habe mich selber verloren.

 

Und wieder will ich mich verlieren. Ist es Gott, der mich diesen Weg führt? Es ist der Weg, der zu Gott führt. Für mich ist es dieser Weg. Mein Weg musste mich einmal durch dieses Tal führen. Wer so abhängig ist, sich seine Selbstachtung und das Gefühl des Wertes über seine Leistung und die Anerkennung durch andere zu sichern, der muss durch das Erlebnis des Unwertes und der Selbstverachtung hindurch gehen, wenn er das alles loslassen will, um etwas Neues zu lernen: Vertrauen.

 

Sonst rede ich immer nur von Gott, aber ich lebe, als ob es diesen GOTT NICHT GÄBE! Will ich leben, ohne Gott erfahren zu haben? Will Gott mich leben lassen als einen, der immer davon läuft? Ich will dumm und leer und abhängig werden. Ich bin nichts und niemand. Gott, hilf mir!

 

 

Aus der Deckung kommen

 

  1. März 1990

Meine Verwirrung zeigt, dass ich mich einem neuralgischen Punkt nähere: Ich will Dinge versuchen, die ich nach verletzenden Versagens-Erfahrungen jahrzehntelang umgangen habe. Jetzt könnte ich in meine Ängste hineingehen, Grenzen abbauen, neue Freiheitsbereiche erobern. Andererseits mobilisiert das eine (für Aussenstehende völlig unproportionale) Versagensangst. Sie wundern sich über das Verhalten eines erwachsenen Mannes, der sich so gar nichts zuzutrauen scheint. Doch in mir ist alles Zittern und wie „Gelée“. „Nur weg von hier…!“ Vorderhand tue ich weder das eine noch das andere. Das ist der Ort der Verwirrung und Ungewissheit!

 

Wenn

In der Prüfungsvorbereitung erhielt ich einen Hinweis auf eine Stelle im Journalismus. Ich griff danach wie nach einer erlösenden Hand. Eine berufliche Zukunft: fertig mit dem dauernden Zittern und Zagen (ob ich allenfalls doch versuchen sollte, in einem kirchlich-praktischen Beruf tätig zu werden, da mir das mit zunehmendem Studium nun ja offenstehen würde).

Nach der Prüfung sah es wieder ganz anders aus. Ich praktizierte, was ich dort erlebt hatte: In der absurden Übersteigerung des „Wenn“, unter das ich mich mit der Prüfung gestellt hatte („wenn“ ich das erst bestanden habe…, „wenn“ ich nur bestehe…, „wenn“ das mal vorbei ist…) entstand unübersehbar die Einsicht, dass alles Wichtige ohne „Wenn“ formuliert wird.

Der Kontrast war derart lachhaft (dass ich als 40Jähriger nochmals die Schulbank drücke und mehr Angst vor der Schulprüfung habe als ein Primarschüler), dass hinter allem „Wenn“, hinter aller scheinbaren Bedingung dafür, dass ich „endlich“ das Wichtige und Richtige tun könne, unüberhörbar meine Entscheidung sichtbar wurde, meine Verantwortung hervortrat in all der scheinbaren Fremdbestimmung…

 

 

Ohne Wenn

Nach der Prüfung also versuchte ich, aus diesem „Hier und Jetzt“ zu leben. Ich machte mich auf, ging auf Menschen zu. Und was sich ereignete, gab dem „hier und jetzt“ recht. So habe ich mich orientiert, wie die zweite Studienhälfte aussehen könnte. Nun wage ich vielleicht doch noch, zu der Faszination zu stehen, die jene praktischen Teile auf mich ausüben, denen ich mit meinen journalistischen Plänen aus dem Weg gehen wollte. Das hiesse jetzt also: Praktika absolvieren, mich aussetzen, hervortreten. Die ersten neuen Kontakte zur Kirchgemeinde haben bereits zu einer Anfrage geführt, ob ich mich nicht für die Kirchenpflege wählen lassen wolle. Jetzt rückt es mir auf die Pelle.

Damit nähern sich aber auch jene sozialen Rollenfelder, die ich nie auszufüllen gelernt habe, wo ich früher nur traumatisierende Grenz- und Versagens-Erfahrungen gesammelt habe: vor vielen Menschen stehen, sie ansprechen, Ruhe bewahren, einen sozialen Ablauf gliedern…

 

Jetzt gilt es!

Ich muss mich an das Seil binden, das ich selber geknüpft habe: meine Einsichten, wie ich das Leben zum Gelingen bringen kann, obwohl ich täglich mein Scheitern erlebe – im Vertrauen, im Hier und Jetzt. Gott lebt, hier und jetzt. (Ich muss es mir in der Angst vorsagen wie eine Formel; bis ich mich hineinfinde). Ich kann auf ihn vertrauen und das tun, was ich als richtig erkannt habe.

 

Das ist der heilige Augenblick und der Ort, an dem Gott erscheint. Die Angst will alles in ein fahles Licht tauchen, aber das Licht seiner Gegenwart ist heller. Hier ist Heil; kein Wenn und Aber. Hier ist alles in Gelingen getaucht. Meine Angst will, was mich bedroht, auf das Gegenüber projizieren. Aber Gott will in ihm erscheinen, er löst alle Angst. Gott blickt auf mich – in seinem Blick wird alles heil, in seinem Blick wird die Welt, wie sie von ihm gedacht ist. In ihm kommt sie in sich selbst an. Das ist Ankunft, Advent, Epiphanie. „Ich wusste nicht, dass dieser Ort heilig ist“. „Das ist heiliger Boden, zieh deine Schuhe aus“. „Hier ist das Haus des Herrn“ – hier die Himmelsleiter, auf der Engel auf- und niedersteigen. Eine tiefe Ruhe breitet sich aus.

 

 

Im Innern gespalten

 

  1. August 1990

Warum bin ich immer blockiert? Warum komme ich nie zu einer Handlung?

Im Halbschlaf hatte ich ein „Aha-Erlebnis“: Es sind nicht einzelne Widerstände, die ich nach und nach abbauen könnte, sodass ich immer näher zur Handlungsfähigkeit gelangte. Meine Widerstände zielen auf das Handeln selbst.

Durch eine Tat würde ich sichtbar, ich würde mich offenbaren, Profil zeigen. Ich wäre definierbar, müsste den Schutz der Unerkennbarkeit verlassen, den Bunker und den Unterstand, den Graben, das Bombenloch, in dem es nur Schlammpfützen gibt. Da möchte man nicht wohnen, aber das ist immer noch besser als „hinaus“ zu müssen, wo die Kugeln pfeifen, wo sich Visiere auf jeden richten, der sich zeigt.

 

Ich würde einen Konflikt riskieren. – Aber Konflikte kenne ich doch schon, ich bin voller Konflikte, mein Leben ist nichts als ein Versuch, meine Konflikte so auszubalancieren, dass ich gerade noch in der Gesellschaft mitschlüpfen kann, ohne doch so standfest darin zu werden, dass ich Verantwortung übernehmen muss – dann würde ich nämlich sichtbar!

 

Tanz auf der Grenze

Ist das gewollt? – Ist meine angebliche Randständigkeit nicht nur, wie ich immer meine, das Ergebnis meiner inneren Unausgeglichenheit, so dass ich es gerade noch schaffe, mich einigermassen zu integrieren? Ist es in Wirklichkeit eine höchst laborierte und kontrollierte Weise, mein Leben zu führen? Dass ich zwar noch als integriert gelten kann und nicht die Kosten einer Desintegration zahlen muss (Vereinsamung, Abhängigkeit, Demütigung, Stadtstreicherleben…). Dass ich aber doch nie derart reüssiere, dass man auf mich aufmerksam wird, mich auswählt, den Blick auf mich richtet, Erwartungen entwickelt, denen ich als „Braves Kind“ nicht widerstehen kann, so dass ich mich dabei selber verliere, weil ich nicht Nein sagen kann…?

 

 

Aus Unfähigkeit, mit externen Konflikten umzugehen, habe ich die Konflikte ins Innere verlagert. So habe ich mich selber blockiert, damit es nicht zu einem äusseren Konflikt kommen kann: Ich nehme Ansprüche zurück, die eigentlich unaufgebbar wären, die ich mir von aussen nie bestreiten lassen dürfte. Ich nehme meine Meinung zurück, mein Persönliches. Ein Konflikt scheint mir schlimmer, als zu schweigen (und im Verborgenen einen privaten Ausweg zu suchen?).

Ich kann wählen: Konflikt habe ich immer, entweder in mir drin, wo ich nicht mehr kreativ mit ihm umgehen kann, oder in meinem Sozialleben, wo ich vielleicht ein neues Verhalten lernen kann, wo ich vielleicht noch Kreativität entwickeln kann.

Darauf kommt es an, kreativ nach einem neuen Umgang zu suchen. Die Alternative nicht einfach so hinnehmen: innere Lähmung oder äussere Katastrophe; Selbstaggression oder „etwas Furchtbares“; Sich-Abtöten und Kadaver werden oder Aggression nach aussen richten und „etwas Furchtbares“ anrichten.

„Etwas Furchtbares“ – das steht als Chiffre für die Blendwirkung meiner früh gelernten Ängste. Es ist nicht furchtbar. Es gibt nicht-katastrophale Weisen des Konflikt-Umgangs: Verhandeln, Konsens suchen, Kompromiss, Diplomatie, Tausch, Humor, Lachen, sich kennenlernen und vermeintliche Probleme auflösen…

 

 

Innen und aussen begegnen sich

 

  1. Februar 1990

Wie lange habe ich nicht mehr geschrieben… Habe wieder mal das Wasser am Hals, ich will an der Schreibmaschine eine Arbeit erledigen und vorher kurz anhalten und hinblicken. Es ist ein Anwendungsfall für das, was ich suche – nicht die Problemlosigkeit, aber die richtige Haltung. Ich will mich hineinstellen, hinausstellen, in den Augenblick. Mich vor Gott stellen, Gott als lebendig denken, mich hineinstellen, gegenüberstellen, von ungeheurer Freude durchflossen werden – aber auch Angst vor der Freiheit…

 

Vor Monaten ist in Gebeten etwas Neues entstanden. Von den Nebenrändern des Bewusstseins her ist ein Einfall immer mehr ins Zentrum gerückt: wie wäre es, wenn wir ernst machen würden mit dem Gedanken, dass es Gott „gibt“, habe ich manchmal gesagt. Mein Gebet war aber mehr ein Mich-Anvertrauen. Eines Tages rückte dieser Gedanke ins Zentrum des Gebets, ich kann es hier nicht richtig aus der Erinnerung wiedergeben; ich muss mich selber wieder hineinversetzen. Wenn ich ernst nehme, dass Gott lebt – dann wird alles anders, mit einem Schlag bin ich frei, trete der Welt in derselben Freiheit gegenüber, wie Gott ihr gegenüber steht.

 

Es war, bis in physiologische Reaktionen hinein, ein gewaltiges Erlebnis. Schon bald aber folgte die Angst, die Angst vor dieser Freiheit, vor der Verantwortung, dem Loslassen der „Welt“ … (Ich bin zu sehr in Eile, um sorgfältig nachzudenken).

Der Gedanke verschwand wieder etwas, blieb aber immer im Hintergrund: als Wissen um den Weg, der bereit steht und den ich nur zu gehen brauche.

 

 

Jetzt

Jetzt also ist der Augenblick (wenn ich ihn ergreife). Wenigstens habe ich den Weg an die Maschine geschafft, die von der Panik eingeklinkte Routine durchbrochen.

Herr, Gott, Du lebst, auch wenn ich Dich nicht als lebendigen (Gott) denke, verzeih mir, dass ich solche Spiele nötig habe, dass ich mit meiner Angst Versteck spiele und mir dabei den Anschein gebe, als könnte ich mit Dir umgehen wie ich wollte. Ich weiss oft nicht, was ich von Jesus Christus halte und fühle mich für meinen fehlenden Glauben schuldig, aber jetzt möchte ich mit den Augen des Evangeliums zu Dir hinsehen, mich in diese Begegnung wagen.

 

Mit dem Evangelium vertraue ich, dass Du mich rufst und Geduld mit mir hast. Jesus blickt in Mitleiden und Liebe auf die Verstockten und Zögerer und die, die nicht folgen können. Wenn ich den Schritt nicht sofort schaffe, will ich nicht alles für verloren halten und es nie mehr versuchen, ich will es immer und immer wieder wagen, statt mich nach einem Scheitern schon für verloren zu halten.

 

Ich will hinaustreten -„coming out“ – in den Augenblick, in seine Pflicht, in seine Einladung, in Deine Gegenwart. Was kann mir geschehen, wenn ich in Dir stehe?

 

Ich gehe über ein dünnes, schwankendes Seil, links und rechts der Abgrund, aber Du bist da, du hältst mich. Wenn ich falle, falle ich in Deine Hände. Sollte ich da nicht hüpfen und das Fallen herausfordern? Sollte ich nicht lachen und den Weg – statt ihn als Weg der Angst und des Scheiterns zu fürchten, als Weg des Lebens, der Fülle, geniessen…?

 

Der Traum

Auf Leben und Tod

 

  1. November 1996

Im Traum sehe ich eine grosse Palast-Landschaft. In der Mitte ein Ei, das zerschlagen werden soll. Viele versuchen es. Alle möglichen Tricks und Machtspiele. Sie bleiben im Vorhof, dringen nicht ins Innere vor. Einer schafft es nicht. Wird ihm der Kopf abgeschlagen? Einer schafft es. Er hat nichts bei sich ausser, was er trägt. Er dringt bis in die Mitte vor. Er schüttelt sein T-Shirt, da erscheint sein Sohn. Dieser zerschlägt das Ei. In diesem Augenblick erschallt ein Satz: „Ein innerer Friede und wir können was wir sollen.“

 

(Der Traum hat mich lange beschäftigt, noch Jahre später habe ich mich in Gedanken dort eingefunden und mich den Bildern überlassen. Schon das Eintreten war von grossem Frieden begleitet, weil dort all der Lärm der Kämpfenden verhallte.)

 

 

Der Weg ins Innere

 

  1. Januar 1997

Der Traum hat mich lange Zeit begleitet. Hier ist er ein erstes Mal gedeutet. Er zeigt einen Weg nicht über Grübeln, nicht über zwanghaftes Sich-ändern-wollen. Es ist ein stiller Weg, der Traum führt in die Mitte.

 

Vieles fügt sich einfach, und als die Frage auf Leben und Tod auftaucht, ist der Helfer da. Am Schluss steht die Lösung, nach der ich von Anfang an suchte: Wir können, was wir sollen. (Sein und Sollen sind versöhnt, Welt und Mensch sind wie sie sein sollen.) Und es wird ein Weg dazu gewiesen: „Ein innere Friede und wir können was wir sollen.“

 

Es ist nicht ein kontemplativer Weg, auch wenn der Traum ein Bild vor Augen stellt – ich muss ihn wirklich gehen. Es ist aber auch kein ethischer Weg – ich kann ihn nicht willkürlich beschreiten, er gehorcht meinem Wollen nicht. Es ist auch kein psychologisch-therapeutischer Weg, auch wenn sich auf diesem Weg Versöhnung ereignet. Es ist ein „spiritueller Weg“, die Taufe leiht ihr Bild dafür mit den Stationen von separatio, initiatio und ordinatio:

 

Das Labyrinth zeigt ein Bild, das vom Aussen ins Innere führt und wieder hinaus. Denn das Leben will aussen gelebt werden, wie es der Taufritus in seinen drei Schritten sagt: Der Täufling nimmt Abschied vom Alten (separatio), denn so wie bisher, ging es nicht weiter. Er wird in etwas Neues eingeführt (initiatio). Und er geht damit ins alte Leben zurück (ordinatio), übernimmt alles, wie er es zurückgelassen hat. Er kann es aber jetzt tragen und bewegen, mit dem, was er „innen“ gesehen und erfahren hat.

 

 

Gegenwärtig sein

 

  1. November 1997

Es ist anstrengend, Hausfrau zu sein, Kinder zu erziehen, immer präsent zu sein. Kinder brauchen viel Aufmerksamkeit, sei es in Form von Zuwendung, sei es, dass sie Grenzen suchen. Auch das Berufsleben fordert uns bis ins letzte. Gut, dass es in unserm Alltag immer wieder Inseln gibt, wo wir auftanken können, wo wir uns wohl fühlen, wo alles irgendwie leichter geht, die Arbeit, die Begegnungen. Es ist, als ob wir dort in besonderer Weise in uns selbst ruhten.

 

Nicht Freizeit

Was ist es denn, was diese Inseln so schön macht? Es ist nicht unbedingt die Freizeit, oft erleben wir solche Inseln auch in der Alltags-Arbeit, es ist dann ein Bereich, den wir besonders gern machen. Es ist nicht das Ausruhen; oft arbeiten wir dann sogar besonders intensiv, aber es läuft irgendwie spielerischer, mit weniger Anstrengung, mehr von innen heraus. Es ist mit weniger Kampf verbunden. Es liegen keine Konflikte im Weg, die Energie absorbieren, weil wir dort auf innere Widerstände stossen und gegen uns selber kämpfen. Die Pferde, die unsern Wagen ziehen, sind oft an verschiedenen Seiten des Wagens angeschirrt. So ziehen sie und ziehen, und der Wagen kommt nicht vom Fleck. Bei diesen Inseln ist es anders; da ziehen unsere Kräfte am selben Ort, und es geht ohne Kampf, mit kleinem Aufwand.

 

Inseln der Gegenwart

Was diese Inseln so schön macht ist – die Gegenwart: dass es uns dort gelingt, gegenwärtig zu sein, und das heisst auch ganz in Übereinstimmung mit uns selbst zu sein. Da ist kein schlechtes Gewissen, das uns antreibt, keine Angst, die uns lahmlegt. Wir müssen nicht vorausdenken und uns gegen Eventualitäten vorbereiten – und wenn der Moment kommt, spulen wir das Vorbereitete ab und wir zwingen den Moment in die Vorstellung, die wir früher davon hatten. Aber es passt dann nicht. Es passt nicht für uns, es passt nicht für die andern beteiligten Menschen.

 

 

Der Moment lebt dann nicht aus der Gegenwart, sondern aus Bildern, die wir uns von ihm machten. Da ist die Freiheit aufgehoben, es darf sich nichts ereignen. Alles soll so ablaufen, wie geplant, weil das Sicherheit verspricht. Alles ist unter Panzerglas, oder im Märchenbild gesprochen: alles ist verzaubert und liegt wie unter einem Glasberg. Es will – wie im Märchen – „erlöst“ werden.

 

Aus dem Glasberg

Erlösung wäre, wenn sich diese Inseln verbreitern könnten. Im Märchen wären es Tore, durch die wir in eine andere Welt eintreten könnten, eine Welt der Ruhe und Übereinstimmung. Und diese Ruhe wäre nicht Stillstand, unser Handeln wäre von seinen Blockierungen befreit. Diese Tore gibt es, wir können durch sie eintreten. Die Inseln können sich ausbreiten. Wenn wir begriffen haben, dass es nur daran liegt, dass wir ganz gegenwärtig werden, dann scheint das doch immer möglich, nicht nur in bestimmten Bereichen unseres Alltages. Warum soll ich nicht schon in dieser Haltung aufstehen, zur Arbeit gehen oder das Frühstück machen? Warum soll ich nicht auch jenen Bereich meines Alltags, der mir Bauchschmerzen macht, aus dieser Haltung leben?

 

Was uns am Alltag Mühe macht, ist meist nicht der Alltag selbst, sondern Erfahrungen, die er wachruft. Der Alltag mit seinen Aufgaben erinnert uns an schmerzhafte Erlebnisse. Da steigen alte Gefühle wieder hoch, da klinken sich alte Verhaltensweisen ein, die wir als Reaktion auf solche Situationen gelernt haben. Wir haben für das Aufstehen einen bestimmten Ablauf, in dem wir uns nicht stören lassen wollen. Der Abend hat sein Gerüst – genau so muss er ablaufen, wenn wir uns erholen wollen. So sind grosse Teile des Alltags wie in Ritualen gefangen. Sie beschneiden unsere Freiheit – auch wenn wir wollten, könnten wir oft gar nicht von unseren Gewohnheiten abgehen – aber sie geben uns Ruhe, sie helfen Stress abbauen, sie verhindern, dass wir mit alten Ängsten konfrontiert werden.

 

 

Eingefroren

Diese Ruhe ist nicht die Ruhe, die wir in jenen Inseln erleben. Das hier ist die Ruhe unter dem Glasberg, der unerlöste Zustand. Die Ruhe der Inseln ist nicht in Rituale gebannt, sondern frei. Da wird Energie nicht eingefroren, sondern sie fliesst. Da fliehen wir nicht aus dem Augenblick, sondern werden gegenwärtig. Gegenwärtig zu sein, ist also unerhört schön, aber auch unerhört schwer, weil es bedeutet, sich mit seinem ganzen Leben zu konfrontieren. Es heisst, die Verantwortung für sein ganzes Leben zu übernehmen, nicht nur im Tun, sondern auch im Leiden, nicht nur in dem, was unser guter Wille tun möchte, sondern auch in dem, was uns widerfährt, nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit. Einfach gegenwärtig sein, alles kommen lassen und nicht davonlaufen, sich nicht in Rituale der Zerstreuung flüchten, nicht innerlich abschweifen.

 

Die Toskana im Alltag

In der Einsamkeit geht das besser. Es gibt eine alte Tradition der Lebensweisheit, die einsames Leben empfiehlt. Das muss nicht für immer sein, aber in bestimmten Situationen, für eine bestimmte Zeit. So lässt sich „Gegenwart“ im geschützten Rahmen einüben, weil die tägliche Überflutung fehlt. Unsere Zeit kennt keine Eremiten mehr, kaum noch Klöster. Und doch gibt es das in verwandelter Form noch immer: in Krisensituationen zieht sich jemand zurück. Jüngere besuchen vielleicht einen Kurs in der Toskana, Ältere machen eine Kur. Und der Versuch, durch Urlaub dem Alltags-Stress zu entfliehen und wieder aufzutanken, gehört zum massenhaft geübten Lebensstil.

 

Es ist aber auch im Alltag möglich. Was alte Lebensweisheit empfiehlt, wird auch heute wieder gelebt. Da gibt es Gruppen, die buddhistische „Achtsamkeit“ üben. Man atmet, lässt alles auf sich zukommen, rezitiert vielleicht Verse. Das gibt es aber auch in der christlichen Tradition. Dort ist es die Schule des Gebets. Das klingt vielleicht altmodisch. Es sieht nach nichts aus, es geht unter im Marktgeschrei des Neusten und Allerneusten. Aber es ist schön. Es ist ein Weg.

 

 

In die Mitte fliehen

 

  1. März 1999

Die Psychologin sagt im Coaching den Satz: „lch bin für mich da!“ Früher konnte ich nichts damit anfangen, ich hörte daraus eine unerhörte Anforderung an diese „lch“. Wenn ich diese Kraft hätte, dann hätte ich es ja schon bisher getan! Das ist es ja, darum renne ich immer davon. Jetzt habe ich begriffen: Es ist nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Erlaubnis. Und das „Ich“, das diese Kraft besitzt, das für mich da ist, ist nicht das handelnde Ich, das ich kenne und dem ich diese Kraft aus Erfahrung nicht zutraue.

 

In der Mitte

„Ich bin für mich da“: das Subjekt-Ich und das Objekt „für mich“ sind nicht identisch, jedenfalls nicht an der Oberfläche. Das Subjekt-Ich ist eher das „Selbst“, die Mitte der Welt, die auch in mir ist, der ruhende Pol aller Wirklichkeit. Es ist, religiös gesprochen „Christus in mir“ (Galather 2,20). Das objektive Für-mich, das ist das mir bekannte, im Bewusstsein aufscheinende Ich, das immer wieder zu handeln versucht, das aber auf enge Grenzen stösst.

Ich für mich“ – wenn ich es richtig meditiere, kann ich präsent sein, denn da ist keine Aufgabe, der ich nicht gewachsen bin. Ich stelle mich in die Mitte der Welt, ich stelle mich „unter“ – gerade dann, wenn es regnet, wenn das bewusste Ich sich überfordert fühlt und „davon“ gehen will – aus der Präsenz in die Absenz, in die Flucht. Es ist das Abschweifen in Tätigkeiten und Träume. Aber hier fliehe ich nicht.

„Ich für mich“ – untergestellt unter einem Dach, geborgen in der Mitte der Welt, aus der ich nicht herausfallen kann. Ich bin schon da, wie der Igel im Märchen. Der Hase kann noch so rennen, der Igel ist immer schon da. Es ist wie in den Ferien, wenn Antonia vor mir in den Zug einsteigt. Ich kann die Nachdrängenden einsteigen lassen ohne Angst, einen Platz zu verpassen. Einer ist für mich bereit.

 

 

Aus der Mitte fallen

Eine zweite Erfahrung, die mir hilft: Ich hatte wieder einen „Absturz“. Nächtelanges TV-Schauen ohne Ende. Das demütigt mich, da ist etwas stärker als ich. Es ist ein Grenzerlebnis, wie andere, die ich heute akzeptieren kann. Aber dieses hat noch Schärfe, es demütigt mich. Hilfreich ist die Frage: „Wie schaffe ich es, dass ich immer wieder abstürzen kann?“ Das lenkt den Blick auf mich selbst, statt auf das andere. Ich bin nicht nur Opfer, sondern Täter. Auch hier ist ein Ich, ein handelndes Subjekt, aber ein anderes, verborgenes. Auch hier ist eine Art Selbst, das Symptome erzeugt, Strategien entwickelt.

Die Furcht vor dem Weg

Warum brauche ich das, immer wieder abzustürzen? Ich muss nur fragen, schon taucht eine Antwort auf. Ich suche genau das, was ich fürchte: dass ich gedemütigt werde. Ich suche es nicht wegen eines Masochismus (oder wenn doch, dann muss ich diesen anders verstehen als bisher), sondern weil ich so wieder in Ohnmacht falle, weil ich dann nicht kann wie ich soll und will. Ich fürchte mich davor, zu sollen und richtig zu wollen, das erscheint mir als übermächtig, verschlingend. Daher fliehe ich aus der Macht in die Ohnmacht, aus der Freiheit in die Unfreiheit. Daher fliehe ich aus dem Augenblick in Zukunft oder Vergangenheit und aus der Präsenz in die Absenz, in Tätigkeiten und Träumereien.

Sich sabotieren

„Absturz“ – wie schaffe ich das, immer wieder, abzustürzen? Weil ich das suche, das Leiden am Absturz. So erfahre ich die Ohnmacht wieder, die zwar demütigend ist und schrecklich (sie lähmt mich und trennt mich von meinen Lebenszielen), aber sie bietet mir doch auch einen Ausweg an. Denn das andere erscheint mir noch viel schrecklicher: nicht ohnmächtig, sondern mächtig zu sein, nicht unfrei, sondern frei, nicht absent, sondern präsent – und das heisst, handeln zu müssen, wollen zu müssen.

Ich fürchte mich, zu sollen, denn dann taucht das Gespenst auf, der Moloch, der mich auffrisst und dahinter das ganze Dämonenheer, die Aufgaben, die nicht mir gehören.

 

 

Sich bekreuzigen

Katholiken bekreuzigen sich: „Nicht ich“ heisst das, „sondern Du“. „Ich trete zurück, komm Herr Jesus Christ! Mein „ich“ soll gekreuzigt und begraben sein wie der alte Adam; komm Du hervor, Jesus Christus, der Auferstandene. Handle Du, rede Du, Du in mir, zu den Menschen und dem Christus, der in ihnen ist. Du bist das lebendige Wort, der Logos in aller Wirklichkeit. Du bist die Mitte der Welt.“

Ich – was tue ich, wenn ich durchs Dorf gehe und all die Erwartungen auf mich lospreschen und ich ihnen auch nicht ansatzweise entsprechen kann? Wenn ich mich schäme und mich verstecken will? Wenn ich keine Freiheit habe, um mit den Kindern da durchzugehen? Dann sage ich mir den Satz vor: „Darf ich mich vorstellen: PW, ich bin Pfarrer und nicht der Erlöser, der hängt am Kreuz.“

 

Babuschka

Viele «Ichs» sind da, die wie Puppen einer Babuschka ineinander stecken. „Ich bin für mich da“ – vieles schwingt in dem Satz mit:

Da ist Erlaubnis, Zuwendung, Geborgenheit, denn da ist ein grosses Ich, das für mich da ist. Ich stelle mich dort unter, wenn es regnet, ich hülle mich damit ein, wenn es stürmt, ich bin dort gehalten und werde neu geboren, wenn alles untergeht. Da ist Christus, da ist die Mitte der Welt, das Geheimnis aller Wirklichkeit – auch in mir und in allen andern.

Da ist das heil werdende Ich, das sich wehrende Ich, das symptom-bildende Ich – ein Ich, das sich oft verkleidet in Nicht-Ich. Da ist die Autonomie, die aussieht wie Heteronomie.

Und da ist das kleine bewusste „Ich“, wie der Lichtkegel einer Taschenlampe, der mal da auftrifft, mal dort etwas ans Licht hebt, in der ungeheuren Nacht des Lebens. Das fühlende, zitternde Ich, wie ein kleines Kaninchen.

 

 

Ich finde den Weg

 

  1. Mai 1999

Ich träumte, wie ich in einer fremden Stadt nach langem Herumirren eine Haltestelle fand. „Ich kann handeln und finde den Weg.“ Die tiefe, fast metaphysische Beruhigung aus diesen Worten. Es nimmt das Gefühl des Fremd– und Verlorenseins auf, die Anspannung des Weg-Suchens und die Angst, ihn nicht zu finden.

 

Doch, ich finde die Haltestelle. Es ist noch nicht das Ziel aber ein Unterpfand, dass ich hingelange. Es ist das, was jetzt möglich ist. (Wie der Glaube uns auch erst Unterpfänder gibt, dass wir das Reich Gottes erreichen: Vergebung, Liebe, die vorausnehmende rituelle Feier in Abendmahl und Taufe, der Zuspruch des Evangeliums.)

 

 

In Blaubarts Zimmer

 

Aus Notizen 2000 – 2002

Wie ein Fanal steht am Anfang des Millenniums der Anschlag von „Nine Eleven“. Als ob der Terror dem neuen Jahrtausend seinen Stempel aufdrücken wollte. Aber es war nicht der Terror allein. Ökologie und Ökonomie produzierten immer neue Schreckensmeldungen. In der Schweiz ist das Jahr 2001 als eigentliches „Katastrophenjahr“ in die Geschichte eingegangen.

In meinem privaten Leben war das Jahr 2000 ein schwieriges Jahr, weil Antonia ankündigte, mich verlassen zu wollen. Mit einem Mal war alles in Frage gestellt: Beziehung, Familie, Beruf – denn wie sollte ich so weitermachen können?

Vielleicht war ich deshalb empfänglich, um die Ereignisse „draussen“ deutlicher wahrzunehmen. Oder umgekehrt: All die Akte von Terror, Verzweiflung und Gewalt fanden bei mir ein grösseres Echo, als wenn ich in meinem privaten Leben unangefochten meinen Weg gegangen wäre.

(Aus dem Vorwort zum Buch «Katastrophen und Wendepunkte, der Weg ins neue Millennium, Notizen 2000 – 2002»)

 

Teufel und Dämonen

 

  1. Juli 2002

Telefonanruf. Eine junge Frau, sie fühlt sich vom Teufel besessen. Wenn ich nachher hingehe, zählt nicht, was ich theoretisch weiss über Satanismus oder Psychologie, es zählt nur die Frage, wie ich hingehen kann.

Ich kann nur hingehen, wenn ich durch und durch davon überzeugt bin, dass ich selber, mit allem, was zu meinem Leben gehört, mit allem, was mir schwerfällt, mit allem, wo ich mit mir selbst in Konflikt stehe, mit allem, wo ich an mir selbst verzweifle… – dass ich restlos mit allem von Gott angenommen bin.

 

 

Dann ist diese Haltung spürbar hinter allem, was ich sagen mag. Das ist entscheidend. Es sind nicht die Worte, die zutreffend oder falsch sein mögen. Es ist die Frage: „Evangelium“ (alle Wirklichkeit ist in Gott geborgen) oder eine verzweifelte Vertiefung der schlechten Erfahrungen („diese Welt ist ein Loch, in dem man nur krepieren kann“). Ob das dann eine Macht ist neben Gott oder mehrere, ob sie dämonisiert wird oder säkularisiert, spielt keine Rolle.

 

 

Sie trug die Mitte in sich selbst

 

  1. November 2002

Es gibt Menschen, die sind anders als andere Menschen. Es ist, als ob sie eine Mitte in sich trügen. Sie leben irgendwie selbstverständlicher, mit mehr Erlaubnis. Sie rennen nicht irgendeinem Ziel nach, das ausserhalb von ihnen wäre. Und so lange sie es nicht erreicht haben, sind sie unruhig.

 

Nein, sie leben so, als ob sie schon am Ziel wären, oder als ob sie sich angenommen wüssten ohne Bedingung. Und sie strahlen Ruhe und Frieden aus. Es ist, als ob eine Kraft von ihnen ausginge, aber es ist ohne Anstrengung. Menschen, die ihnen begegnen, werden gefangen genommen von dieser Kraft. Sie sind gern bei ihnen und finden so auch für sich selbst ein Stück Ruhe und Frieden.

 

 

Aus der Mitte leben

 

  1. September 2000

Kennen Sie das: Sie stehen am Bahnhof und warten auf den Zug. Sie sind den ganzen Vormittag herumgehetzt. Es fällt ihnen schwer, nur so dazustehen und zu warten. Und jetzt fällt Ihnen ein, Sie haben vorhin eine alte Bekannte angetroffen. Sie spürten, es geht ihr nicht gut, aber weil Sie es eilig hatten, auf den Zug zu kommen, haben Sie sie nach einer gewissen Zeit stehen lassen. Jetzt tut es Ihnen leid. Wofür haben Sie eigentlich Zeit? Sie hetzen im Leben herum, rennen immer etwas nach, aber für das, was Ihnen wichtig wäre, fehlt es ihnen an Zeit.

 

Solche Gedanken beschäftigen Sie, während Sie warten. Sie schauen Ihr Leben an. Auch das ist ein grosses Gehetze. Lang sind Sie in Ihrem Leben etwas nachgerannt, was Sie sich ersehnten: eine Familie haben, Liebe, Zuneigung; ein Wunschbild, das tief in der Kindheit entstanden ist; die Suche nach Geborgenheit.

Bis Sie merken mussten: Eine Familie kann Ihnen die Geborgenheit nicht geben. Im Gegenteil, die Kinder erwarten sie von Ihnen. Sie selber müssen in sich einen ruhigen Kern finde, einen Pol von Ruhe und Geborgenheit, der nach aussen strahlt und wo auch die Kinder zur Ruhe kommen können, wo sie „Daheim-Sein“ erfahren und Aufgehoben-Sein.

 

Auf den Zug warten

Und jetzt, wo Sie so da stehen und auf den Zug warten, steigt in Ihrer Phantasie ein Bild auf von einem Leben, wie es sein müsste. Sie haben genug vom Herumhetzen und etwas nachrennen, was aussen doch nie zu erreichen ist. Sie wollen in Zukunft so leben, dass Sie das Ziel in sich selber tragen. Nicht mehr immer alles von aussen erwarten, sondern selber einen Anfang machen und ein Anfang sein im Leben. Nicht mehr nur suchen „wer gibt mir?“ und „wo finde ich?“ und darüber die Menschen vergessen, die etwas von uns erwarten, sondern selber für die andern ein Ruhepol sein.

 

 

Sie beschliessen in diesem Moment, wo Sie da stehen und auf den Zug warten und Ihr ganzes Leben vor Ihnen vorbeizieht: Sie wollen in Zukunft so leben, dass Sie ihre Mitte immer in sich selber tragen, den Ort, wo Sie zur Ruhe kommen können, wo sie Frieden finden. Sie wollen Zeit haben für die, die ein Anrecht auf Sie haben. Sie wollen Zeit haben für sich selber – Schluss mit dem Gehetze. Sie wollen zum Frieden kommen.

 

 

Vom Unterscheiden der Sprachen

 

  1. November 2002

„Rückfall“: Ich fühle mich als Abschaum und von Gott verdammt. Ich möchte mich verkriechen und muss doch unter die Leute. Schuld und Scham! Ich will nicht gesehen werden und mache mich klein.

 

Alte Sprachen

„Rückfall“ steht in Anführungszeichen, weil es die Sprache der Moral ist. Ich habe da etwas in die Verantwortung übernommen, was da nicht hingehört. Ich fühle mich als Ungeheuer, das man bei Geburt schon hätte beseitigen sollen. Aber das ist nur die Sprache des Kindes, das begreifen will und das sein Verlassen-Sein als Ausdruck von Widerlichkeit und Widersetzlichkeit interpretiert. So ist es lieber schuldig als widerlich, lieber böse als eine Ausgeburt. Denn das scheint ja einen Ausweg offen zu halten: dass man ganz und gar lieb und brav sein kann.

Heute könnte ich lernen, es als Folge der Situation meiner Eltern zu begreifen, die in eine neue Stadt zogen und mit fünf Kindern und einem neuen Geschäft überfordert waren. Die Leute prophezeiten, sie würden darauf Bankrott machen. (Sie haben es ihnen aber „gezeigt“.) Ich muss und darf die Sprache revidieren. (…)

Meine erste Frau war Sängerin. Nach einer Vorstellung schilderte ich ihr meine Eindrücke, bis sie mich unterbrach: Singen heisse, sich zu exponieren. Man fühle sich nackt und brauche nichts als einen Mantel, der einem um die Schultern gelegt werde. Für Kunst-Kritik ist da noch keine Zeit.

 

 

Die Erlösung deckt unsere Blösse zu, sogar die Blösse der berechtigten Scham, wo wir nicht sind, wie wir sein sollen, wo die ganze Kluft an uns offenbar wird, wo die Übelwollenden lachen und die Kinder spotten. Gott bedeckt die Blösse von Adam und Eva, die das Paradies des unangefochtenen Gottvertrauens verloren haben.

 

Eine Sprache für die Scham des falsch gelebten Lebens

Was bedeutet dann ein „Rückfall“ in einer anderen, nicht-moralischen, Sprache? Dass ich das Vertrauen verloren habe. Christus kommt mir durch den Sturm auf dem Meer entgegen. Ich steige aus dem Boot. Ich kann über das Wasser gehen. Aber da sehe ich die Wellen und höre das Tosen. Schon sinke ich ein, das Wasser schlägt mir über dem Kopf zusammen.

 

Die Welt ist also doch ein finsteres Loch, wo man nur untergehen kann! Ich halte mich für ein Ungeheuer und glaube mich von Gott verdammt. Doch da kommt er mir entgegen und sagt: „Wie klein ist doch dein Vertrauen.“ Er streckt mir die Hand entgegen und zieht mich aus dem Schlund.

 

 

Das eine ruft dem andern

 

  1. November 2002

Ich gehöre vielleicht zu jenen Menschen, die sich dauernd selber hinterfragen. Bei einem Konflikt machen sie Gewissenserforschung bis zur Selbstentblössung. Gleichzeitig taucht in der Gesellschaft ein neuer Ton auf: rotzfrech, rüpelhaft, beleidigend. Da stellt sich jemand ins Zentrum, als ob alle Welt nur für ihn da wäre.

Diese Rollenteilung ist wohl nicht Zufall, sie wird in der Familie gelernt. Und sie wird in der Politik fortgesetzt, wenn die Übervorsichtigen nicht lernen, auch einmal nach aussen aufzutreten. Skupelhaftigkeit und Skrupellosigkeit haben miteinander zu tun. Durch das Abtauchen in die Innenwelt überlasse ich die Aussenwelt den andern.

 

 

Abends habe ich plötzlich die Empfindung, als ob ich in einem gewissen Alter eine „Inversion“ gemacht hätte: Es gleicht einem Nach-Innen-Stülpen wie bei einem Handschuh. Jetzt bin ich für den Schmerz unberührbar und für das Leben unerreichbar. Aber ich bin auch abgeschottet von diesem Leben. Oft fühle ich mich wie hinter einem Schaufenster.

 

 

In Blaubarts Zimmer

 

  1. Dezember 2002 – Erster Advent

Irgendwann geht der Weg bis ins Innerste. Dort wird auch das Äussere verständlich. Die Rätsel klären sich. Erst im Innersten kehrt die Bewegung um. Wenn ich das Innerste aufgesucht habe, bin ich fähig und bereit, mich nach aussen umzuwenden. Sonst sitzt es mir als Angst im Nacken.

Im Innersten aber, wo die Angst am dichtesten scheint, kehrt Ruhe ein. Im Innersten klären sich auch die Rätsel der Familien-Geschichte.

Ich war gestern bei meiner ersten Frau. Mit dabei waren ihr Mann und ihre Schwestern, meine Ex-Schwägerinnen, und ihre Männer. Ausserdem ein befreundetes Ehepaar aus dem Chor. Meine jetzige Frau begleitete mich.

 

Zauberhaft

Das „Zaubertrückli“ ist aufgemacht – eine andere Wirklichkeit. Da ist die Schatzkammer – und das Blaubart-Zimmer der Familiengeschichte. Hier werden Schicksale geprägt und Lebensläufe entschieden. Die Begegnungen hier haben Zauberkraft.

Es ist Eintritt in einen anderen Raum, ich spüre es sofort. Es hat nichts zu tun mit der Welt draussen. Diese erscheint als unerheblich, von weniger dichter Seinskraft. Ich streife sie ab wie eine lästige Erinnerung. Hier bin ich am Eigentlichen… Es ist wie Erlösung, Heimkommen (oder wie Erstarren und Verdammt-Sein).

 

 

Friede

Es war eine Begegnung mit meiner „ersten Frau“. Noch nie haben wir uns bisher gesagt, dass die Verletzung vorüber ist. Es war wie Auftanken, an die Sonne kommen. Mit dem Eintritt ins „Trückli“ bin ich durch eine Tür gegangen. Hier wird ein anderes Spiel gespielt. Es ist „New Deal“, mit anderen Karten. Und die Zwänge der alten Existenz gelten nicht mehr – in dem Moment, wo ich die Karten aufnehme.

 

Was war das?

War ich im Zauber-Trückli, im Spiegel-Kabinett? Waren das gestern Begegnungen mit alten Gespenstern? Haben sie zu mir gesprochen? Habe ich Frieden gefunden für meine Seele? Bin ich frei geworden von meinen Ketten und (Selbst-) Verdammungs-Flüchen, die ich in meinen kindlichen Jähzorn-Anfällen einst so grosszügig ausgestossen habe?

 

«Suchweg der Seele»

 

Das Gefühl von „letzter Wirklichkeit“ stellt sich ein, wie man es erlebt, wenn man die Landschaft seiner traumatischen Verletzungen betritt. Hier ist alles in helles Licht getaucht. Es ist schmerzhaft, aber auch „heilig“. Es ist Blaubarts Zimmer, wo die Rätsel des Daseins sich lösen.

So rutscht mir die Formulierung damals einfach so unter: der Suchweg der Seele. Es meint diese innere Resonanz, die äussere Erzählungen in uns finden, wenn sie an gewisse Ahnungen rühren, die im Innern schon bereit liegen, aber noch nicht zu Bewusstsein gekommen sind, die noch keine Gestalt gewonnen haben.

 

 

Der Einschlags-Krater

 

  1. Januar 2003

Zwischen den Jahren war es etwas lockerer. Ich war in Basel, im Museum und in einer Buchhandlung. Ich habe einen Comic gekauft: „Akira“ von Katsuhiro Otomo.

 

„So ist es!“

Am Anfang steht eine Explosion wie seinerzeit die Atomexplosion über Japan. Und wenn ich sein Buch lese, spüre ich, dass ich seither – trotz Ende des Kalten Krieges – immer noch den Kopf eingezogen habe.

Die Japaner leben in dem Land, in dem die Bombe niederging. Sie haben sich in den Trümmern wiedergefunden. Sie mussten die Städte wieder aufbauen. Sie kämpfen mit den Spätfolgen bis heute. Sie mussten hinsehen. Das macht das Packende dieser Erzählung aus und das Gefühl: hier ist Wahrheit. Sie ist in Comic-Form, aber die Bilder wirken authentisch.

 

Das grosse Erzählen …

Dazu kommt das grosse Erzählen. Es nimmt die Grunddaten der Weltwerdung auf, beginnt bei der Stunde null, mit dem Einschlag der Bombe, in der zerstörten Welt und spielt „38 Jahre danach“, als der Wiederaufbau erst begonnen hat, aber die Zerstörung überall noch weiterwirkt, auch in der Traumatisierung der Menschen.

 

… angefangen bei der Stunde null

Das ist auch eine Grundtatsache im subjektiven Erleben der Menschen, dass sie vom „Alten“ immer wieder eingeholt werden, dass das Leben immer wieder in dieselbe Kerbe schlägt. Ihr Leben steht wie unter einem Bann. Und diese Traumatisierung greift jetzt bereits auf die zweite Generation über: auf Jugendliche, die nicht erhalten, was sie brauchen, die bis in die Mimik hinein zeigen, dass sie „kaputt“ sind, die sich mit Jungend-Gangs Umgang und Sicherheit organisieren und mit Tablettenschlucken „Speed“ oder Benebelung „einwerfen“.

 

 

Die Bombe hat auch im Erleben der Menschen einen ungeheuren Krater geschlagen, so wie er im Eröffnungs-Bild zu sehen ist, als die Jugendlichen ausbrechen, in die alte Stadt fahren (in unbewusster Suche nach der Ursache ihrer Misere) und plötzlich vor diesem ungeheuren schwarzen Loch stehen.

 

… entlang dem Suchweg der Seele

Eine solche Art des Erzählens, das beim Donnerschlag ansetzt, bei den Grunddaten des Daseins und Erlebens, eine solche Art des Erzählens, das den Suchweg der Psyche nachzeichnet, die ihre Labyrinth-Wege verstehen will, die sich versichern will, woher sie kommt und wo sie gehalten ist, die spüren will, dass sie auf einem grossen Weg geht, der durch alles hindurch führt [1], eine solche Erzählung kannte seinerzeit auch die Bibel. Es hat sich durch Wiederholung und Distanz abgeschliffen. Die Bilder reden nicht mehr. Ausser sie werden auf diese Art mit Erfahrungen aus unserer Zeit, aus unserem eigenen Erleben aufgefüllt.

 

Innere Wegmarken

Das ist ein Modell, wie man wieder erzählen kann. Vergleiche nur mal das Erlebnis, mit Kindern durch einen Dunkelraum zu gehen. Das ist heute verniedlicht und zu einem Erlebnispfad in Freizeitanlagen verkommen. Ursprünglich ist das Dunkel (wie der Wald im Märchen, wie die Nacht auf See) die Folie, vor der die Kräfte aus dem eigenen Innern sich bemerkbar machen.

Im Dunkeln orientiert sich die Psyche wie im Traum. Sie setzt Wegmarken. Sie entfaltet das einmalige, grosse Abenteuer des Menschseins, ja der Menschheit auf ihrem grossen Weg. Sie weiss nicht, woher sie kommt, sie weiss nicht wohin sie geht. Sie hat nichts als Ahnungen. Sie hat nichts als die Furcht, die sich immer wieder in Katastrophen-Ängsten konkretisiert, dass ihr Weg im Dunkeln endet.

 

 

Sie hat nichts als die Hoffnung, die sie immer wieder in Herkunfts-Erzählungen vergewissert, dass sie aus einem anderen Ursprung entstanden ist, einem Ursprung, der die eigene Kraft übersteigt. Sie hofft in diesen Herkunfts-Erzählungen, dass ihr Weg einem anderen Willen folgt, so dass sie sich dort gehalten weiss – über alle Schwäche menschlicher Kraft hinaus, über all die Böswilligkeit und Unfähigkeit des Menschen hinaus, die immer nur Zerstörung zu bewirken scheinen.

 

Äussere und innere Welt

Zur Wahrnehmung der äusseren Realität, wie es Katsuhiro Otomo eindrücklich zeigt, gehört die Wahrnehmung der inneren Welt. Das Erzählen gewinnt seine Gewalt erst zurück, wenn die Mechanismen der inneren Welt, ihre Bilder und Mythen, aufgenommen werden. Das ist eigentlich schon ein Gemeinplatz im Zeitalter der Re-Mythologisierung.

 

 

Vom Glauben erzählen

 

  1. Februar 2004

Wir stehen kurz vor der Konfirmation – und haben das Wichtigste noch nicht angesprochen! Es ist auch nicht leicht zu vermitteln, ich weiss nicht, ob ihr so etwas von mir annehmt. Das ist der Glaube, Gott im Leben, die Mitte im persönlichen Leben. Das, worum wir all das machen, weshalb es Konfirmation und Kirche gibt. Ohne das ist alles nichts. Um das dreht sich alles.

 

Äussere Erzählung…

Es ist das Wichtigste, gerade darum fühle ich mich besonders ohnmächtig. Denn man kann es nicht lehren, nicht in eine Schulstunde packen. Man kann es eigentlich nur abrufen, wenn es da ist, aber nicht erzeugen. Ich kann von mir erzählen, weiss aber nicht, ob ihr es von mir annehmt.

 

 

Wenn ich anfange und von Gott und Christus erzähle, dann kommt das für euch wie von aussen. Das sind Namen. Sie sind belegt mit Bedeutungen; ihr habt vieles davon gehört. Es scheint eine Sache wie von andern, nichts was man in sich selber trägt. [2]

 

… und innere Erfahrung

Für mich ist es etwas Inneres: Das Gebet ist wichtig, beim Aufstehen, beim Schlafengehen, immer wieder. Das gehört zu der Art, wie ich mein Leben führe, wo ich Mut und Freude finde, wo ich Danken kann für Schönes, wo ich an andere denken kann, die ich gern habe und sie anvertrauen.

Es gibt Menschen, die leben strategisch; sie überlegen sich Ziele und Mittel, die dazu führen können. Das kann ich nicht. Ich habe die Übersicht nicht über all das, was ich brauche und was gut ist für mein Leben. Im Gebet stelle ich mich vor Gott, ich mache mich auf für seine Gegenwart. Dort kann ich alles hinbringen. Dort finde ich Kraft und Orientierung, dort kann ich meine Sachen übergeben – und mich selber.

 

Der Weg über die Mitte

So können wir im Gebet ins Zentrum der Wirklichkeit gehen. Dort gibt es Begegnung, Übergabe, Vertrauen. Und aus dem Gebet folgt alles Übrige.

 

 

Arbeit am Innersten

 

  1. Juni 2004

Ich möchte erzählen aus dem Leben eines Menschen, der viel erlebt hat von Unrecht und Gewalt und viel nachgedacht über den Frieden. Er hat dafür den Nobelpreis erhalten. Es ist Elie Wiesel, der in vielen Büchern von seinen Erlebnissen berichtet hat. Er war zwölf Jahre alt, als seine Familie zum ersten Mal deportiert wurde. Sie lebten damals in einem kleinen Dorf in Rumänien. Hitler-Deutschland hatte den 2. Weltkrieg entfesselt und begann, systematisch die Juden auszurotten. Mit 14 wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz getrieben.

 

Die Nacht

Nie werde ich jene Nacht vergessen“, so erzählt er, „die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.

Nie werde ich diesen Rauch vergessen. (…)

Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.

Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich für alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat.

Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten. (…)

Nie werde ich vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.“

         

(Zitate aus Elie Wiesel, „Die Nacht zu begraben, Elischa“, München 1961, S. 56)

 

Das Trauma

Diese Erlebnisse haben ihn im Innersten verstört. Wie soll man das auch verarbeiten, was er und seine Familie erlebt haben? Gewalt und Verfolgung – vielleicht weniger schlimm als damals, aber schlimm genug – gibt es an vielen Orten dieser Welt, auch heute noch. Wie sollen Menschen damit fertig werden? Da hört das Nachdenken oft auf.

 

 

Wir hören in den Nachrichten davon, wir fühlen uns hilflos, schweigen still und gehen weiter, wir haben keine Antwort. Elie Wiesel geht den Weg weiter. Er wird zum Zeugen für uns, kann erzählen, wie es ist an diesen Orten der Gewalt, wo der Hass entsteht und der Wunsch nach Vergeltung.

Das Ende des 2. Weltkrieges befreit ihn aus dem Konzentrationslager. Aber die Gewalt lässt ihn nicht los. Er ist jung, etwa 17 Jahre alt, und wird für die zionistische Bewegung rekrutiert. Diese kämpft für einen unabhängigen Staat Israel. Dabei setzt sie auch Gewalt und Terror ein. (Es ist das, was wir auch heute aus vielen Konfliktgebieten dieser Welt hören.) Wieder sieht sich Elie Wiesel mit Gewalt konfrontiert, aber jetzt steht er auf der anderen Seite!

 

Der Kampf

„Ich hatte schon einmal getötet. (…) Seit meiner Ankunft in Palästina, vor einigen Monaten hatte ich teilgenommen an zahlreichen Scharmützeln gegen die Polizei, an Dutzenden von Sabotageakten, an Überfallen auf Truppentransporte, die die grünen Pfade Galiläas oder die weissen Strassen der Wüste durchzogen. Häufig hatte es auf beiden Seiten Tote gegeben. Indessen war das Verhältnis immer zu unseren Gunsten ausgefallen, denn die Nacht war unsere Verbündete. Unsichtbar und unangreifbar konnten wir an den überraschendsten Stellen, in den unerwartetsten Augenblicken zuschlagen, ein Truppenlager vernichten, ein Dutzend Soldaten niedermachen und spurlos verschwinden. Zweck und Ziel der Bewegung war: die grösstmögliche Zahl Soldaten zu töten. So einfach war die Sache.“ (S. 180)

 

„So einfach war die Sache“ – Ist sie so einfach? Ist es so einfach, aus einem Opfer zu einem Täter zu werden?

Ist es so einfach, zu vergessen, was man erlebt hat? Wie man sich fühlt, wenn man verfolgt wird? Ist es so einfach, jetzt selber zu töten und zu morden? Die jungen Menschen in der Bewegung zögern, aber sie werden für den Kampf geschult. Ein Ausbildner meint:

 

 

Keine Wahl

Ich weiss, es ist ungerecht, es ist unmenschlich, es ist grausam. Aber wir haben keine andere Wahl. Generationen hindurch haben wir besser, reiner sein wollen als unsere Verfolger. Ihr kennt das Ergebnis: Hitler und die Vernichtungslager. (…) Wir können mit niemandem rechnen, nur mit uns selbst. Wenn es Not tut, ungerecht und unmenschlich zu sein, um diejenigen zu verjagen, die ungerecht und unmenschlich gegen uns gewesen sind, werden wir es auch werden…“ (182)

 

Plötzlich sieht sich Elie Wiesel auf die andere Seite gestellt, aus einem Opfer ist er zum Täter geworden. Er schreibt (S. 183):

„Das erste Mal, dass ich an einer Aktion teilnahm, hatte ich mich unmenschlich anstrengen müssen, um meinen Widerwillen zu unterdrücken. Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in dunkelgrauer Uniform, in SS-Uniform.“ (183)

Elie Wiesel erschrickt. Aus Opfern sind Täter geworden und aus Unschuldigen neue Opfer. Haben sie nichts aus der Geschichte gelernt? Und was ist mit ihm selbst, hat er sich nicht selber verloren auf diesem Weg? Hat er sich nicht denen angeglichen, die er am meisten hasste? „Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in … SS-Uniform.“

 

Wozu war all das Leiden gut?

Wozu war all das Leiden gut, wenn es jetzt einfach so weiter ging? Sollte es nicht aufrütteln und mithelfen, diesen Irrsinn zu stoppen? Verändert einen das Leiden nicht, sodass man sich verweigert und der Gewalt abschwört?

„Nein!“ sagt Elie Wiesel, „das Leiden schwemmt das Niedrigste, das Feigste im Menschen hoch. Es gibt im Leiden einen Markstein, hinter der man ein Tier wird. (…) Die Heiligen, das sind diejenigen, die vor dem Ende der Geschichte sterben.

 

 

Die anderen, diejenigen, die bis ans Ende ihres Schicksalsweges gehen, wagen nicht mehr, sich im Spiegel zu betrachten, aus Angst, er möge ihr inneres Abbild widerspiegeln: das Ebenbild eines Ungeheuers.“ (313)

Elie Wiesel hat beides erlebt, Gewalt und Gegengewalt. Aber es hat nichts gebracht. Gewalt bringt nie Frieden hervor, immer nur neue Gewalt. Sie erzeugt immer neue Opfer und neue Täter und hat nie genug. Friede wird so nie, und Gerechtigkeit hat keine Chance. Das Reich Gottes, ein Zustand, in dem Menschen in Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben – mit Gewalt lässt es sich nicht erzwingen.

Das „Heilige Land“ ist nichts, was man mit Gewalt erobern könnte – das hat schon jener Jünger erfahren zur Zeit Jesu, als dieser verhaftet wurde im Garten Gethsemane. Als die Soldaten kamen, zog er das Schwert. „Steck Dein Schwert zurück“, sagt Christus, „denn alle, die zum Schwert greifen, kommen durch das Schwert um.“ (Mt 26,52).

 

Arbeit im Innersten

So erlebt es auch Elie Wiesel. Liebe wäre eine Antwort, wir warten auf das Stichwort. Es ist das, was der Glaube lehrt. Aber die Liebe kommt bei Elie Wiese zu spät. Er ist zwar noch jung, als er aus dem KZ befreit wird, und er lernt auch eine Frau kennen, die ihm Liebe schenkt. Aber er kann sie nicht annehmen.

Es ist als ob etwas zerbrochen wäre in seinem Innern. Er kann Liebe nicht annehmen. Er kann es nicht fühlen, nicht auf sich beziehen. Er erkennt: Er trägt seinen bittersten Feind in sich selbst. Dort ist der Kampf noch nicht zu Ende. Dort entsteht er immer wieder neu, der Krieg, der Hass, die Ablehnung, die Scham.

Und er begreift: Er muss die Friedensarbeit bei sich selbst anfangen. Er muss hinabsteigen in sein tiefstes Inneres, wo er jene peinvollen Erinnerungen versteckt hält. Er muss seinen tiefsten Verletzungen wieder begegnen, denn dort entsteht das immer wieder neu. Aus Angst wird Hass und aus Hass Aggression.

 

 

Wenn er dort nicht zum Frieden kommt, bleibt er für immer gebunden an seine Geschichte. Sie hat sich ihm wie eingebrannt, immer wieder ist er verurteilt, sie zu wiederholen. Mit immer anderen Menschen. Wer in sein Leben tritt, der wird erfasst von seinem Misstrauen. Er sieht ihn im Bild der alten Erfahrungen, und die alten Gefühle steigen wieder auf. Er kann es nicht ändern.

Er muss Frieden finden in sich selbst. Und das gilt in grossem Massstab auch für all die Orte in der Welt, wo Konflikte herrschen, wo Krieg und Verfolgung geschehen. Da werden ganze Generationen von Menschen traumatisiert. Sie werden unfähig zum Frieden, weil man ihnen den Konflikt ins Innerste ein-pflanzt. Und so wirkt er immer weiter fort. Friedensarbeit ist eine Arbeit für Generationen, aber sie muss bei jedem einzelnen beginnen, dass er Frieden findet in sich selbst.

 

 

Ist das Leben mit 55 vorbei?

 

  1. Februar 2004

Es ist Nacht, ich liege wach und denke an Kollegen, denen es rund läuft, wo sich der Lebensweg fügt und sie zu Wachstum und Entwicklung kommen. Eines folgt aus dem andern, automatisch, wie ohne Anstrengung. Sie finden ihren eigenen Weg, das, was ihnen entspricht. Sie finden ein Gleichgewicht von innen und aussen, von Anforderung und eigener Lust. Bei mir will es nicht klappen, ich renne immer hinter Zielen und Wünschen her. Ich kämpfe immer mit Widerständen. Bald bin ich 55…

 

 

Einen Altar errichten

 

  1. Februar 2004

Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof und begegne zwei Menschen, die mich „schneiden.“ Ich habe genug, denke ich, ich gehe weg! Später besuche ich meinen Bruder Reto. Er ist neugierig auf alle Menschen. Das ist die Gegenkraft! denke ich. Ich will aufhören, alle Begegnenden auszuforschen, ob ich in ihren Gesichtern Ablehnung lesen kann! Ich will aufhören, „Ablehnung“ oder „Ja zum Leben“ bei anderen Menschen suchen zu wollen!

Ich will in meinem eigenen Leben, in meiner Familie, an unserem Tisch mit Freunden, Gästen und in mir selbst Inseln der Lebensfreude schaffen. Da gibt es Zuwendung, Interesse und Wertschätzung.

Egal, ob andere sich für dasselbe interessieren. Wenn ich es tue, will ich nicht davon abweichen, nur weil es ausserhalb scheinbar nichts gilt.

Ich will mich nicht davon abbringen lassen, ob es sie interessiert oder nicht.

Ich will in mir selbst einen Altar errichten, ein Licht anzünden, den Tisch decken, die Hände waschen, ein schönes Kleid anziehen und feiern!

 

 

 

 

Im Labyrinth

Bevor ich gehen kann

 

Im Februar 2005

Es gibt noch was zu lernen, bevor ich von hier weggehen kann: Versöhnung, Friede, Dankbarkeit. Die Reihenfolge ist nicht: Weggehen, eine andere Stelle annehmen und Erfolg haben, um mich mit meinem Lebensweg versöhnen zu können. Das ist nur beleidigter Stolz: „Euch zeige ich es noch!“

Es läuft umgekehrt: mich mit dem Leben an diesem Ort versöhnen und mich damit als Mängelwesen annehmen, als Mensch vor aller Leistung. (Das ist ja meine Sehnsucht, so will ich akzeptiert sein! „Erfolg“ ist nur eine Kriegsbemalung. Wenn ich mich so aufplustere und deswegen bejaht werde, fühle ich mich gar nicht gemeint.) Das kann dann als Abschluss der Lehrzeit gelten. Das ist dann ein Ausweis.

Darum soll ich keinen Auftrag gegen meine eigene Überzeugung annehmen. Gegen mein inneres Nein dringe ich nicht durch. Wenn ich es versuche, erlebe ich, wie ich selber den Auftrag boykottiere. Das ruiniert meinen „Ruf“ gegen innen und aussen.

 

 

Der richtige Beruf

 

  1. März 2005

Am Radio lesen sie einen russischen Dichter: „Ich habe viele Berufe gelernt, sagt er. Die Leute lachten. Ich habe gelernt, Mensch zu sein. Die Leute lachten nicht.“ Ich muss das Ziel nicht zuerst in einem Beruf suchen, ausser mir. Das Ziel ist in mir, dort kann ich Versöhnung finden. Der richtige Beruf findet sich dann.

Das Lachen der Leute enthüllt meine Angst, die deutlich wird hinter meinen vielen Berufen, und bei keinem kann ich stehen bleiben. Die Leute spüren meine Angst und lachen. Ich muss den Weg annehmen, wie Christus es tat auf dem Weg nach Jerusalem.

Die Reihenfolge ist umgekehrt: Es ist nicht so, dass die Leute mich auslachen und ich das Fürchten lerne. Zuerst ist meine Angst vor dem Weg, ich weiche aus und führe ein uneigentliches Leben. Das spüren die Leute, darum lachen sie.

 

 

„Tritt her in die Mitte“

 

  1. Mai 2005

An jenem Abend, als die Jünger sich hinter verschlossenen Türen aufhielten, da „kam Jesus und trat in die Mitte“.

In die Mitte – wie oft hat die Bibel erzählt, dass Jesus einen Menschen bat, in die Mitte zu treten! Immer wieder, wenn er einen Kranken geheilt hat. „Tritt her in die Mitte!“ sagt er ihm. Und er fragt: „Was willst du, dass ich dir tue?“ „Dass ich wieder sehen kann“, sagt der Blinde. Dass ich wieder gesund werde, der Kranke.

Er stellt den Menschen in die Mitte, auch den Verletzten, Verwundeten, Gedemütigten, den an den Rand geschobenen und Ausgesetzten, den mit Aussatz gebrandmarkten. Jesus berührt den Aussätzigen. Und so ist er nicht mehr unberührbar, nicht mehr aus-gesetzt. Er ist in der Mitte.

 

 

In die Mitte – wir feiern Gottesdienst. Wir möchten Kontakt finden zu unserer Mitte. Zu dem, was uns Ruhe gibt. Wo wir uns gehalten fühlen und in Kontakt zu dem, was den innersten Kern unseres Lebens ausmacht. – Da „kam Jesus und trat in die Mitte.“

Friede sei mit euch! sagt er. – Bei ihm können wir zur Ruhe kommen – und jene Hektik ablegen, das Gefühl von Verlust und dass wir etwas nachrennen müssen. Wir können ablegen das Gefühl, etwas Wichtiges nicht erreicht zu haben – die ewige Anstrengung, die nie an ein Ziel kommt. – Friede mit dem, was in der Vergangenheit liegt und uns plagt. Friede mit dem, was in der Zukunft vor uns liegen mag und uns Sorgen macht. – Friede ist jetzt, wo die Mitte bei uns ist. Jetzt ist das, was am Ende geschieht, wenn Gott alles vollendet. Jetzt ist das, was am Anfang geschieht. Gott macht seine Schöpfung neu. (…)

Wie mich der Vater gesandt hat, sende auch ich euch. Die Sendung, das ist der Clou dieser Pfingstgeschichte. Er gibt Geist von seinem Geist, damit wir tätig werden können: „in seinem Geist“, in seinem Sinn, in seiner Kraft. (…)

„Wenn ihr jemand die Sünden vergebt, sind sie ihm vergeben. Und wenn ihr sie jemandem als Schuld festhaltet, so sind sie als Schuld festgehalten.“ Vergebung, das ist der Sinn der Sendung. Das ist der Schlüssel, den er in unsere Hand legt, mit dem wir Mitarbeiter werden können an seinem Werk. In der Vergangenheit sprach man viel von „Schlüsselgewalt“ und man hat Machtansprüche davon abgeleitet. (Dass die Kirche vergeben kann oder nicht vergeben, dass sie die Tür zum Paradies aufschliessen kann oder nicht.) Aber es geht nicht darum, welche Macht derjenige hat, der den Schlüssel in Händen hält, sondern es geht um das, was er damit macht: dass er nämlich die Tür aufschliesst.

Die Tür, die er öffnen soll, das ist die Schuld, das ist die Last, das ist die Ausweglosigkeit. Es ist die Last der Vergangenheit, das Gefühl, mit seinem Leben in einer Sackgasse gefangen zu sein, weil kein Ausweg sichtbar ist. – Doch! Sagt Christus: Es gibt einen Ausweg: Er beginnt mit der Vergebung! Es ist die Last der Zukunft, die Sorgen, die den Weg verstellen. Ist da kein Weg mehr gangbar für mich? – Doch! „Friede sei mit dir!“ sagt Christus.

 

 

Das Trauma, die Mitte

Schauen wir noch einmal zurück auf diese Geschichte: Es ist Abend, es ist eine Geschichte vom Ende der Zeit (auch wenn sich dieses Ende in unserer Zeit ereignet, immer wieder): Sie erzählt, wie alles vollendet wird, wie das Alte aufhört und das Neue beginnt. Es ist Sonntag, der erste Tag der neuen Zeit.

Die Jünger haben sich eingeschlossen aus Furcht. Aber da ist Er in ihre Mitte getreten, durch die verschlossene Tür. – So war es auch am Ostermorgen. Auch die Tür zu seinem Grab war fest verschlossen, und ein Stein lag darauf. Aber er ist hindurchgegangen durch Grab und Stein. Er ist hindurchgegangen durch Tod und Unrecht. Er ist hindurch gegangen zum Leben.

Er kommt zu den Jüngern, eingeschlossen wie sie sind (wie in einem Grab), und tritt in die Mitte. Er ist die Mitte für uns. In der Mitte werden wir Frieden finden, die Unruhe in uns beruhigen, die Angst ablegen. Und Türen gehen auf. Und wir können hinausgehen, auf Menschen zu und die Botschaft weitergeben.

Friede sei mit euch, sagt er. Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch! Er haucht die Jünger an. Empfangt den Heiligen Geist. Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, so sind sie vergeben. Denn darum hat der Vater den Sohn in die Welt geschickt, nicht um sie zu richten, sondern um sie zu retten.

So ist das Ende der Zeit gekommen (mitten in unserer Zeit). Gott vollendet sein Werk. Es ist der erste Tag der Woche, alles wird neu: dort, wo wir uns gegenseitig vergeben können; wo wir uns gegenseitig annehmen – so wie wir sind, mit unserer ganzen Geschichte, mit dem, was gelungen ist, mit dem, was fehlt, da werden wir befreit aus unserem Gefängnis. Wir können herauskommen wie die Jünger und auf die Menschen zugehen. Alles wird neu, wo einer den andern annimmt. Wir legen ab Schuld und Vorwurf, und gehen hinaus aus unsrem Grab zur Auferstehung und zum neuen Leben – in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes.

 

 

Der richtige Ton

 

  1. Juli 2005

Im Traum bekomme ich ein altes Blasinstrument (es existiert in dieser Form nicht mehr, es wird mit einem unbekannten Ansatz gespielt). Ich versuche zu spielen – es geht. Ich kann ihm einen Ton entlocken, allmählich eine ganze Tonleiter. Ich spiele. Allmählich komme ich in ein inneres Verhältnis und es läuft wie von selbst. Ich weiss nicht, wie es geht, aber es geht. Ich „mache“ es nicht, ich stelle mir die Töne vor und blase – und sie klingen!

Vielleicht hat der Traum zu tun mit der letzten Beerdigung. Ich sitze vor dem Gottesdienst in der Kirche, ich bin aufgeregt. Geht es wohl? Treffe ich den Ton der Familie? Ich überlege mir, was ich selber glaube und sage es. So bin ich enthalten in dem, was ich sage. Und es „kommt an“, der Gottesdienst findet ein sehr gutes Echo.

Ich darf einen eigenen Ansatz haben, dann fliesst es wie die Musik im Traum. (…)

Früher dachte ich, die äussere Welt sei Realität, die innere Welt nur ihre Folge.

Heute denke ich, das Wesentliche geschieht im Innern. Das Äussere konstelliert sich nach dem, was dort geschieht oder wahrgenommen wird.

 

 

Der Tisch am Ende des Weges

 

  1. Juli 2005 [3]

Am Ende unseres Weges, da sind wir müde. Wir möchten ankommen. Wir kommen an einem Garten vorbei. Es ist Musik dort, ein Fest. Was ist es wohl?

Da kommt uns einer entgegen, und er lädt uns ein zu diesem Fest. Es ist Jesus Christus, er lädt uns ein an seinen Tisch. Und alle Menschen sind da, alle, die er hereingeführt hat zu seinem Fest. Und es ist ein grosses Wiedersehen.

Wir verstehen, was wir nicht verstanden hatten im Leben. Was verloren ist, wird gefunden. Was schmerzhaft war, ist verheilt. Was Unrecht war, ist versöhnt. Was Trauer war, ist verwandelt. Alles mündet in Frieden und Dankbarkeit.

 

 

Dieses Ineinander von Tun und Getragen-Sein

 

  1. Juli 2005

Letzte Woche hatte ich vier Beerdigungen. In einer Abdankung habe ich Halt und Haltung gefunden. Ich sass vorne im Kirchenschiff. Ich fand Ruhe in der Gewissheit, dass ich nur sage, was ich selber glaube. Das scheint belanglos. Dass es mir aber endlich gelungen ist, ist ein Meilenstein.

Vor einigen Tagen kam die Absage auf meine Bewerbung für eine Stelle. Es hat mich kaum noch berührt. Ich habe innerlich die Bewegung auf Ambach hin gemacht.

 

 

Dieses Ineinander von eigenem Tun und Getragen-Sein

Als Pfarrer habe ich die „Sendung“ entdeckt. Sie gehört zur Liturgie jedes Gottesdienstes. Ich habe sie bisher aber wenig beachtet. Vielleicht hängt das zusammen mit meiner Entdeckung des Abendmahles als einer Handlungs-Figur, die anstelle des Kämpfens das Bild des Sich-an-den-Tisch-Setzens vor Augen stellt. Dazu gehört auch das Bild des „Frucht-Bringens“.

Immer wenn ich Menschen traf, die ich bewunderte für ihre Haltung und für die innere Stimmigkeit ihres Lebens, dann sah ich, dass ihr Tun unter einem solchen Segen stand. Ihr Handeln hatte nichts von gequälter Anstrengung, so wie ich es bei mir selber kenne, wo Anfänge immer wieder abbrechen. Bei ihnen war es, als ob es einfach fliessen würde. Und wenn ich diese Menschen näher kennen lernte, hatte ich den Eindruck, als ob sie innerlich angeschlossen wären an einer Quelle. Sie mussten nicht mit sich selber kämpfen, sie konnten sich beschenken lassen.

Die Bibel hat ein eigenes Bild für dieses Geheimnis, für dieses Ineinander von eigenem Tun und Geschehenlassen, von Verantwortung und Vertrauen, das ist das Bild vom Frucht-Bringen. Derjenige führt nach biblischem Verständnis ein gutes und richtiges Leben, der eingepflanzt ist in guten Grund, der seine Wurzeln hinabstreckt bis zur Quelle.

So vergleicht uns Christus mit Trieben, die auf einem Baum wachsen. Ich bin der Rebstock, sagt er, ihr seid die Schosse. (…) Wir Menschen leben nicht aus uns selbst, wir sind eingepflanzt in ein grosses Leben. Und dort ist der Stamm, der Halt gibt, wenn auch sonst alles wankt. Dort ist die Wurzel, die hinabreicht bis zum Urgrund von allem, was ist. Dort sind wir angeschlossen an die Quelle des Lebens.

Und das ist das Geheimnis, wie es fliessen kann auch in unserem Leben: uns anschliessen an diese Quelle.“

 

Der Innere Altar

Petrus geht über Wasser

 

  1. Februar 2006

Petrus sitzt im Boot. Er ist mit den anderen Jüngern hinausgefahren. Der See ist stürmisch. Einmal, als die Wellen ins Boot schlagen, fürchtet er um sein Leben. Aber das Boot gibt ihm Schutz, hier fühlt er sich einigermassen sicher.

 

Petrus steigt aus dem Boot

Aber jetzt sieht er, wie Jesus auf den Wellen wandelt – ungeschützt, ganz ausgesetzt. Mitten im Sturm. Es hat eine ungeheure Leichtigkeit. Es ist nicht Sicherheit, es ist Vertrauen. Er stützt sich auf nichts, was ein Mensch machen kann, auf nichts, was zu dieser Welt gehört. Es gibt keine Bedingung in der Welt, die zuerst erfüllt sein müsste, damit er so leben kann, wie er sich das vorstellt. Er lebt bedingungslos und frei. Er hat sein Leben auf Gott geworfen, dieser trägt die Welt. Er hat sein Leben ihm anvertraut.

Petrus sieht Jesus auf dem Wasser gehen, und er begreift mit einem Mal, dass er sein Leben falsch verstanden hat. Es geht nicht darum, sicher im Schiff zu sitzen. So verliert er gerade, was er retten will. Es geht darum, das zu verwirklichen, was gemeint ist und was auch ihm zugesagt ist.

Und jetzt will auch Petrus den Schritt wagen.

(Wir wissen nicht wie lang er gezögert hat, hin und hergerissen zwischen dem Willen, hinauszugehen, und dem Zweifel, ob das trägt. – Ist es wirklich möglich, in seinem Leben auf nichts als auf Gott zu vertrauen? Trägt es mich, wenn ich alles loslasse und hinausgehe in das, was mir Angst macht? – So kann man ein halbes Leben verbringen, in diesem Hin und Her, bis man den Schritt wagt. Der Text sagt nicht, wie lange es bei Petrus gedauert hat; er erzählt, wie es ihm dann erging.)

Er ruft Christus an: „Herr, bist Du es, so heisse mich zu Dir auf das Wasser kommen!“ „Komm!“ sagt Jesus und Petrus steigt aus dem Boot. Und er geht. Das Wasser trägt!

Die Geschichte hat einen kleinen Nachspann, als Hilfe für uns. Als Petrus ausgestiegen ist, sieht er die Wellen von nah. Hier draussen macht der Sturm einen Höllenlärm, da fürchtet er sich. Er fürchtet um sein Leben, um seinen guten Ruf, sein dieses und jenes, wovor wir uns immer fürchten im Leben. Plötzlich ist es ihm nicht mehr geheuer, da draussen. Er möchte sich absichern, schaut sich nach dem Schiff um, um wieder einzusteigen. Da beginnt er zu sinken.

Er hat den Schritt getan, er hat erlebt, wie es ist, als freier Christenmensch zu leben. Aber „immer haben wir nicht“. Es gibt Rückfälle. Darum endet diese Geschichte mit dem ängstlichen, dem zweifelnden Petrus.

Wenn selbst das Fundament der Kirche schwankt, dürfen wir mit uns nachsichtig sein. Christus sagt wohl: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ Aber damit verurteilt er ihn nicht, damit will er uns sagen: Ihr dürft noch viel mehr glauben, ihr dürft viel mehr Vertrauen haben, als ihr denkt!

Als Christus sieht, dass Petrus sinkt, geht er ihm entgegen und hilft ihm. „Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus und ergriff ihn.“

 

 

Das Ja von aussen

 

Im Juni 2006

Am Anfang meines Glaubensweges stand das Beispiel von Theres in der WG: Wie sie in der Küche stand, den Dreck der andern abwischte und dabei sang. Ich hatte mich verschiedentlich bei meinen Kollegen beschwert. Ich arbeitete eine 60h-Woche. Wenn ich Frühstück machen wollte, musste ich erst alles wegräumen oder im Stehen essen. Da ich mit meinen Vorhaltungen nicht durchdrang, fühlte ich mich nicht respektiert. Nicht so Theres, sie wusch den Schmutz der andern weg und sang dabei. Ich spürte: das kann ich nicht. Diese Frau, die so unscheinbar dahinlebte, konnte mehr als ich. Woher hatte sie das? Ich wusste, dass sie religiös war.

Damals schenkte mir eine Freundin eine Bibel, die dann bei mir auf dem Nachttisch lag. Ich war nicht religiös, begann aber, darin zu lesen. Mit meinen historischen Interessen fand ich auf jeder Seite etwas Interessantes. Die Bibel füllte sich mit Randbemerkungen. Aber gewisse Anklänge des Glaubens waren in mir immer noch vorhanden. Und so führte mich die Lektüre, die Beschäftigung mit der Religion, mit meiner Glaubensbiographie in ganz andere Bahnen als nur zu einem archäologischen Interesse an den alten Hochkulturen.

 

Das „Ja“ von aussen

Ist es der Begriff „Heiland“, den ich in der Kindheit gehört hatte?

Diese verrückte, wahnsinnige und ganz und gar unwahrscheinliche Geschichte? Diese Geschichte, die die innerste Sehnsucht des Menschen aufnimmt – in Übererfüllung aller Bedürfnisse, wie sie ihm kaum je zu Bewusstsein kommen, wenn ihm nicht dieses „Ja“ von aussen entgegenkommt?

Diese Geschichte, die „ja“ sagt, bevor er auch nur zu bitten wagt, denn so hoch hat die arme Kreatur Mensch nie und nimmer zu hoffen gewagt?

 

 

Diese Geschichte, dass Gott selber zur Welt komme, zu den Menschen – dass der Mensch also gar nicht in dieser Nacht zu Hause sei, in diesem grauenerregenden Nichts, in diesem Abgrund der Verlassenheit, wo einer den andern verrät und jeder nur seine eigene Haut retten will…?

Das Beispiel von Theres war die Herausforderung für mich. Es war die Frage, die ich an mein Leben stellte: Kann ich das auch? Es beeindruckt mich! Das Leben ist nicht voll, es verdient den Namen nicht, wenn einer das nicht kann. Jedenfalls zeigt es, wie vorläufig ich noch lebe, dass da noch ganz anderes ist, von dem ich keine Ahnung habe, wo es mich aber mit jeder Faser meines Herzens hinzieht.

 

Die Märtyrer

Machen die Märtyrer die Gläubigen? Menschen, die etwas können, was als innere Notwendigkeit in allen niedergelegt ist, aber es kann nicht erwachen ohne dieses Bild von aussen, das zeigt, dass es nicht nur eine Chimäre ist, sondern etwas Notwendiges und Mögliches, ein Weg, wo das Leben durchwill und durchmuss?

Die Legende von Christophorus zeigt, wie jeder dem Höchsten dienen will, und er geht von einem Herrn zum andern, bis er den höchsten gefunden hat. Aber es sind im Leben immer konkrete Gestalten, konkrete Geschichten.

 

 

Ein Garten ist nicht genug

 

  1. Juni 2006

Ein freier Sonntag, ich schaue ein altes Fotoalbum an. Erinnerungen steigen auf an die Schulzeit. In der „Sek“ interessierte ich mich für Physik und Chemie. Als ich in einem Buch das Periodensystem der 92 Elemente entdeckte, hatte ich das Gefühl, den „Stein der Weisen“ gefunden zu haben: Alles ist aus Wenigem aufgebaut, alles lässt sich verstehen! Später war es die Astronomie. Dieses Interesse nahm ich in die Lehre mit. Ich bastelte ein Fernrohr.

 

 

In die Lehre ging ich wie ein Lamm zur Schlachtbank. Ich hatte das Gefühl: man muss sich verkaufen, damit man ein Dach über dem Kopf hat und etwas zu essen. Alles, was einem wichtig ist, muss man verraten.

Diese Ambivalenz begleitet mich bis heute. Da ist die Faszination: „Alles lässt sich verstehen“, auch ich habe Zugang dazu. Da ist ein Schatz, den ich suche. Da ist aber auch das Misstrauen gegen die Welt da draussen. So ist es ein Schatz, den ich hüten muss. Es interessiert niemanden sonst oder sie machen es runter. Und ich muss ihn selber verraten, wenn ich überleben will, denn „aussen“ gelten andere Gesetze.

 

Auch das ist die äussere Welt

Ein anderes Bild im Album zeigt das „Tea-Room“ der Eltern. Damals gab es ein „Fernseh-Stübli“ und ein Gerät, das die TV-Programme auf eine Leinwand projizieren konnte. Das war eine Aufgabe für uns Kinder. So konnten wir TV schauen über die übliche Erlaubnis für Kinder hinaus.

So sah ich Bilder von den KZs, die damals  im TV gezeigt wurden: Leichen, Berge von Schuhen, Brillen, abgeschnittene Haare… Das fiel tief in mich hinein, vertiefte mein Grauen vor dem, was Leben sein kann, was unter einer Decke lauert, und wehe, wenn es hervorkommt.

 

Den Schatz suchen und verstecken

Meine Kindheit hat mir eine ambivalente Haltung mitgegeben: zwischen der Faszination, die mich den Schatz suchen lässt und einem Misstrauen gegen die Aussenwelt, so dass ich den Schatz verstecke.

Heute habe ich in den „Bekenntnissen“ von Augustinus gelesen: „Was soll all dies Reden, Gott? Kann denn ein Mensch Worte finden, die Deiner würdig wären? Aber wehe denen, die von Dir schweigen.“ Es ist paradox: Von Gott reden ist nicht möglich. Es erreicht ihn nicht. Von ihm schweigen ist aber auch nicht möglich. Auch das heisst, sein Leben zu verfehlen, wenn man es für sich halten wollte! Das Paradox kann aber auch eine Hilfe sein: Weil reden nicht möglich ist, ist auch das Stammeln erlaubt. Und der, der nur stammelt, darf der Aufgabe nachgehen, die ihm auferlegt ist.

 

Aussen und innen müssen zusammenwirken

Der Übersetzer fügt einen Kommentar bei von Adolf von Harnack: „Zur vollkommenen Religion, die im Lobpreis Gottes besteht, gelangt der sündige Mensch durch das Zusammenwirken zweier Faktoren: eines seelischen und eines geschichtlichen, nämlich der anerschaffenen Richtung des Herzens auf Gott zu und der glaubenerweckenden Verkündigung.“  (A.a.O. S. 413)

 

Glauben schützen oder wecken?

Das ist neu für mich: die Verkündigung mit dem Ziel, Glauben zu erwecken. Nicht verharren in der Genügsamkeit, dass Gott die Seinen schon zu finden wisse. Nicht nur das Kostbare vor denen schützen, die es in den Schmutz reissen. Nicht nur eine Schatz-Suche und ein Horten für eine unbekannte Zeit, die vielleicht nie kommt.

Oder kommt sie? – Jedenfalls habe ich keine Vorstellung, wie sie je kommt und wie die berufliche Stelle je beschaffen sein könnte, dass ich das aussprechen kann, was mich zutiefst bewegt und mich seit Jahren beschäftigt. Worin sich mein ganzes Leben widerspiegelt mit den „Aufträgen“, die ich gefasst habe, mit dem Skript, dem ich gefolgt bin, und wie die Motivationen alle heissen, ob sie ans Ziel führen oder davon ab.

Ob dafür die Zeit für mich gekommen ist? Weil ich selber einen Weg gemacht habe im Glauben? – Weil ich mir nicht mehr eine Rückzugsposition freihalte zu einem Leben ohne Glauben? – Weil das meine Entscheidung geworden ist, die ich nicht mehr umkehren kann, ausser ich verwerfe mein ganzes Leben?

 

 

„Glaubenerweckenden Verkündigung“

Das Wort „Erweckung“ hätte mich früher abgeschreckt. Heute fallen mir dazu Erlebnisse ein mit Kranken, Sterbenden, in der Seelsorge. Momente von grosser Ruhe, grossem Frieden. Da ist nichts von Enge, viel von Weite. Nichts von Eifern, viel von Ruhe. Es gibt verschiedene Formen von Erweckung.

Bin ich nicht selber so zum Glauben gekommen? Neben den inneren Bildern gab es doch auch die Bilder von aussen, das Evangelium? (Es gab mindestens den Satz meiner Mutter, wenn ich von zuhause wegging: „Heb‘ Gott vor Auge!“)

Soll ich das denen schuldig bleiben, die mir als Pfarrer anvertraut sind? Soll ich Gott verstecken wie einen Schatz, über dem ein Drache haust – der Drache der Angst, verlacht und verletzt zu werden?

 

 

Das schwarze Schaf der Familie

 

  1. Dezember 2006 [4]

Schönheit, ein erfülltes Leben, sich entfalten, Gesundheit – die Bilder, die wir haben vom Glück, sind geprägt von unserem persönlichen Leben. Wir leben heute vereinzelt. In der Hälfte der Haushalte lebt heute nur ein einziger Mensch. So ist auch das Glück individuell, das wir uns vorstellen. Und Bibeltexte, die von Freiheit reden, und dass Gott sein Volk aus der Gefangenschaft führt, sind uns fern.

Wie ist es denn mit unseren Erfahrungen von Gemeinschaft? – An Weihnachten kommt die Familie zusammen – nicht nur die, mit denen man im Alltag Kontakt hat. Auch jenen Bruder trifft man wieder, mit dem man sich auseinander gelebt hat, und die Schwiegermutter, von der man sich nie wirklich akzeptiert fühlte. In manchen Familien gibt es so etwas wie ein schwarzes Schaf. Wenn dem Hans etwas geschieht, so finden es gleich alle typisch. So ist er eben! Oder wenn Tante Trudy einen Fehler macht, wundert es niemanden, man hat es immer gewusst.

 

 

Bilder prägen. Sie sind entstanden aufgrund von Erlebnissen. Hans ist wirklich ein paar Mal in etwas reingerasselt und Trudy hat wirklich Fehler gemacht. Aber die Bilder, die wir von ihnen haben, weisen ihnen auch einen Platz zu. Und solche Bilder können fest werden wie ein Gefängnis, aus dem man kaum mehr ausbrechen kann.

Kein Wunder machen die Bilder etwas mit den Menschen, die das immer hören. Irgendwann sagen sie „ja“ dazu. „Ja, dann bin ich halt so!“ „Ich bin wirklich anders. Ihr wollt es ja so, jetzt müsst ihr mich auch haben.“ So entsteht ein schwarzes Schaf, das trotzig die Rolle spielt, die man ihm zugewiesen hat.

Denn es ist eine Rolle, machen wir uns nichts vor. Das schwarze Schaf hat seinen Ruf nicht nur abgekriegt, weil es immer über die Stränge schlägt. Andere haben das auch getan und werden nicht immer blossgestellt. Das schwarze Schaf hat eine Rolle, es erfüllt eine Funktion: Die Schwester, wenn ihr ein Missgeschick passiert, ist aus dem Schneider, denn der Bruder ist ja der, der immer alles kaputt macht. Oder der Bruder steht gut da, denn es gibt jemanden, auf den sich die Enttäuschung und der Zorn konzentrieren, der „abonniert“ ist auf diese Rolle vom Blitzableiter. Das geht bis in die Geschäfts-Etagen: Im Konkurrenzkampf tut es gut, wenn es einen Versager gibt in der Firma. Man hat nicht selbst den Schwarzen Peter.

Jetzt tauchen andere Bilder auf von Glück, oder was Glück beeinträchtigt. Wir leben nicht nur für uns allein, wir sind immer Teil einer Gemeinschaft. Wir erfahren die anderen Menschen in Form von Erwartungen, die sie an uns richten, als Rollen, die wir spielen, und wir erfahren Anerkennung oder Ablehnung, je nachdem wie wir den Erwartungen gerecht werden. Und mit der Zeit bildet sich ein Ruf heraus, ein Name. Man kennt die Menschen halt mit der Zeit, oder man meint, sie zu kennen. Ihr Name geht ihnen voraus. So hat man sie erlebt.

Dieser Ruf, den wir haben, ist eine Folge von dem, was wir tun. Umgekehrt beeinflusst er aber auch das, was wir machen. Und manchmal prägt er ein Bild wie ein Gefängnis. Eine Rolle verfestigt sich. Und so wird jemand zum Aussenseiter – oder auch zur „G‘müts-More“, die immer Witze macht, die sich die Verantwortung auflädt für das gute Klima in einer Familie…

 

 

Viele Rollen gibt es da, vom Anführer bis zum Mitläufer, vom Kritiker, der überall das Haar in der Suppe sieht, bis zum Berufs-Optimisten, vom Macher, der alles in die Hand nimmt, bis zum „Therapeuten“. Dieser lädt sich die Sorgen der anderen auf und spürt schon als kleines Kind, was die Mutter plagt. Er hilft ihr. So findet er Anerkennung und eine Rolle im Familiengefüge. So werden Lebenspläne geschmiedet, man spürt es kaum, Identitäten werden geprägt, die einen ein Leben lang begleiten.

«So weit, so gut!» könnte man sagen, wenn das nicht auch eine Quelle von Leiden wäre, wo ein Leben verbogen wird, oder wo eine Gemeinschaft einen unguten Weg geht.

 

Gefangenschaft
Das schwarze Schaf, das in der Familie isoliert wird, erlebt einen grossen Leidensdruck. Der Jugendliche, der nicht gut tut, und irgendwann seine dunkle Rolle übernimmt und zum Aussenseiter wird; das Kind, das von der Schulklasse gehänselt und geplagt wird und sich nicht mehr in die Schule traut; der Mitarbeiter, der am Arbeitsplatz immer wieder vorgeführt und blossgestellt wird – sie alle erleben Gemeinschaft von einer unguten Seite.

Die Gemeinschaft denkt, sie sind das Problem, die Gruppe zeigt mit den Fingern auf sie und nimmt sie als Ursache der Probleme wahr. Sie aber fühlen sich ohnmächtig und gefangen in einem Alptraum. Es ist wie verhext. Sobald sie in diese Gruppe kommen, legt sich ein Joch über sie. Sie wissen, wie sie gesehen werden, und so verhalten sie sich auch.
Mit andern Menschen, aus anderen Gruppen, können sie normal verkehren. Darum wissen sie noch, dass sie normal sind. Aber sobald sie in diese Gruppe kommen, verändert sich ihr Verhalten. Sie tun das, was erwartet wird, aber das, was sie selber gern tun würden, das können sie nicht. Sie bestätigen das Bild, das die andern sich von ihnen machen.

 

Befreiung
Es ist wie ein Gefängnis. Sie können nicht ausbrechen. Ist die Rede von Gefangenschaft also fremd für uns? Es sind nicht wenig Menschen, die sich in ihrem Leben unfrei fühlen, verstrickt in Zusammenhänge, die sie selber nicht lösen können. Ist es verkehrt, wenn sie auf Gott hoffen?

 

 

Sagt er beim Propheten nicht, dass er kommt,

um den Elenden frohe Botschaft zu bringen,

zu heilen, die gebrochenen Herzen sind,

den Gefangenen Freiheit zu verkünden

und den Gebundenen Lösung der Bande? (Jes 61, 1f)

 

Welche Hilfe gibt es für solche Menschen, die in „systemischen“ Zwängen stecken? So redet die moderne Seelsorge davon. Sie nimmt damit zur Kenntnis, dass unsere Lebenssituation mitbestimmt wird durch die Gemeinschaft, der wir angehören. Es ist klar, dass übergeordnete Stellen in diesem „System“ eine Verantwortung haben: Eltern, Lehrer, Behörden, Arbeitgeber.

 

Wertschätzung

Aber was kann der Einzelne selber dazu tun? Kann er das überhaupt: etwas tun, da er sich doch als Opfer fühlt? Ja, es gibt etwas, es gibt eine Art von Mitspielen in diesem Theater, wo auch der einzelne etwas tun kann, um davon weg zukommen. Aber es braucht viel Vertrauen. Darum ist die biblische Botschaft wichtig. Die Zusage Gottes für alle Menschen.

Solche Menschen haben oft wenig Selbstvertrauen. Sie haben oft schon in der Kindheit eine Schwächung erlebt. Darum werden sie auch „ausgewählt“, wenn eine Gruppe ein Opfer sucht, an dem sie ihre Impulse abführen können.

Ich denke an einen Menschen aus der Seelsorge. Er ist nicht von einer religiösen Gruppierung losgekommen, obwohl er dort immer wieder „abe-g‘macht“, wie Dreck behandelt wurde. Warum lässt er sich das gefallen? fragte ich mich. Bis ich begriff:

Er war das von Kindheit an gewohnt. Und wenn er wieder „abe-g‘macht“ wurde, hatte er so etwas wie ein Aha-Erlebnis: Ja, so ist es, ich bin nichts wert. Endlich sagt einer die Wahrheit über mich. Man konnte ihm hundertmal sagen, er sei ein wertvoller Mensch, er hörte es nicht. Er nahm es als billigen Trost. In Wirklichkeit, denkt er, haben sie eine ganz andere Meinung von mir. Ich bin nichts wert. Er hat die Sicht der andern übernommen. Er spielt mit in dem Spiel.

 

 

Er setzt sich selber herab und überbietet die andern noch in der Kritik, als ob er ihnen damit Wind aus den Segeln nehmen könnte – damit ihr Zorn an ihm vorübergeht.

Was hier fehlt ist Wertschätzung. Und wer sich selber nicht wertschätzen kann, wird das auch nicht von andern erfahren. Sich selber wertzuschätzen in so einer Situation, das ist aber ein Kunststück, wie sich selber am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Darum ist der Zuspruch von aussen wichtig. Darum ist das Evangelium wichtig. Darum kann der Glaube eine grosse Rolle spielen beim Heilen. Denn im Glauben erfährt der einzelne einen unbedingten Wert.

Wertschätzung – das ist das, was Menschen in dieser Situation helfen kann:
Gegen die Entwertung, die sie seit ihrer Kindheit erlebt, gegen die Entwertung, die sie verinnerlicht haben, als ob es die Wahrheit sei; gegen die Entwertung, die sie immer wieder einstimmen lässt, wenn jemand verächtlich von ihnen spricht.

Der Weg ist Wertschätzung. Wertschätzung auch von dem, was sie gelebt haben. Auch wenn sie gleich widersprechen würden, sie hätten ja nichts geleistet. Aber Gott hat sie geführt auf diesem Weg. Er hat sie aufgesucht im Exil. Sie waren nicht von Gott und Welt verlassen, als sie die dunkelsten Stunden ihres Lebens erlebten (das, von dem sie niemandem erzählen). Gott war bei ihnen. Gott war im Exil, wie damals mit seinem Volk in Babylon.

Darum ist diese Zeit nicht wertlos, die sie am liebsten aus ihrer Biographie streichen würden. (Aber so lange sie sie ablehnen, so lange bleiben sie darin gefangen.)

 

Die Vergangenheit annehmen

Sie dürfen die Vergangenheit annehmen, weil Gott sie annimmt. Was schrecklich ist und unaussprechlich: Gott hat es geheiligt durch seine Gegenwart. Und so, aus dem Annehmen der Vergangenheit, aus dem Versöhnen mit dem, was war, wächst der Weg in die Zukunft. Gott führt auch heute sein Volk aus der Gefangenschaft und schenkt Befreiung.

 

 

Darum dürfen wir die Botschaft glauben, als ob sie nur für uns in der Bibel stünde. – Sie steht für uns in der Bibel: „Tröstet, tröstet mein Volk! Spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat. Um euretwillen habe ich nach Babylon geschickt und die Riegel eures Gefängnisses zerbrochen. Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will Neues schaffen, schon beginnt es zu wachsen. Hört ihr es nicht?“

 

Segen
Der Segen richtet sich meist auf die Zukunft. Aber ohne Versöhnung mit der Vergangenheit gib es keine Zukunft. Darum steht hier ein Segen für den vergangenen Weg, den wir Menschen gegangen sind, auch wenn dort etwas Verletzendes verborgen sein mag:

 

„Ich segne deine Vergangenheit, spricht Gott,

dass du als der Mensch, der du bist,

 

den Ich hierhergeführt habe,

mit all deinem Denken und Fühlen,

 

jetzt vorwärts gehen kannst

und auf deine Gefühle vertrauen,

 

ohne Scham, voller Lebendigkeit,

denn Ich habe dich geführt!“ Amen

 

 

Innen und Aussen

Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr

 

Mitte Februar 2007

Mitte Februar, ich tauche nach der Grippe wieder auf. Jener 13-Stunden-Tag war offenbar zu viel, oder all das, was vorher war. Am Samstag pflege ich noch Deborah, die krank in Bett liegt, am Sonntag schreibe ich eine Beerdigung, am Montag erwischt es mich selber. Grippe.

Aussen heisst es „Krankheit“, innen sind es tausend Holzwurmgänge, durch die die Psyche geht. Gänge, Irrgänge, Auftauchen, Abtauchen, Traumbilder und Einsichten. Schmerzen werden als Weggeld gezahlt. Der Wunsch, sie nicht umsonst bezahlt zu haben! Einmal schreibe ich auf einen Zettel, um gewissermassen den Ertrag zu retten: Die Kraft des „ICH KANN NICHT MEHR!“ umsetzen!

In der ersten Woche der Krankheit war es wie Zauberei, wie sich alles löste. Es war wie die Kraft des Todes, eine höhere Gewalt. „Ich kann nicht mehr“. Und damit war es abgetan. Ich spürte, dass ich das in Handlung umsetzen müsste. Das brächte mein Leben auf eine neue Bahn. Selber nein sagen, die Folgen tragen, etwas Neues suchen, statt es einer Krankheit zu überlassen.

Ich spürte – es hat unerhörte Kraft: das „Ich kann nicht mehr!“, das zu einem „Ich will nicht mehr!“ werden möchte, könnte, sollte – wenn ich mich denn getrauen würde.

 

 

Die Möglichkeit des Scheiterns

 

Im März 2007

Ich beginne ein „Jesus Christus Tagebuch“. Über Christus nachdenken, das geht nicht abgelöst vom täglichen Leben. Denn Zugang zu ihm habe ich nur im aktuellen Leben, nicht, wenn ich daraus herausgelöst bin.

«Als wahr leuchtet nur ein, was die Möglichkeit des Scheiterns an sich trägt» Nur so findet es jene Überzeugungskraft nach Rosenkranz. So kennt jeder Mensch sein eigenes Leben. Und was beim Lesen diesen „thrill“ nicht vermittelt, ist von vornherein langweilig und wirkt wie eine Lüge. Es ist geschrieben aus einer falschen Sicherheit, abgeschirmt vom Leben durch Schreibtisch und Bankkonto.

 

 

 

 

Ein Kompass findet sich

 

  1. März 2007

Erste Woche meiner Ferien. Ich möchte dran bleiben am „Weg mit Christus“. Er ist da im Gebet, nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Er ist auf positive Weise da. Mein Leben ist auf einem guten Weg-Stück.

Am Morgen halte ich fest: Die richtigen Gedanken über Ihn zeigen sich in einem tiefen, inneren Glücksgefühl. (Seinen Namen gegen aussen vermeiden – die Leute meinen, sie wüssten wer Christus sei, sie hören gar nicht hin.)

Ich will sein Bild in mir noch stärker werden lassen. Wie eine Ikone. Ich habe das Bild eines Berges an die Wand gehängt, ich habe es vor Augen. Das ist eine andere Art, sich etwas vorzunehmen, nicht mehr mit Agenda und Vorsatz wie früher, sondern mit einem Vor-Bild: sich das Bild einprägen, sich zum Bild auf den Weg machen, Freude auf dem Weg empfinden, auf jedem Schritt. Das ist der Weg der Ostkirche.

 

 

Das Leben selbst

 

  1. Mai 2007

Morgen ist der Todestag meines Vaters. Alles geht so schnell vorbei. In mir ist alles noch lebendig, ich möchte am liebsten hingehen und meine Eltern besuchen. Aber hier sieht alles anders aus, neue Häuser stehen da, das Grab meiner Eltern liegt anderswo auf dem Friedhof.

Was ist das eigentlich: ein Leben? Mein ältester Bruder – vieles erinnert mich hier an ihn – ist schon gestorben. Die andern sind in die Jahre gekommen. Wer weiss, wie lange ich sie noch habe.

Jene “unendliche Zeit“, die ich in mir drin spüre, wo alles noch Gegenwart ist, und wo man in der Zeit rückwärts und vorwärts fahren kann und alles ist gleichzeitig – in der Aussenwelt ist diese Zeit sehr begrenzt. Es ist, als ob die Wirklichkeit verzaubert wäre. Was ich sicher weiss, finde ich nicht. Woran ich mich genau erinnere, ist nicht mehr da. Und das, was ich finde, von dem weiss ich nichts.

Vor drei Wochen bin ich 58 Jahre alt geworden. Fast 60, dachte ich, und bin nachträglich erschrocken. 60 – ist so etwas wie eine Grenze. „Vorher“ ist das aktive Leben, die Zeit, die man zur Verfügung hat, „nachher“… Die Zahl mahnt mich wie das schlechte Gewissen: Die Zeit vergeht, bald ist sie zu Ende, ich sollte…! Aber was sollte ich? Die Zahl weiss nichts, sie drängt und mahnt und verbreitet Hektik. Als ob ich etwas verpasst hätte, gegen besseres Wissen, und bald wird es sich rächen. Aber was habe ich verpasst? Weiss ich es denn? Wo steckt das Wissen über das richtige Leben, wenn nicht im Kopf? Das schlechte Gewissen behauptet eine Verantwortung, von dem der Rest nichts weiss.

Was ist das, ein Leben? Mein Leben? Was wird es sein, wenn es fertig ist? Habe ich nicht vieles schon vertan und verpasst? Überall stehen die Schilder „man sollte!“ – Was ist ein Leben, wenn man alles falsch macht?

 

Der rote Faden im Leben

Das Leben ist ein Rätsel, ich verstehe mich nicht darauf. Wozu das alles? Ich habe es nicht im Griff. Soll ich mich treiben lassen? Das wäre unberechenbar, es würde mir Angst machen. Aber wie soll ich etwas angehen, was ich nicht in der Hand habe? Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Habe ich Ja gesagt zum Leben? Bin ich etwa gefragt worden? Oder gibt es ein Ja im Nachhinein? – Ich habe den Anfang nicht gewollt. Als ich älter wurde und zu denken begann, habe ich mich vorgefunden in dieser Welt. Und es gab keine Gebrauchsanweisung zum Leben.

Soll man das Weg nennen, wo ich drauf gehe? Hat es einen Anfang und ein Ziel? Oder ist es einfach eine Spur, weil hier viele schon gegangen sind? Einer läuft dem andern nach und die Füsse treten einen Pfad ins Gras, aber der führt nirgends hin. – Ist es nicht wie damals, als ich mich im Wald verirrte. Da stiess ich auf einen Weg. Aber ich freute mich zu früh. Das war nicht der Weg in ein Dorf. Er führte weiter in den Wald hinein und endete an einem Platz, wo man Holz schlägt – ein Holzweg.

Und wo stehe ich heute? Habe ich die Hälfte schon geschafft? Kommt noch viel? Liegt der Aufstieg jetzt hinter mir? Kann ich eine Pause einlegen, den Rucksack auspacken und essen und trinken? Wo ist die Mitte auf diesem Weg? Wo ist der Ort, wo ich zur Ruhe komme? –

Wie soll ich an ein Ende glauben, das nicht schrecklich wäre, weil es von aussen einbricht wie der Anfang? Ich kann nicht immer abwehren. Eines Tages mag ich nicht mehr, ich habe keine Kraft mehr.

Und doch spüre ich, wenn ich auf das Leben zurücksehe, immer auch so etwas wie einen Weg. Aber er zeigt sich erst im Nachhinein. Da finde ich etwas in der Erinnerung und dort etwas anderes, und im Nachhinein gibt es eine Verbindung, die ich damals nicht gesehen habe. Manches fügte sich im Leben. Ein Erlebnis fällt mir ein, es war schrecklich. Und so lang es dauerte, wehrte ich mich dagegen. Aber nachher hat es sich als gut herausgestellt.

Mein Leben machte damals einen grossen Schritt. Als ob im Fotoalbum eine Seite umgeblättert würde und ein neues Kapitel erscheint.

Hinterher gibt es vielleicht so etwas wie eine rote Linie in meinem Leben. Aber das war nichts, dem ich bewusst gefolgt wäre. Hätte ich dem folgen können, wenn ich es früher gewusst hätte? Hätte ich mich weniger gesträubt? Chancen deutlicher ergriffen? Kann man seiner roten Linie folgen? Oder heisst das, beim Wandern den Höhenkurven entlang gehen wollen, weil sie auf der Karte aussehen wie ein Weg?

 

Das Fest

Wenn es einen Weg gibt durch das ganze Dickicht – wie soll ich ihn gehen können, wenn er sich erst im Nachhinein zeigt? Ein Weg ist ein „Weg“ durch ein Ziel, zu dem er führt. Ich habe aufgegeben, mir Ziele zu setzen, die ich doch nicht erreichen kann.

Auf der anderen Seite kenne ich die Sehnsucht nach Ankommen. „Ankommen“ – das ist nicht „Ende“. Das Bild eines Festes stellt sich ein. Ein Garten, ein grosser Tisch ist gedeckt, viele Menschen sitzen beisammen unter Bäumen. Ich möchte vorbeigehen, ich bin ja fremd. Aber da kommt einer mir entgegen. Er ist es und lädt mich ein. Auch ich gehöre dazu. Auch für mich ist der Tisch gedeckt. Und alle sind da…

Das Haus Gottes als Einkehr-Ort? Als Taverne? – Als Tabernakel, wo er den Tisch deckt. Er lädt zum Fest, es ist das Bild des Ankommens. Es ist die Kraft für den Weg. Darum geht es hier: um Taufe und Abendmahl. Um den Weg, der hinabführt in den Tod und wieder hinauf zu neuem Leben. Um das Mahl auf dem Weg. Um den Becher von jenem Tisch, an dem am Ende alle zusammen sitzen.

Aber wie finden wir zum Brunnen, der gespiesen wird aus jener Quelle? Wir ahnen etwas, sehen es nicht. Es ist wie im Traum gesehen. Wenn wir Licht anmachen, ist es weg. Und doch ruht es in uns selbst, wir tragen ein Wissen in uns. So wie einer das Bild der Geliebten in sich trägt, schon bevor er sie kennt. Und wenn er sie sieht, ist es wie Wiedererkennen. „Es ist als ob wir uns schon lange gekannt hätten“, sagen sie.

 

Das innere Bild

Etwas kommt an ein Ziel, das in uns angelegt war, wir wussten es nicht, aber wir ahnten es. Es erscheint uns in Träumen. Es hat den Weg gezeigt in einer Sprache aus Bildern. In dieser Sprache sind die Grenzen aufgehoben. Da gibt es nicht nur ein Stück Leben, sondern das Leben selbst. Da sind nicht nur ich und Du, auch mein Vater ist da, meine Mutter, meine Brüder, und alle Menschen, die vor mir waren. Und Jakob, der am Anfang stand der Stämme. Und Adam. Und der, der uns vom Ende her entgegenkommt. Er ist es, den wir als Bild schon lange in uns trugen. Und wir wussten es nicht. Aber wenn wir ihn sehen, ist es wie Wiedererkennen. Es ist, als ob wir uns schon lange gekannt hätten. Ich erkenne ihn wieder, und werde von ihm erkannt. Und das Leben findet die Gestalt, als die es schon immer gedacht war.

 

 

Vom Auftauchen goldener Gefässe

 

  1. November 2007

Ich drehe eine Runde um das Haus. Es ist schön, in der Sonne zu gehen. Das Licht fällt golden auf die Wege. Ich wechsle die Seite, will im Licht gehen. Wie Rauch steigen kleine Nebelschwaden aus dem Bach auf und leuchten in der Sonne. Der Winter hatte schon erste Vorboten geschickt, es schneite bis zu uns hinunter. Jetzt ist noch einmal die Herbststimmung zurückgekehrt. Es sind letzte Tage. Man muss jeden Blick geniessen. Die Büsche stehen fast ohne Blätter, die Herbststürme haben sie leergefegt. Die letzten Blätter sind aufgehängt wie Lampions und strahlen in der Sonne.

Alles ist freundlich in diesem Licht. Niemand kann traurig sein. Alles wird gut. Als ob das Licht eine Botschaft hätte vom Leben.

Ich will es auch in mir aufleuchten lassen. Gestern im Gottesdienst in Unterambach ist es gelungen. Ich konnte den Kreis um die Gemeinde ziehen, uns „in die Mitte stellen“, in das Licht, das von dort ausgeht. In Ambach ging es nicht. Die Leute sassen weit weg, ich konnte nicht auf sie zugehen, ich sah sie nicht.

Alle paar Minuten knallte eine der vier Türen, weil der Sturm um das Haus zog (bis ich mitten in der Predigt hinunterging und die Tür abschloss). Ich konnte die Menschen nicht erreichen, ich hatte das Gefühl, ich stünde in einem Durchgangsbahnhof und der Wind pfiffe mir um die Ohren.

Es gibt eine Methode, um sich auf etwas vorzubereiten, um das Innere nach aussen ausstrahlen zu lassen, um das wirksam werden zu lassen, das schon da ist: es visualisieren. Sich auf das richtige Ziel besinnen: es vorstellen, innerlich hindurchgehen, wieder und wieder.

 

Die Quelle, zu der wir gehen.

Vieles ist bei mir innerlich schon da. Vieles möchte jetzt aussen leben, aber es stösst noch auf alte Hindernisse. Die Zeit vor Advent und Weihnachten ist streng, ich habe 25 Anlässe. Aber ich mache es gern, mit innerer Zustimmung. Oft, wenn ich freihabe, sitze ich hin. Es ist mir ein Bedürfnis, die Bibel hervor zu nehmen. Als ob ein goldenes Licht von ihr ausginge. Ich werde ruhig. Ich finde mich ein. Eine Empfindung von Frieden, Kostbarkeit und Schönheit. Selbst die Propheten, ihre Gerichtsansagen, strahlen jetzt in diesem Licht. Ich habe es früher nicht ertragen. Auch die Arbeit mache ich gern, und ich mache es mir nicht bequem. Ich gehe, bis ich auf Grund stosse. Oft stehe ich vor dem Morgen auf oder sitze nachts noch ein paar Stunden hin.

 

Tanz aus der Heimat

Ein Traum vor dem Aufstehen: Ein junges Mädchen tanzt, ein junger Mann sitzt unter den Zuschauern. Sie tanzt einen Tanz aus seiner Heimat, wo er herkommt. Da ist jeder Schritt gebunden, jede Bewegung der Hand vertraut aus der Welt der Kindheit. So „trifft“ sie ihn ganz.

Er ist gebannt in Schönheit. Er wird ruhig, bleibt stehen. Das Suchen hört auf. Seine Bewegungen werden still.

Er lebt nicht mehr im Land seiner Kindheit, die Szene spielt im Ausland und er ist erwachsen. Da ist viel Hektik, eine unruhige Betriebsamkeit. Aber dieser Anblick trifft ihn im Innersten. Die Bewegung einer Hand hat gereicht – er schaut auf. Und er erkennt es wieder!

Ich erinnere mich noch, dass mir beim Aufwachen durch den Kopf ging: Es ist wie Schlüssel und Schloss! Was ist es, was so aufgeschlossen wird? – Eine Botschaft geht hinüber. Der Angesprochene wird in der Mitte getroffen. Weil beide in die Mitte gehen. Nicht in das, was als Interesse beim andern vermutet wird, sondern das, was wir in uns selber schon wissen: die Mitte, zu der wir selber einen Zugang haben.

 

Die goldene Schale

Zweiter Traum: Ich will Früchte aufeinanderlegen. Einige sind schon da. Andere kommen dazu. Aber sie rutschen herunter. (Es sind zu viele, sie haben keinen Platz). Ich nehme die goldene Schale, die plötzlich da ist. Ich tue sie hinein.

Vor dem Einschlafen dachte ich an die Gottesdienste. Ich will auch den Raum vorbereiten, die Stimmung, das Licht, die Wärme. Der Traum sagt, es ist noch mehr und es ist anders: Ich darf wertschätzen, was da ist. Auch wenn andere vielleicht denken: für den lohnt es sich nicht. Ich weiss, wie teuer es ist. Ich weiss es schon lange. Aber ich habe mich damit abgefunden, dass andere es nicht sehen, wie im Märchen, wo einer aus seiner Lebensreise Gold nach Hause bringt. Und die andern sehen nur Lehm und Dreck.

Das ist die Antwort auf meine Frage vom Sonntag nach dem Gottesdienst. (In Unterambach ist es gelungen, das zeigt, dass es nicht an der Predigt lag. In Ambach nicht, das zeigt, dass das Umfeld nicht stimmte. Da ist die Angst, dass mitten im Gottesdienst das Mikro wieder ausfällt. Da ist das Haus, die Erinnerung, die es weckt. Da ist der Sturm, der wie ein Dämon alle paar Minuten zur Tür hineinbellt. Diesen Sonntag sollte die Kirche ausserdem zum ersten Mal mit einem Laser beschriftet werden, ein PR-Gag des Verwalters. Ich habe eigens das Thema umgestellt, aber jetzt wurde es doch nicht beschriftet. Der Gottesdienst war da nur Nebensache.)

Goldene Gefässe stehen bereit

Ich darf es angehen wie ein katholischer Priester, in goldenen Gefässen bewahrt er es auf. In goldenen Gefässen trägt er es auf den Tisch. In goldenen Gefässen steht es der Gemeinde vor Augen. In goldenen Gefässen hat er es vorher schon in sich getragen. Goldene Gefässe stehen bei den Menschen bereit, um es aufzunehmen.

Wenn sie die Frucht nur sehen, so taucht auch das Gefäss dazu auf – plötzlich, ohne dass man davon wusste, wie in meinem Traum.

 

Ich darf es wertschätzen, auch wenn es erst bei mir ist. Nicht wie jetzt, wo ich mitten im Schreiben unterbreche, und ans Telefon eile – und es ist nur ein Werbeanruf. Ich fühle mich beschmutzt nachher. Ich muss mich schützen, ich darf es wertschätzen.

Ich darf es wertschätzen – so sehr, dass ich ihm auch einen Platz gebe. Dass ich glaube und vertraue: dass die Menschen das Gefäss in sich tragen – oder doch, dass es sich einstellt, wenn ich die Frucht zeige. Ich will die Gottesdienste und alles was ich mache so gestalten, als ob da goldene Messbecher wären und silberne Schalen. (Und nicht Lehm und Dreck.)

 

 

Endlich darf die Wahrheit stattfinden.

 

  1. März 2008

Warum versenken sich Menschen in die Betrachtung der Passion? Da ist ja nichts Erfreuliches. Da ist von Dingen die Rede, denen man sonst eher aus dem Weg geht.

Die Menschen finden etwas in dieser Betrachtung. Sie finden die Schattenseite unseres Lebens. Da ist für einmal ausgesprochen, was sonst nie zur Sprache kommen darf. Es ist eine stille Übereinkunft in der Gesellschaft, dass man immer nur von Erfolgen redet, und wie das Leben einem Spass macht, wie man sich eingerichtet hat.

 

 

Aber es hat auch eine Kostenseite. Es kostet Anstrengung, diese schöne Seite zu zeigen. Es gibt Dinge, die nicht hineinpassen. Von ihnen redet man nicht. Es gibt Erlebnisse, die dem nicht entsprechen, die darf man nicht zur Sprache bringen. Diese Sorge um das Aussehen, diese Angst, wie es nach aussen wirkt – hier in der Passion ist das kein Thema. Hier wird radikal auf die andere Seite geschaut.

Und so schlimm es auch ist – es ist auch ein gutes Gefühl dabei: Endlich darf die Wahrheit stattfinden. Endlich findet man als ganzer Mensch Platz in der Wirklichkeit, wie sie dargestellt wird. Und man darf sich wie strecken und aufrichten.

 

 

Das innere Ziel

 

  1. Juni 2008

Ich bin immer so „am Ende“, die Katastrophe ist immer gleich um die Ecke. Da kann ich nie auf vorläufige Dinge sehen, es geht immer gleich „ums Ganze“, und oft ums Aufgeben. – Sterben tue ich sowieso. Wenn es soweit ist, will ich freundlich gewesen sein zu den Leuten und grosszügig zu den Kindern, und warmherzig.

Mein inneres Ziel, das mein Schicksal lenkte, war immer „Theres“. So wollte ich werden, das wollte ich können: wie sie den Dreck von andern wegputzten und dabei singen. (Das beeindruckte mich, trotz meiner Grossmannssucht als „Bundeshaus-Redaktor“. Sie konnte etwas, was ich nicht konnte. So klein es auch aussah, es war mir zu gross. Als ich hörte, dass sie „Christin“ sei, wollte ich das auch werden.)

Aber Sandra zeigt mir: Ich muss mein inneres Ziel ergänzen um das Bild eines Vaters, der „da“ ist für seine Kinder, der dem Leben etwas zutraut und ihnen das Bild vermittelt von einer Welt, in der man „auf seine Rechnung kommt“ und wo es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen. Muss ich den Platz für die Kinder erkämpfen gegen eine „enge und böse Welt“ – oder muss ich diesen Platz einfach nur „auf machen“ – in mir drin?

 

 

Der Berg vor mir

 

  1. Juli 2008

Wir meinen immer, wir wüssten, was uns fehlt. Das suchen wir. Wenn das mal erreicht wäre, so fühlen wir, dann hätten wir ein anderes Leben. Und jetzt diese Auskunft: “Du musst gar nicht deinem Ziel nachrennen, hör auf! Da ist ein anderes Ziel: Such Gott! Das andere erhältst du dann wie von selbst!“ Das ist, als ob man uns einen Pfeilbogen in die Hand gäbe und sagte: Schiess am Ziel vorbei. Gerade so triffst du ins Schwarze!

Wie macht man das: Gott suchen? – Gott suchen: das ist für mich, wie auf einen schönen Berg zugehen. – Und jetzt sehe ich den Weg, den ich gehen kann. Ich bin schon mitten drin.

Ich bin mitten in seinem Garten. Das Ziel ist schon da, auf jedem Schritt. Gott ist da, in jedem Augenblick. Das wird mir bewusst, wenn ich auf ihn zugehe. Wenn ich mein Herz ausrichte auf ihn.

Und plötzlich habe ich Zeit, wo ich früher immer weiterrennen musste. Plötzlich kann ich „da“ sein für meine Kinder, und habe nicht schon wieder etwas Wichtiges, was mich von ihnen abzieht.

Plötzlich kann ich die Menschen wahrnehmen, die mir begegnen. Und jetzt sehe ich den Weg, den ich gehen kann. Ich bin schon mitten drin.

 

 

Es wird, was ich glaube

 

  1. August 2008

Heute Morgen träumte ich, ich sei im Militär. Wir gehen in Reih und Glied, vor mir geht einer mit einem grossen Bündel auf dem Kopf. Ich sehe nicht nach vorn. Und plötzlich finde ich unsere Unterkunft und meine Gruppe nicht mehr. Wo muss ich jetzt abbiegen? Einmal trete ich in eine Baracke, da sind Rekruten. Ich wusste gar nicht, dass die hier untergebracht sind. Später sehe ich die Anlage im Plangrundriss.

 

 

Ich zeichne die Baracke für unsere Funk-Abteilung an einem anderen Ort ein, so ist es besser. Im Traum bin ich der Anlage unterworfen – gleichzeitig ich bin ihr Herr!

 

Das Buch findet einen Verlag

Dazu passt, was Antonia gestern erlebt hat. Von den Ferien zurück, checkte sie ihre Mails. Eines ist von München, von ihrem Verlag. Die Lektorin, die vor den Ferien noch sehr skeptisch geurteilt hatte, schickte einen Umschlagentwurf der Grafikerin. Ihr habe das Buch sehr gefallen, und sie habe gleich einen Entwurf gemacht. Das motiviere Antonia vielleicht für die Schluss-Arbeit. Ich freue mich mit ihr.

 

Ich lerne etwas: Gutes hat Kraft und gestaltet Wirklichkeit.

Ich dachte immer: Schlechtes habe Kraft und Gutes könne nur im Versteck gedeihen. Aber sie hat die Realität verändert, sie hat daran geglaubt, trotz allem Widerstand. Jetzt schwenkt die Realität auf sie ein und ihren Glauben.

 

Es klingt banal. Aber es deckt eine Haltung auf, die wie eine verkrustete frühe Lebenserfahrung mein Verhalten bis zum heutigen Tag bestimmt:

Ich denke immer: Schlechtes gestalte die Welt und Gutes könne nur im Versteck gedeihen. Ich lerne: Gutes hat Kraft.

 

Neuer Glaubenssatz: Was im Versteck begonnen hat, öffnet sich nach aussen. Es ist schon alles da, es ist im Schutz herangewachsen. Die Kälte kann es nicht mehr gefährden. Das Schöne entfaltet sich, Wirklichkeit wird.

Der Glaube hat es vorausgesehen, es war nicht bloss Illusion und billiger Trost.

 

Es wird, was ich glaube.

 

 

Die Halbheit im Leben

 

  1. Oktober 2008

Nach den Ferien. Wieder bringe ich viele Träume und Notizen mit, die mir helfen, zu verstehen:

 

Im Weder-Noch

Traum: Ich bin bei Medizinern. Ich bin kein Arzt. Ich gehöre nicht dazu, bin eigentlich Pfarrer, ich mache nur ein Praktikum hier. Was mache ich? Nichts Richtiges, da es weder zu einem Pfarrer noch zu einem Mediziner qualifiziert.

Ich stecke im Weder-Noch. Ich denke in Halbschlaf: Ich habe Angst vor dem Glauben, nicht Angst vor dem Unglauben. Ich habe Angst vor Gott, dass er es am Ende nicht gut mit mir meint. Darum die Halbheit immer in meinem Leben.

 

Traum: Ich bin fasziniert von einem Forscher, weil er ganz und gar in seinem Gegenstand aufgeht. Einmal mache ich auch was im Traum, ich nehme einen Gegenstand herunter. Es ist etwas Mechanisches, wie z.B. ein Vogel-Käfig. Ich sage, das gibt mehr Befriedigung, wenn es nicht ganz elektronisch ist. „So ist es“ sagt er. Er bezieht sich nicht nur auf diesen Satz, als er das sagt. Es ist eine Bestätigung für das, was Befriedigung gibt: ganz und ungeteilt in einer Sache aufzugehen. Sich nicht teilen.

Vertrauen, dass die Wirklichkeit letztlich ungeteilt gnädig ist.

 

Im Traum sehe ich eine Konfitüre, die ganz und gar nach Himbeeren schmeckt. Farbe, Geschmack, Konsistenz – alles stimmt zusammen.

 

 

Einladung

Beim Aufwachen scheint es mir klar: Es geht um die Angst, dass ich auf dem Grund der Wirklichkeit Ablehnung finde, daher das Halbe in meinem Leben.

Es ist eine Einladung, voll zu glauben und wie der Forscher zu werden, der mich fasziniert, wie die Konfitüre, die ganz und gar durchdrungen ist von ein und demselben Geschmack, durchdrungen von einer Wirklichkeit.

Die Angst meint, auf dem Grund sei die Wirklichkeit nicht einheitlich, darum kann auch ich nicht einheitlich werden. Es ist die Einladung, voll zu glauben.

 

 

Die Räuber vom Liang Schan Moor

 

  1. Oktober 2008 [5]

Ich lese „Die Räuber vom Liang Shan Po“. Sie leben am Rand, sind ausgestossen. Sie haben gegen Unrecht protestiert. Es ist ein Zustand der „Desintegration“ – er zeigt sich in ihrer Randständigkeit, er meint aber das ganze Reich, das sich nicht einen kann. Die Gegensätze nehmen zu. Auch der einzelne kann so nicht zur Ganzheit kommen und mit sich übereinstimmen.

Das Buch ist einer der klassischen Romane der chinesischen Literatur. Es kommt daher wie ein Abenteuer-Roman, es handelt aber von Korruption und guter Reichsregierung. Es kann parallel zu biblischen Geschichten zu diesem Thema gelesen werden.

 

 

Eine Gesellschaft, zwei Gesellschaften
Der in den Untergrund vertriebene Verwalter Sun verkörpert das Bild eines messianischen Herrschers, er lebt als eine Art Räuberhauptmann wie der alttestamentliche David, bevor er hervortritt und ein Regierungsamt übernimmt. Die Erwartung einer Zeit des Friedens in Gerechtigkeit knüpft sich an seine Machtübernahme, da sein Ruf schon durchs ganze Land ging. Er ist der Helfer der Bedrängten, „der Regenspender von Shantung“.

Am Anfang steht die Erzählung, wie die einzelnen „Recken“ zur Bande stossen und was sie alles können. Am Ende sind es über hundert Anführer, die mit Zehntausenden von Menschen in einem Moor leben, wo sie eine Art Gegengesellschaft bildet, bis sie begnadigt und wieder in das Reich integriert werden.

 

Sechse kommen durch die ganze Welt

Die Lesefreude am Anfang lebt wesentlich vom Motiv «der Sechse, die durch die ganze Welt» kommen. Jeder Held ist einzig in seiner Art, jeder kann etwas, das der Bande nützt. Und gerade das hat ihr bisher gefehlt. So stossen immer mehr dazu, bis alle gesammelt sind, die ein Ganzes ausmachen: eine Gesellschaft, die aus sich leben kann.

Der Räuberhaufen wird im Lauf der Geschichte immer stärker. Sie bekommen Zulauf von Ausgestossenen der Gesellschaft. Sie können jetzt auch in der äusseren Welt Paroli bieten. Allmählich sind sie zu gross, als dass man sie weiter ignorieren könnte. Sie bekommen Amnestie, werden rehabilitiert, erhalten Ämter im Reich.

Die Gerechtigkeit des Ganzen ist wieder hergestellt. Es war nicht sinnlos, dass sie in den Busch gingen. Es war notwendig und hat dem Ganzen geholfen. Jetzt kann der einzelne sich integrieren – in der Gesellschaft und in sich selber.

 

 

 

Vom Umrunden des Berges

Was wissen innere Bilder von äusseren Ereignissen?

 

Dieses Buch handelt von inneren Bildern und äusseren Wegen. [6]  Wie soll das eine mit dem andern zusammenhängen? Ist das Innere nur ein Echo für das Äussere? Oder – wenn es manchmal sogar früher auftaucht als das Äussere und in Träumen und Ahnungen eine Zukunft aufscheint – sollte da eine geheime Alchimie vorhanden sein für eine „innere Führung“ im Leben? Nicht die Spekulation interessiert hier, sondern die Lebenspraxis: Ist da etwas zu finden, was im Leben hilft?

 

Der Sturm und sein „Ende“

Heute Morgen sitze ich mit flauem Gefühl am Schreibtisch. Draussen braut sich ein Sturm zusammen. Dunkle Wolken türmen sich auf. Es rüttelt an Bäumen und Ästen. Ich denke an die Klimaveränderung und ihre Folgen. Das flaue Gefühl rührt vielleicht aber eher von meinem Leben her, weil es sich seinem Ende nähert.

 

Schon gestern haben sie eine Sturmwarnung durchgegeben. Aber morgen soll es schon wieder ruhiger werden. So nimmt die Zivilisation die Angst aus dem Sturm. Die Wetterprognose weiss: „Übermorgen“ ist es vorbei. Aber wenn man den Sturm kommen hört, identifiziert man ihn leicht mit dem, „was kommen muss“ und was allem ein Ende setzt. Da ist ein inneres Ende, ein inneres Bild für Ende, das aufwacht und sich mit diesem und jenem verbindet, das man kommen sieht.

 

Das innere Bild ist nicht falsch. Die äusseren Ereignisse haben auch das Zeug dazu, ein Ende zu bringen für vieles. Aber die Verknüpfung ist oft falsch. Das innere Bild vom Ende ist auf bestimmte Weise geprägt, es mobilisiert die Angst von „damals“. Es führt auf den abschüssigen Weg traumatischer Erfahrung, wo es „nur noch einen Schritt!“ braucht und alles stürzt ins Loch…

 

Mein Innenleben an der Zimmerdecke

Letzten Sommer waren wir in Rheinau. Es war „Tag der offenen Türe“ auf der Klosterinsel. Jahrelang kannten wir das Kloster nur von aussen. Aber wir fühlten uns zu diesem Ort hingezogen. Jetzt öffnete sich die Tür. – Wie wird es sein? Alles ist aufwendig restauriert. Alles sieht teuer aus, die Installationen sind auf modernstem Stand. Aber ich bin enttäuscht. Alles ist grau-weiss gestrichen. Ein Gefühl von Enge stellt sich ein. Nur dort, wo ein altes Treppenhaus belassen wurde, wird es weit, so dass man atmen kann.

Den Weg, der vom Kloster zur Kirche führt, kann man jetzt inwendig abschreiten. Wir gehen durch diesen Gang. Ein Wohlgefühl stellt sich ein. Obwohl es immer noch eng ist. Aber gehen, etwas abschreiten, einem Ziel entgegen gehen – das ist ein inneres Bild, wie ein „Archetyp“. Es weckt ein Echo, lässt etwas anklingen, dem wir nachhören. Wir werden nach innen geführt, wenn wir aussen gehen. Es weckt die Erinnerung und lässt die Intuition äusserlich erleben. Architektur wird offenbar als wohltuend empfunden, wenn sie erlaubt, etwas äusserlich zu begehen, was innerlich lebendig ist. Sie bekommt etwas Sakrales. Als ob es Teil von einem Tempel wäre.

Auf diesem Weg kommen wir an einem Zimmer vorbei, dessen Decke original belassen wurde. Man kann sich setzen und die Decke betrachten. Ich staune: Das hielt ich für das Allerprivateste, denn ich kenne es von meinen Träumen. Aber hier ist es öffentlich! Es sind Bilder vom „Tor“, vom „Garten“, vom „goldenen Haus“, vom „Turm“… Es sind offenbar solche Archetypen. Jedenfalls innere Bilder, wie sie auf dem Glaubensweg aufscheinen.

 

Innen und aussen

Das Erlebnis mit dem Sturm zeigt: Es gibt innere Bilder, die bereit stehen, Erlebtes zu deuten. Es gibt dunkle Bilder, die aus traumatischen Erfahrungen stammen. Und es gibt helle Bilder – und diese kommen von weiter her. Auch andere Menschen kennen sie, die nicht meine Erfahrungen geteilt haben. In alter und ältester Zeit finden sich Berichte darüber. In der Religion werden sie kultiviert.

 

 

Der Weg

 

  1. Mai 2009

„Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die Liebe treibt die Furcht aus.“

Manche Menschen behaupten sich, andere ziehen sich zurück. Manche möchten sich durchsetzen, andere sind eher schüchtern, sie gehen einen anderen Weg. Nicht für alle ist der erste Platz, für alle aber ist ein Weg.

Ein Weg ist, in sich ganz klar zu sein. Solche Menschen betreiben schon in der Kindheit abends Gewissenserforschung. Sie können nur nach aussen auftreten, wenn sie sich mit sich selbst in Übereinstimmung fühlen. Mit ihrem Gewissen. Ihre Hilfe ist das Gebet. Sie müssten ja vollkommen werden, können das aber nicht. Sie finden den Weg zur Übereinstimmung im Glauben an Gott: Er hilft. Er vergibt Fehler, er nimmt wieder auf, er stösst nicht für immer weg.

Diese Menschen suchen nicht zuerst den Weg nach aussen, sondern erst in sich: Sie integrieren alles, was sie erlebt haben. Auch wo sie Vorwürfe haben, wo sie von andern gelitten haben. Sie finden Frieden durch Vergeben, mit dem Satz: „Ich bin genauso wie die, die ich anklage.“ So können sie Gott begegnen, so finden sie aus innerer Verstrickung heraus. So bleiben sie nicht gebunden in Vorwürfen und alten Rechnungen, in Opfer-Haltung und Ohnmacht. So können sie Menschen begegnen.

Diese Menschen gehen den Weg, alles zu integrieren, mit der Hilfe Gottes, von dem sie wissen, dass er auch ihr Recht achtet; dem sie sich anvertrauen, seiner Führung, wo sie den Weg nicht wissen; dem sie danken, für alles, was er gegeben hat; dem sie ihr eigenes schlechtes Gewissen nicht verbergen.

Der Knackpunkt ist das Vertrauen, dass sie mit allem ganz und gar von ihm angenommen sind. Denn solche Menschen gehen diesen Weg, die früh andere Erfahrungen gemacht haben. Wer immer auf Anerkennung stiess, geht ohne Mühe auf Menschen zu. Er hat ja nie Kränkung erlebt.

Wer hier nicht gehen konnte, muss erst Heilung erfahren, neues Vertrauen lernen. Ein Ja zum Leben, das immer wieder behauptet werden muss gegen schlechte Erinnerungen, gegen die Tendenz, vielleicht doch lieber einen Weg aus dem Leben fort zu suchen.

 

 

Und so geschieht es im Gleichschritt: Sie lernen Ja sagen ohne Vorbehalt; sie lernen sich angenommen wissen, ohne Rest; sie lernen auf Menschen zugehen, ohne schlechte Gefühle; sie lernen ganz und gar einheitlich werden.

Bei Johannes heisst das: die Liebe. Denn dieses Gefühl, das alles bejaht, das ist die Liebe. Diese Haltung, die sich ganz und gar angenommen weiss, ohne Rest, das ist die Liebe. Diese wachsende innere Bereitschaft, auf andere zuzugehen, ohne jeden Vorbehalt, ohne Vorwurf, ohne Angst vor Ablehnung, ohne sich kleiner zu machen, ohne die Haltung der anderen im Geringsten vorwegzunehmen in der Phantasie, in inneren Dialogen, wo alte schlechte Erfahrungen wieder das Bild trüben – diese Haltung, die auf die Welt zugeht und nur das Beste erwartet und das beste geben will, das ist die Liebe.

 

„Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

 

Darin ist die Liebe völlig bei uns, dass wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts; denn gleichwie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. Lasset uns ihn lieben; denn er hat uns zuerst geliebt.

 

So jemand spricht: „Ich liebe Gott“, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“ (1 Joh 4,16-21)

 

 

Der Berg

 

  1. Juli 2009

Nachfolgen ist eine besondere Art des Gehens.

Wer Christus nachfolgt, der macht eigene Schritte, er geht seinen Lebensweg und kommt dabei doch zu einem Ziel, das er aus eigener Kraft nie erreichen könnte.

 

Das Ziel unseres Lebens, das müssen wir nicht machen.
Das steht vor uns, wie der Berg am Horizont.
Mächtig steht er da, er verbindet Himmel und Erde.
Wir sind auf dem Weg dazu.
Und der Weg gelingt, wenn wir jetzt schon von dem leben, was wir anstreben.
Das ist der Glaube.
Er ist ein Stück vom Ziel, während wir noch auf dem Weg sind.

 

Wer glaubt, ist wie ein Wanderer in der Natur.
Vor sich sieht er den Berg, er steht da, mächtig und wunderbar, wie eine Achse im Kosmos.
Wenn der Wanderer sich auf den Weg macht, tritt er in diese Landschaft ein.

Wer sich den Berg zum Ziel nimmt, der ist schon mit dem ersten Schritt in der Landschaft, die zu diesem Berg gehört:
Er lässt die Häuser und Strassen hinter sich, den Lärm.
Er tritt in die Stille ein, Vögel singen, Blumen blühen am Weg.

 

Wer Augen hat dafür, der sieht das Grosse auch im Kleinen. Es ist ja nicht klein, es ist von derselben Art wie der Berg, der da vorne in den Himmel ragt.

 

 

Und vom Berg her kommt uns der Fluss entgegen. Erst ist es nur eine Quelle, dann wird sie grösser. Sie bringt das Wasser bis zu uns, die wir noch auf dem Weg sind.

So können wir jetzt schon unseren Durst stillen, an dieser Quelle, auch wenn wir noch unterwegs sind. Im Gebet, im Glauben, erfahren wir immer neue Kraft. Wir können uns anschliessen an der Quelle. So gehen wir unsern Weg.

 

 

Das Haus

 

  1. April 2010

Ich habe eine Woche frei. Ich bin allein im Haus, hier und dort zerrt es an mir, die alten Gefühle von Einsamkeit und Verlassenheit steigen auf, aber ich widerstehe den eingeübten Abwehr-Mechanismen. So wird es ein Weg ins Offene. Ähnlich wie vor 20 Jahren, als ich alles kündigte und für unbestimmte Zeit ins Ausland ging.

 

Es war eine strenge Karwochen- und Osterzeit. Vielleicht zum ersten Mal nach einer derartigen Anstrengung bin ich nachher nicht in ein „Loch“ gefallen. Jetzt bin allein im Haus, habe eine freie Woche vor mir. Sie wirkt leer, nichts ist geplant, keine Pflicht ist vorgeschrieben, kein Rhythmus vorgegeben. Da ist kein Kleid, in das ich mich stürzen kann, keine Routine, die ich nur aufnehmen muss, und schon ist diese Woche meines Lebens organisiert und abgehakt.

 

Von der Seite her zwickt und zwackt es, die alten Abwehrmechanismen der Einsamkeit melden sich. Das Bewusstsein ist etwas getrübt, als ob ich ein bisschen beschwipst oder schwindlig wäre. (Ich balanciere ja auch hoch über dem Abgrund, da sind die Verlassenheitsängste, die mich in die Tiefe ziehen.) Als Kind wäre ich „aus mir hinausgefallen“ in unfreiwilliger Ekstase. Ich hätte „von oben“ auf mich herabschauen können. Ich hätte mich verloren an die Aussenwelt, in einem Zustand unfreiwilliger Kontemplation. Alles wäre „schön“ gewesen, auch das Hässlichste. Nichts mehr hätte mich berührt.

 

 

Das Haus

Ich gehe einsam durch das Haus

Es ist wie durch die „Seele“ gehen

Nichts wegschieben

Alles zulassen

Dem Gedränge nicht nachgeben

„Da“ sein und gehen

 

Es ist wie Gehen durch die Vergangenheit

Alles steht auf

Es ist wie gehen durch die Zukunft

Der nächste Schritt entscheidet den Weg

 

Ich gehe hindurch

Ich hole mir Hilfe

Ich spiele Kirchenlieder auf dem Klavier

Ich höre Kirchen-Musik, weil es reisst an meiner Seite

 

Ich nehme Jesus Christus als Begleiter mit

Gegen die Einsamkeit und ihre Dämonen.

Jetzt ist die Zeit nach Ostern, bald ist Auffahrt.

 

Karsamstag und Ostern beschreiben einen mythologischen Weg. Er steigt hinab bis zum Tod.

 

Am anderen Ufer

Als er über das Meer fuhr, kam er zum anderen Ufer. Von dort her kam ihm ein Elender entgegen, der in den Grüften wohnte. Und die Dämonen zerrten an ihm:

„Sie kamen an das andere Ufer des Sees, in das Gebiet von Gerasa. Als er aus dem Boot stieg, lief ihm ein Mann entgegen, der von einem unreinen Geist besessen war. Er kam von den Grabhöhlen, in denen er lebte. Man konnte ihn nicht bändigen. Schon oft hatte man ihn an Händen und Füssen gefesselt, aber er hatte die Ketten gesprengt und die Fesseln zerrissen; niemand konnte ihn bezwingen. Bei Tag und Nacht schrie er unaufhörlich in den Grabhöhlen und auf den Bergen und schlug sich mit Steinen.“

(Mk 5,1ff)

 

 

Das mythologische Haus

Im mythologischen Bild steigt er den Abgrund hinab (den jeder Mensch in sich fühlen kann, auch die Metapher drängt sich jedem auf, der sich dem überhaupt stellt).

Es ist ein Bild des Lebensweges der Menschen, wenn man diesen nicht nur als bürgerliche Biographie erzählt, sondern in Kontakt zu den tiefsten Intuitionen, die wir haben, in Bezug auf das Ganze, auf die Quelle, aus der alles stammt, auf das Ziel, wo aller Weg ankommt. Auf die Gegenwart, wo alles sich einfinden kann.

 

 

Das Verborgene

 

  1. Juni 2010

Es klingelt. Es ist Emma, die bei Sandra übernachten wird. Sie bringt eine Schale Erdbeeren mit. Dabei sehen wir, dass jemand eine Tüte mit zwei Salaten vor die Tür gestellt hat. Ohne Notiz, ohne Namen. Das gab es früher ab und zu. Dann blieb es aus, für lange Zeit. – Ist der Segen zurückgekehrt?

 

Traum: Ich hole einen Koffer aus dem Estrich und fülle ihn.

Im Halbschlaf denke ich: Es ist eine Wende. Früher habe ich immer gedacht, es sei Eitelkeit, etwas Eigenes machen zu wollen. Jetzt sehe ich, es ist wichtig für die Selbstachtung und wie man unter Menschen gehen kann. Etwas zeigen von dem, was in mir ist. Nicht nur innere Gärten anlegen.

 

 

Wahrhaftig

 

  1. Juli 2010

Kennen Sie das: Der „Zug“, in dem Sie reisen, macht plötzlich Halt? Die Gedanken, die Sie immer begleiten, stehen still. Die Gefühle, die um die Arbeit kreisen, die Geschäftigkeit, die angetrieben wird vom Nächstliegenden – plötzlich ist es still und ein Gedanke steht klar vor Ihnen. Das ist es! Das ist der Schlüssel, der Ihr Tun auf eine neue Bahn bringt!

 

Im Hintergrund waren ihre Gedanken auf der Suche, auch wenn Ihre Aufmerksamkeit bei der Arbeit war. Aber irgendetwas stimmte noch nicht. Sie fühlten sich nicht wohl in Ihrer Haut. Sie konnten es noch nicht in Worte fassen. Jetzt plötzlich, vielleicht beim Einkaufen, wenn die übliche Tätigkeit für einmal stillsteht, oder bei einem Abendspaziergang, jetzt steht es klar vor Ihnen: So möchten Sie in Zukunft leben! Es ist so klar und offensichtlich! Sie spüren, dass es in diese Richtung gehen muss, dann wird es nie mehr sein wie früher. Aber Sie wissen noch gar nicht, wie das praktisch gehen wird.

 

Ein solcher Gedanke ist: „Wahrheit“. Ich möchte zu dem stehen, was ich als richtig erkenne. Es aussprechen, so handeln. Innen und aussen sollen sich entsprechen. Ich will meine Gärten nicht mehr im Innern anlegen, weil sie aussen keinen Platz haben. Ich will aussen einen Platz suchen, die Blumen aussäen, das Gemüse. Die Bäume sind da. Und die Dornen. Die werden nicht fehlen. Der Wind bringt Samen. Sie schlagen Wurzeln, sie wuchern. Die Brombeeren strecken ihre Ausläufer aus, die Winden schlingen sich um alles und ersticken es. Das gehört zu einem Garten, auch zu einem Lebensgarten. Ich will jäten, ich will pflanzen, ich will dankbar auch das annehmen, was Schönes in meinen Garten fliegt.

 

 

Wahrheit ist gut, aber ich will die Erfahrung meines Lebens dazu nehmen. Tun und sagen, was ich für wahr halte, aber nicht verletzen. Ich weiss noch nicht, was wirklich stimmt, aber das weiss ich, dass das falsch ist: eine Wahrheit, die andere heruntermacht und verletzt. Irgendwie spürt man es der Wahrheit an, auch wenn man sie noch nicht besitzt. Die Wege, die zu ihr führen, lassen es schon erahnen. Wahrheit hat mit Liebe zu tun. Mit dem Recht aller Menschen. Sie ist lebensfreundlich. Daran sehe ich, ob mein Weg zur Wahrheit führt, auch wenn ich noch ganz im Dunkeln tappe.

 

 

Auch das nicht gelebte Leben geht vorbei

 

  1. Juli 2010

Ich fälle heute Vormittag zwei Entscheide, dann besorge ich den Garten. Endlich habe ich es geschafft. Nach langer Lähmung kehrt die Entscheidungsfreude zurück. (Aber die Welt hat sich verändert, seit ich so unbeweglich in Deckung verharrte.)

Nach dem Aufstehen hatte ich die Empfindung, es habe sich viel verändert in meinem Leben. Ich bin nicht mehr der ewig junge, schlanke Blonde, an dem die Jahre scheinbar spurlos vorbei gehen und der alles noch vor sich hat. (Plötzlich ist alles hinter mir, ohne dass ich die Türe aufgemacht hätte. Es hat nicht mal angeklopft. Oder ich habe es überhört.) Ich bin nicht mehr der von der Zeit Unberührte und die Leute staunen: „Was, 60 Jahre alt?“ Ich bin jetzt 61, und man sieht es mir an. (Auch das Leben, das ich nicht gelebt habe, ist vorbei.)

Die Pläne am Arbeitsplatz gehen über mich hinaus, auf die Zeit nach meiner Pensionierung. Ich sitze dabei und denke: So vieles von dem, was ich hätte beitragen wollen, konnte ich gar nie einbringen. Der Termin der Pensionierung steht schon fest. Ich muss mich vorbereiten, eine Wohnung suchen, den Estrich räumen. All die Pläne und Projekte, es sind keine „Schätze“ mehr für eine mögliche Zukunft, es ist Ballast, der niemanden mehr interessiert.

 

 

Verschlossen

 

  1. Juli 2010

Meine Mutter schwärmte für Michelangelo. Sie hatte ein dickes altes „Römerbuch“, in dem viele Kunstwerke in schwarz-weissen Stichen abgebildet waren. Das ging von Hand zu Hand durch unsere Familie, es war ein Gegenstand der Verehrung.

Und so habe auch ich als Kind mein Leben mal gemalt: Da war ein Haus, rund herum tobte ein Gewitter, aber die Läden waren zu, die Bewohner waren geschützt. Und vorne an dem Haus war eine Tafel angebracht: WP, Bildhauer, Maler, Dichter. So wollte ich sein: einer, der die Achtung und Zuneigung seiner Mutter hat.

Interessanter ist aber wohl das andere: dass das Lebenshaus verschlossen war gegen eine Welt, die das Innere mit ihren Stürmen zu bedrohen scheint.

 

Kündigung

 

August 2010

Ich denke über meine Träume nach: Der Traum und das Buch von Theobald, das hat mich an meine Mutter erinnert, an die Widmung meines Lebens: Ich will die Mutter erlösen. Da ist „die Frau, die leidet“ und hopp, schon will ich meine Autonomie aufgeben. Ich widme mein Leben dem Ziel, sie zu erlösen, die Welt zu erlösen. „Hab endlich Vertrauen und mach, was Du willst!“, sagt der Traum.

Ich muss mich ihnen nur nicht ausliefern, nicht als „Braves Kind“ daherkommen, das sich den Auftrag von aussen geben lässt. Ich muss den Auftrag mitbringen. Aus dem Glauben. Aus dem, was ich selber für wahr und richtig halte. So will ich Stellung nehmen, zuerst in meinem eigenen Leben.

So kündige ich meine Lebens-Widmung auf, ich nehme meine verschenkte Autonomie zurück. Ich will aushalten, wenn jemand «leidet» und sich von mir „erlösen“ lassen will. Es ist nur eine Kollusion, ein Anhängen und Mitspielen, ein Co-Alkoholikertum. Es ist dann, als ob ich in den Strahlkreis eines Schwarzen Loches geriete. Ich werde weggesaugt.

Ende und Neubeginn

 

Ende August 2010

Es gibt grossen Wechsel im Pfarrteam. Drei Kollegen gehen – das ist viel Arbeit für die Bleibenden.

Im Traum sehe ich eine Frau. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich sie liebe, Angst, sie werde davonlaufen. Und sie kann ihr Interesse nicht zeigen. Im Traum werde ich eingeladen zu einem Anlass der Landeskirche. Habe ich etwas anzuziehen? Ich bekomme einen Anzug à la Charly Chaplin. Der Auftrag: Ich darf nur Jux reden.

Ich lade die Frau ein. Wir sitzen auf der Treppe und flüstern und lachen – endlich!

 

Im September 2010

Traum   1.9.2010: Mitten in der Katastrophe wird ein kleines Kind geboren!

Traum 12.9.2010: Sie bauen das Altersheim nach einem Brand genauso wieder auf, wie es gewesen ist. Das wäre doch eine Gelegenheit, einiges besser zu machen!

Gestern fiel mir ein Bild ein, das ich als Kind gemalt hatte, wohl unter dem Einfluss meiner Mutter, die von Michelangelo schwärmte: Es war das Bild meines Lebens, wie ich es vor mir sah: ein Haus und drum herum ein grosses Gewitter mit Blitz, Sturm und Hagel. Alle Läden und Türen sind zu, nur eine Antenne auf dem Dach hält Kontakt zur Aussenwelt. – Ich stelle mir vor, wie ich ein neues Bild male: das Haus ist weit offen…

 

Oder das Bild der kleinen Sandra, das ich aufgehängt habe: unten ist ein Wachhund, oben schaut sie zum Fenster hinaus. Wenn das Haus gut bewacht ist, kann sie sich wohl fühlen. Ich muss die Türe bewachen, für das Lebensrecht eintreten.

Es sind zwei Bilder zum Thema Türe: die Türe weder verschliessen noch offenstehen lassen. Darüber wachen, was hinaus und was hineingeht!

 

 

Die Deckung verlassen

 

  1. September 2010

Ich habe die neue Kirchenpflege begrüsst und den Gottesdienst zum Beginn der neuen Amtsperiode gehalten. Grosser Anlass mit Honoratioren und offiziellem Gepräge.

 

Ich bin meinen Weg gegangen. Ich schäme mich nicht, wenn ich mich gegenüber der Erwartung verweigere (so dass man klein und hässlich dasteht), ich unterziehe mich der Erwartung nicht (so dass man sich selbst verliert). „Ich schäme mich nicht des Evangeliums.“ Ich wundere mich nach dem Gottesdienst beim Apéro, wer alles plötzlich in biblischen Begriffen redet. „Fromme Töne“, für die man früher verpönt worden wäre.

Ich bin nachts jetzt oft aufgeregt, kann nicht schlafen. Ich habe die „Deckung“ endgültig verlassen, bin zum Handeln übergegangen, zum Zeigen (bekennen) und zum Tun, was ich für wahr halte.

 

 

„Einnisten“ in die Welt

Unsere Kultur, all unser Denken und Tun, ist eine Art „Einnisten“ in die Welt, so wie die befruchtete Eizelle sich einnistet in der Wand der Gebärmutter. Es ist nicht nur so, dass wir uns die Welt zurechtlegen würden, und sie bleibt objektiv und unbeeinflusst. Es ist eher so wie bei einem Kleinkind, das eben auf die Welt gekommen ist. Es scheint hilflos und doch kann es alles steuern, es zeigt den Eltern, was es braucht. Und die ganze Welt um das Kind herum reagiert auf es und gibt ihm was es braucht.

 

Einnisten

Wir nisten uns ein in die Welt und so gibt sie uns Antwort auf unsere Fragen. So wird sie zu einem „Du“, an dem unser „Ich“ wachsen und sich entwickeln kann. So findet unsere Sehnsucht ein Ziel, alles, was in uns angelegt ist, eine Entsprechung. So wird die Welt zu einem Ort, wo wir uns nach unsren tiefsten Intuitionen verhalten können. Der „innere Pilot“, wenn wir uns auf ihn verlassen, führt uns auch im Äusseren zuverlässig. Weil beide schon vor Urzeiten aufeinander abgestimmt sind.

(Wie lange dauert es, bis wir wieder auf den inneren Piloten vertrauen lernen! Wie lang dauert es, bis wir jene Erziehung durch die Angsterlebnisse überwunden haben! Wie friedvoll und schön ist es, wenn wir wieder zu dieser inneren Stimme zurückfinden! Ein Gefühl des Ankommens mitten im Leben. Als ob das Ziel der Zeit schon jetzt gegenwärtig wäre. Als ob die Mitte in jedem Augenblick zu finden wäre. Wie ein Einstimmen in einen grossen Klang, der das Weltall seit seinem Beginn durchströmt.)

 

Versöhnung

Es ist alles vor uns da und wird nach uns da sein. Es ist nicht unser Feind, ihr Name in der Tradition ist Gnade. Sie schwingt im Gleichklang mit unseren innersten Intuitionen. Vertrauen wir lieber dieser inneren Stimme. Und wenn sie undeutlich ist, dann finden wir sie im Evangelium, in den Erzählungen von Jesus Christus. Er ist von Gott her in die Welt gekommen. Er lebt unter uns. Er geht durch unsere Städte und Dörfer, durch unsere Kulturen und durch unsere Wüsten. Und wo er hinkommt, bringen die Menschen ihm ihre Kranken, damit er sie heile.

Und der Blinde am Weg ruft ihn. Und er stellt ihn in die Mitte und fragt: Was willst du, dass ich dir tue? – Dass ich wieder sehe! – Glaubst du, dass ich das tun kann? – Ja, Herr, ich glaube! – Steh auf und folge mir nach! Und er bückt sich zu denen, die am Wegrand liegen und richtet sie auf. Und selbst den Aussätzigen berührt er, damit niemand aus der Gemeinschaft hinausfalle, denn dazu ist er in die Welt gekommen, um sie zu retten, nicht zu verurteilen. So eilt er selbst dem hundertsten Schaf noch nach, wenn es verloren ist. Zuletzt legt er alles Gott zu Füssen, damit Gott alles in allem sei. Und nichts ist verloren.

 

Nichts ist verloren

Nichts ist verloren. Das Christentum ist keine tragische Weltanschauung. Es gibt keinen Konflikt, der am Ende noch bestehen kann. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion. Es findet seine Antwort in der tiefen inneren Zustimmung, die wir in uns spüren. Nur so können wir uns selber annehmen, in all den Konflikten unseres Daseins. Nur so können wir uns selber integrieren, wachsen, uns versöhnen. Nur so führt unser Weg zu Dank, Frieden und Versöhnung.

Neue Infragestellung

 

  1. Oktober 2010

Es tut gut, eine Woche frei zu haben, den Tag anders zu verbringen, mit anderen Gedanken, in der Begegnung mit anderen Menschen. Es relativiert sich alles. Was einen eben noch erdrückt, wird so zu einer Variante, wie man das Leben auch verbringen kann. Vorher nahm es allen Platz ein, so dass nichts darüber hinaus gedacht werden konnte. Jetzt, mit etwas Distanz, werden die Grenzen sichtbar. Es ist ein Kleid von vielen, ein Kleid, das das Leben anziehen kann. Aber es geht auch anders.

 

Es scheint, als ob ich viele Kleider ausziehe im Moment. Eben noch wollte ich auf meine Zettel schreiben: „Manchmal möchte ich nur noch tot umfallen, damit es zu Ende ist.“ Dann hatte ich den Traum, und dieser hat mir in den letzten Tagen oft geholfen: im Traum sah ich eine Katastrophe, und mitten drin wurde ein Kind geboren. So gehe ich jetzt durch diese Zeit. Und nach allen Erschütterungen fällt mir der Traum wieder ein.

Antonia geht fort. Noch einmal zieht mein Leben an mir vorbei. Die alten Bilder stellen sich wieder ein, «das Loch», das alles verschlingt. Und ich lege noch einmal die alten Kleider an, bin verzweifelt, bin verlassen, bin verraten, werde geopfert. Doch ein Traum zeigt neue Bilder an.

Antonia und ich wanderten auf dem Üetliberg. Ich wusste nichts zu sagen, mir fielen all die Menschen ein, die ich im Lauf des Lebens verloren hatte. So zog das Leben an mir vorbei. Antonia wollte reden, aber ich war wie abgehängt. Ich kippte aus mir heraus in einer Art von Kontemplation.

 

Ich kämpfe nicht und streite nicht. Es ist schwer zu begreifen. Ist mir denn alles gleichgültig? Es ist die alte Resignation, die mich wieder einholt. Es geht nicht, sagt eine Stimme, und schon strecke ich mich nach dem Prokrustes-Bett, das mir angeboten ist. Schon ziehe ich die Füsse an, gebe jene Teile verloren, die auf diesem kleinen Ort keinen Platz haben.

 

 

Nüchtern schaue ich vorwärts. Der nächste Lebensabschnitt steht schon vor der Tür: meine Pensionierung, der Auszug aus dem Haus, das Ausfliegen der Kinder, das Suchen nach einer neuen Formel für das Leben und Zusammenleben. Als Zukunfts-Bild sehe ich mich nicht an der Seite einer anderen Frau. Ich sehe mich allein in einem Zimmer, spartanisch eingerichtet: Tisch und Bett und Stuhl, dazu eine Koch-Gelegenheit. Ein Leben in selbstgewählter Arbeit und Kontemplation.

 

Falsche Hingabe

Als Kind hat die Kontemplation mich überfallen, vielleicht ähnlich, wie Sandra jetzt zum Träumen neigt. Es war der halb-krankhafte Eskapismus eines „schizoiden Kindes“, das nie ganz im Körper Platz genommen hat. Es war ein „Aus sich hinausfallen“, aber auch ein Hineingehen in ein Reich der Schönheit. Doch ich verbot es mir, immer wieder, definitiv im Alter um 25. Ich legte die Gedichte beiseite, verpflichtete mich auf einen Weg „unten“ auf dem Boden. So ging ich immer auf das zu, was mir nicht lag. Ich legte mir immer auf, was ich von mir aus nie gesucht hätte, weil ich spürte, dass der Weg da hindurch musste.

Und so bekam ich, gegen alle Wahrscheinlichkeit, sogar eine Familie. Es war das Schönste in meinem Leben. Es ist mein Dankgebet bis heute. Es ist das, was mich am meisten aus dieser kalten Welt befreit hat, wo Verlassenheit die Grundbefindlichkeit darstellt, nach dem „emotionellen Apriori“ meiner Kindheit.

 

 

Mein Teil

 

  1. Oktober 2010

Was soll ich noch im Leben? Ich bin überall im Weg. Ich bete zu Gott: Ich muss etwas von Dir haben, ich kann nicht auf die Zukunft warten, die es korrigieren soll. Ich muss jetzt so leben, dass ich Freude spüre an Gott und von Gott her.

Ich erinnere mich an die „Schechina“ bei den jüdischen Frommen, den Chassidim. Sie warten nicht einfach auf den Messias, eine solche Naherwartung wurde schmerzlich enttäuscht.

Sie freuen sich jetzt schon über Gott und seine Gegenwart, sie singen und tanzen. Sie haben jetzt schon Anteil an Gott und seiner Gegenwart.

Ich stelle Bibeltexte zusammen über Teilhabe und meine Eindrücke:

 

Mein Teil

Wer mehr und mehr auf Gott setzt und das andere mehr und mehr loslässt, begibt sich auf einen Weg, den Weg Gottes. (Das ist seine Innensicht). Er begibt sich aber auch auf eine Bahn. (Das ist die Aussensicht auf ihn). Er wird zum Fremdkörper im gesellschaftlichen Leben. Er „positioniert“ sich nicht, macht kaum mehr mit im Wettrennen um Güter und Geltung. Er scheint all das zu verachten, womit andere renommieren. Er stösst an. Er wird seltsam in den Augen der andern.

Manchmal übernimmt er ihre Sicht, sie wird ihm auch in der eigenen Familie vorgehalten, die halbwüchsigen Kinder wollen einen Papa, auf den sie stolz sein können. Sie genieren sich noch mehr, als es in der Pubertät schon üblich ist. Mit solch einem Vater kann man nicht aufkreuzen. Dann fühlt er sich wirklich nichts wert.

 

Dann hilft ihm das Bild vom Teil, das die Leviten im Alten Testament entwickelt haben: Bei der Landverteilung sind sie leer ausgegangen, sie haben kein Erbe, keinen Erbsitz, keine Stimme unter den Vermögenden. Ihr Anteil ist der Dienst am Tempel. Das gibt ihnen ein Auskommen. Ihr Anteil sind die Güter, die sie im Glaubensleben erfahren. Ihr Teil, das ist, ihre Sorgen auf Gott zu werfen. Ihre Freude ist, seinen Weg zu gehen.

 

Einige Texte – es ist die Ordnung für Priester und Leviten – zeigen die Spiritualisierung dieses Anteils an den Gütern: Gott gibt nicht nur das Einkommen aus dem Tempeldienst (dass der Ochse vom Stroh fressen darf, das er drischt, wie Paulus sagt). Er gibt denen, die ihm dienen, was sie brauchen, in einem umfassenden Sinn. Zwar sind sie ausgesondert aus dem Volk, sie haben dadurch aber nicht weniger, sondern auf andere Weise. Alles soll dem Volk dienen, dem Wohl des Ganzen. Es ist keine Aufrechnung verschiedener Schicksale, keine Neid-Ordnung, keine Kompensation durch spirituelle Güter und geistlichen Hochmut. Es geht ums Reich Gottes, um Recht, Würde, Zuwendung – das sind Güter, die denk- und lebensnotwendig sind.

 

Dennoch ist es ein besonderes Schicksal, auf Gott zu hoffen und andere Mittel weg zu lassen. Der Weg führt durch das Dunkel (wie jeder Weg), aber er führt ans Ziel. Darum wird das Thema auch in der eschatologischen Heilsprophetie wieder aufgenommen: Das „Minus“ an Schande und Blossstellung, das sie ertragen haben, wird ausgeglichen, wenn sie sich des Evangeliums nicht schämten und nicht abfielen. Es gibt ein „Plus“ in einem doppelten Anteil am Ende, wie bei Hiob.

 

Daran interessiert nicht die Buchhaltung des Anteilhabens, nur das Wahrnehmen: Da ist einer blossgestellt worden, auch das wird geheilt. Darum ist jetzt schon Trost und Freude in Gott. Das hilft zur Hingabe, wie es im Endbild aufgenommen wird von der heiligen Hochzeit, dem endgültigen Liebesbund in Gott.

 

 

East of Eden

 

  1. Februar 2011

Aus Träumen habe ich die Bitte ins Gebet genommen:

Hilf mir, dass ich mich nicht in die Überforderung flüchte, dass ich mich nicht zum “Opfer“ mache, das “unschuldig“ und nicht verantwortlich ist.

Wenn ich keine Angst vor mir selber habe (und vor dem, was in mir ist, dank der Anrufung von Jesus Christus) dann kann ich handlungsfähig werden.

 

Es ist wie ein Kommentar zu Genesis 4:

 

„Und der Herr sah Abel und sein Opfer gnädig an; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde? Ist es nicht so: Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruht die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (Gen 4,4ff)

 

East of Eden

Es ist das Paradox, das John Steinbeck in „East of Eden“ durchbuchstabiert. Für uns reagiert Kain nur auf die Benachteiligung. Neid und Zorn reissen ihn hin. Wer wäre nicht verzweifelt, wenn Gott ihn verwirft? Für einen absoluten Betrachter verläuft die Kausalität umgekehrt (für irdische Gerechtigkeit ist das ein Gräuel): Weil er in sich geneigt ist, kippt er und fällt er. Der Anfang zum falschen Verhalten war schon vorher in ihm. Hätte er dort Halt gemacht, wäre es nicht dazu gekommen.

 

In mir selber ist das Verlangen, die Neigung, die Tendenz, die Kraft, die mich zieht. Das macht mir Angst, es wird zu einer Angst vor mir selbst.

 

Wo treibt es mich hin? Ich gebe das Steuer auf, ich gerate in ein Fahrwasser, das mich mitreisst, und ich willige ein, mich mitreissen zu lassen. Aber jetzt kann ich noch umsteuern. Ich kann es, wenn ich in diesem Moment den Glauben nicht fahren lasse, sondern Jesus Christus anrufe. Und wenn ich es tue, kehrt die Besonnenheit zurück.

 

 

Es wird wieder klar. Ich nehme die Verantwortung wahr. Ich bin und werde zu einem Menschen, der Verantwortung wahrnehmen kann.

 

Ich bin dann kein Mensch mit „Zufalls-Generator“, der ihn mal auf die linke, dann auf die rechte Seite reisst. Und weil er das weiss, weil er Erfahrungen gemacht hat mit sich, traut er sich selber nicht mehr über den Weg. Er weicht der Verantwortung aus. Er stellt sich hinten an. Er unterstützt allenfalls andere. Aber er geht nicht voraus. Denn vor sich, da sieht er keine feste Leitplanke. Die müsste er in sich selber finden, das müsste er mit seinem Vorangehen für die anderen sein. Aber das kann er nicht, das traut er sich nicht zu. So kennt er sich nicht.

 

Handlungsfähig werden

Darum ist er ein Mensch, der nicht handlungsfähig ist. Er denkt, träumt, albert, ironisiert. Er spielt mit Worten. Im besten Fall findet er den Weg als Nachfolgender und lernt so einen gewissen Ernst. Aber das Vorangehen-Können, wie ich es bei Heinz bewundert habe, das kennt er nicht.

 

Für mich als Kind war Heinz, mein grosser Bruder, jemand, von dem Handlungen ausgehen. Schon in seiner Haltung war es spürbar. Er war eine Art Vaterfigur für mich. Mein wirklicher Vater hat das nicht ausgestrahlt, obwohl er auf bewundernswerte Weise Verantwortung getragen und im Geschäft „seinen Mann gestellt“ hat. Ich sehe jetzt, wie sehr er es „contre coeur“ gemacht hat. Ich muss ihn dafür noch mehr bewundern.

 

Auch ich muss das Fell meiner charakterlichen Neigungen gegen den Strich bürsten, wenn ich Verantwortung wahrnehmen soll. Auch für meine Kinder, unsere Kinder. Ich strahle es nicht aus, ich hoffe, ich kann es ein bisschen, wie mein Vater, contre coeur, aber doch wirksam in den wichtigsten Punkten. Aber „ausstrahlen“, so dass man es mit den Sinnen aufnimmt an seinem Vater, dass man seine Angst beruhigt und heimisch wird in dieser Welt, ausstrahlen kann ich es nicht. Da ist kein „Sexappeal“ dabei, wenn ich handle und Verantwortung übernehme. Es ist immer nur contre coeur. lch folge nicht meinem guten Gefälle, ich muss gegen meine falsche Neigung kämpfen. Und es ist wohl schon etwas Grosses, wenn Sandra lernt, gegen ihre Neigung zu kämpfen.

 

 

Der Türhüter

Sandra liest einen Artikel: „Bin ich zu introvertiert?“ Sie ist 14, hat begonnen, sich zu sich selbst zu verhalten, sie ist autonom geworden oder besser: Sie hat den Dialog aufgenommen mit dem Streben nach Autonomie und mit der Erfahrung, dass sie an Grenzen stösst. Sie sieht die Differenzen, macht sich Sorgen, reagiert mit Scham und \/erstecken bzw. mit Aufbruch und dem Willen, sich zu einem Ziel zu bestimmen.

 

Im Elternschlafzimmer hängt eine Zeichnung, die sie als kleines Mädchen gemacht hat: Da steht sie vor dem Fenster ihres Zimmers und schaut hinaus. Sie lacht. Unten vor dem Haus ist ein grosser, grimmiger Wachhund und fletscht die Zähne.

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich. Wenn ich den Wachhund in mich aufnehmen kann, so dass ich mich selber wehren kann, gegen Angriffe von aussen (und innen), dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin.

 

Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich das Bild sehe. Ich lese es als Aufforderung, sie besser zu schützen. Ich habe das zu wenig gekonnt, als sie klein war. Ist es jetzt dafür zu spät? Die Kleinkind-Phase der Kinder ist vorbei. Sandra ist in der Pubertät, Deborah wird in einem halben Jahr volljährig (18).

 

 

Wie innen und aussen sich verbinden

Ich kann das Bild lesen als Kommentar zu obigem: Ich und sie, jeder Mensch, der will, kann sich darin sehen.

 

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich.

Wenn ich den Wachhund in mich aufnehmen kann, so dass ich mich selber wehren kann, gegen Angriffe von aussen (und innen), dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin.

 

Dann kann ich von dem Schönen, was im Innen ist, auch nach aussen tragen. Dann kann ich andere Menschen daran teilhaben lassen.

Dann hat auch das Stück innerer Weg seinen Sinn und seinen Wert. Dann hat mein ganzes Leben, das anders ist als das der andern, seinen Sinn und seinen Wert.

 

 

 

 

Das Schloss meiner Mutter

Traum: Auf dem Land, das meine Mutter mir hinterlassen hat, gibt es noch viele wunderbare Schlösser und Anlagen, z.B. auf dem „Dätzen“ und dem „Nollen“. (Vom Dätzen hat meine Mutter erzählt, der Nollen liegt wohl nicht im Rheintal, wo sie herkommt. Es ist ein Berg aus meiner Kindheit, weil es dort ein Lagerhaus gab.)

 

(Der Traum schöpft aus Tagesresten – ich habe vor einer Woche den Film gesehen: Das Schloss meiner Mutter, nach Marcel Pagnol. Ich mache mir in letzter Zeit oft Vorwürfe und denke, ich sollte und müsste. Vielleicht taucht das jetzt vermehrt auf, weil ich mich nicht mehr in die Überforderung flüchte, was mir früher das Denken abnahm. Jetzt spüre ich die Verantwortung und realisiere: Ich weiss gar nicht, wohin die Reise gehen soll. Da sind die Ansprüche, die an mich gerichtet werden. Da ist das Konkurrenz-Spiel, das leicht zufrieden zu stellen ist, wenn man nur irgendwas macht, was „Erfolg“ oder „Beachtung“ erzeugt. – Aber was ist das, was es wirklich braucht?)

 

Der Traum erinnert mich. Auch im Erbe meiner Mutter, von dem ich vielleicht mehr übernommen habe als von meinem Vater, gibt es noch Schlösser. Auch wenn es nur solche sind wie im Film „Das Schloss meiner Mutter“ (nach dem Buch „Eine Kindheit in der Provence“ von Marcel Pagnol).

 

Sie flohen aus der Enge von Marseille in die Hügel der Provence, wo sie ein bescheidenes Feriendomizil hatten. Dort war das Glück. Im Schutz gegen das Aussen konnte das Innen aufblühen. Aber es war immer eine halbe Tagesreise Weg, weil sie all die Schlösser auf dem Weg umgehen mussten. Eines Tages entdecken sie einen Weg an einem Kanal entlang. Ein ehemaliger Schüler des Vaters ist dort Aufseher. Er öffnet die verbotenen Türen, und jetzt sind sie, wie durch einen Zauber, in einer halben Stunde am Ort.

 

 

Es gibt einen direkten Weg zum Innersten, zur Mitte, zum Glück. Innen und aussen lassen sich verbinden. Es ist ein mystischer Weg. Die Türe in der Gartenmauer, die man im Traum öffnet. Und man tritt hindurch und ist im Garten, in der Mitte.

 

Aber der Weg ist verboten. Sie sterben jedes Mal fast vor Angst, wenn sie da durchgehen. Und nach und nach werden sie auch entdeckt. Der eine Schlossherr ist ein Kavalier. Er küsst der schönen Mutter die Hand und lädt sie an den Tisch. Er erlaubt ihnen den Weg. Ein anderer – seine Reaktion habe ich vergessen. Und da ist noch ein dritter. Hier werden sie lange nicht entdeckt.

 

Es ist die letzte Station auf dem Weg. Und die Angst und Aufregung steigt jedes Mal ins Unerträgliche, wenn sie da hindurchgehen. Die Mutter hat ein schwaches Herz. Fast stirbt sie dabei. Der Vater ist eher ängstlich. Er ist ein überkorrekter Beamter und fürchtet um seine Stellung und wie das alles „nach aussen“ wirkt.

 

Schliesslich werden sie entdeckt. Ein kleiner Park-Wächter macht sich gross und demütigt sie. Es ist der wahr gewordene Albtraum. Aber die Hilfe kommt. Der Kanalwärter weiss, wie man sich wehrt. Er und seine Kollegen wissen, wie sie mit jenem Park-Wärter umgehen müssen. Der Weg ist frei.

 

Trotzdem stirbt die Mutter bald darauf. Die Zeit der Schlösser ist vorbei. Der Sohn aber wird zu einem berühmten Filmemacher (Schriftsteller). Er schickt seine Equipe auf die Suche nach einem guten Drehort. Und als er ihn besichtigt, realisiert er:

Es ist jenes Schloss. Das Angst-Schloss. Das Schloss seiner Mutter, wo sie Ängste litt, weswegen sie vielleicht gestorben ist. Ihm steht es jetzt offen. Dank der Mutter. Er ist ihren Weg gegangen.

 

 

Der Künstler

Auch im Innern gibt es Schlösser. Auch wenn die Aussenwelt Angst macht. Er hat gelernt, das Schöne aus seinem Innern hinauszutragen. Und die Menschen sind bezaubert. Sie fühlen sich im Innersten berührt. Sie entdecken, was sie selber ahnen. Nur können sie es nicht so gut in Bilder fassen. Aber hier sehen sie es vor sich.

 

 

Und so hat das Leiden seiner Mutter einen Sinn. Und sein Weg hat einen Sinn. Sie sind den Weg gegangen trotz der Angst. Und sie lernten, das Innere zu schützen und dann hinaus zu tragen, immer wieder, in Portionen, die verträglich sind. So dass das Heilige geschützt ist und auch die Menschen, die es verehren.

 

Es ist so wie Sandra es gezeichnet hat:

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich. Wenn ich den Wachhund in mich aufnehmen kann, so dass ich mich selber wehren kann, gegen Angriffe von aussen (und innen), dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin. Dann kann ich von dem Schönen, das ich im Innern finde, auch nach aussen tragen. Dann kann ich andere Menschen daran teilhaben lassen. Dann hat auch das Stück innerer Weg seinen Sinn und seinen Wert. Dann hat mein ganzes Leben, das anders ist als das der andern, seinen Sinn und seinen Wert.

Ich halte einige Ergebnisse dieses Kapitels fest:

 

Das Schöne

Mein Leben war von frühster Kindheit an von Kontemplation geprägt. Zuerst zwangsweise. Ich war gewissermassen aus der Wiege geworfen und fand den Weg nur, indem ich «in der Umgebung aufging», mich auf eine kontemplative Art zur Welt verhielt. Es war vor allem Handeln und Machen. So wurde es zu einer Art von Weltbezug, der mich auch später begleitete, in einem Alter, wo ich durchaus hätte handeln können. Aber bei jeder Verletzung rutschte ich in diesen frühkindlich erlernten Modus der Weltbewältigung zurück. Ich versank in Kontemplation.

Die Religion kam nicht deswegen in mein Leben. Aber da sie nun da ist, ist sie das Medium und der Ort, wo ich das „kultivieren“ kann. Ich kann Kontemplation üben, ohne dass es zu Weltflucht wird. Ich kann das „Schöne“ als Reichtum des Lebens annehmen, ohne dass es zu einer Droge wird, die mich hindert, die Verantwortung wahrzunehmen.

Es gibt einen direkten Weg zum Innersten, zur Mitte, zum Glück. Innen und aussen lassen sich verbinden. Es ist ein mystischer Weg. Da ist die Tür in der Gartenmauer, die man im Traum öffnet. Man tritt hindurch und ist im Garten, in der Mitte. Aber der Weg ist verboten. Sie sterben jedes Mal fast vor Angst, wenn sie da durchgehen.

 

 

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich. Wenn ich den Wachhund in mich aufnehme, so dass ich mich selber wehren kann gegen Angriffe von aussen und innen, dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin.

Dann kann ich von dem Schönen, was im Innen ist, auch nach aussen tragen. Dann kann ich andere Menschen daran teilhaben lassen. Dann hat auch das Stück innerer Weg seinen Sinn und seinen Wert. Dann hat mein ganzes Leben, das anders ist als das der andern, seinen Sinn und seinen Wert.

 

 

Entscheidung

 

  1. Mai 2011

Was will ich: Narren-Freiheit oder Achtung von den Menschen?

Zuerst muss ich selber mich entscheiden, was ich will. „Achtung“ bekommen, das heisst auch: sich hinstellen, sich behaften lassen, Garantie leisten oder Genugtuung geben, Kritik annehmen. V.a. aber: mich der Gefahr aussetzen; nochmals in das hineinzugehen, was ich nie mehr erleben wollte.

„Lieber mache ich mich selber zum Narren, als nochmals Scham und Schande zu erleben.“ So hat etwas in mir entschieden. Dann darf ich mich aber nicht beklagen, wenn ich in der Gemeinde nur noch „den Trottel“ darstelle.

 

 

Weltinnenraum

Untergangs-Gerede

 

  1. August 2011

Seit Wochen ist trübes Wetter, der Juli ist sprichwörtlich verregnet. Die unwillkürliche «Romantik» des Erlebens (die einen „link“ herstellt zwischen „innen“ und „aussen“ und die in der äusseren Trübsal eine Bestätigung findet für die innere Not) – sie erhält dieses Mal sogar Recht: Auch die Feuilletons sind voller Untergangs-Gerede. Und nicht nur die Feuilletons, auch die Wirtschafts-Seiten der NZZ orakeln von dunkler Zukunft.

 

Das Feuilleton wird aufgemacht mit einer Farbstudie von William Turner über den Brand des Parlamentsgebäudes in London. „Das Feuer, inszeniert als schöpferische oder zerstörerische Macht, eröffnet die Schau.“ Auf mehr als einer halben Zeitungsseite brennt eine der Gründungs-Institutionen der europäischen Demokratie, aber der Blick darauf ist nur noch ästhetisch: die Freude am Farbenspiel, das Gruseln und das geheime Einverständnis mit dem Feuer, das alles vernichtet.

 

Denn innerlich ist diese Katastrophe schon lang in Gang. So freut man sich, wenn es äusserlich endlich sichtbar wird. Endlich ist man wieder in Gleichstimmung mit der äusseren Welt, die bisher immer so unbeeindruckt ihren Gang zu gehen schien, während innerlich schon alles abbrannte, was einem Sinn und Halt gab in der Welt…

 

 

Der kosmische Innenraum

 

Ambach, 14. August 2011

Mache ich, was ich kann? Mache ich was ich soll? Wie unterscheiden zwischen einer Betriebsamkeit, die die Angst beschwichtigt und dem, was wirklich nötig ist? Wie unterscheiden zwischen „es ist unmöglich“ und „ich bin resigniert“? Wie nehme ich mich selber ernst und das, was ich gelernt habe?

 

Was tun?

Die Ratlosigkeit ist heute ziemlich allgemein. Symptomatisch der Satz aus dem „Tages-Anzeiger“: „Was tun? Man kann nur beten, dass sich die Politik trotz all ihrer Versäumnisse durchwurstelt.“ (TA 13.8.11, S. 11)

Wenn ich das lese, fällt mir auf, ich habe kein Bild von der Zukunft, und das trägt wesentlich zu meiner Beelendung bei. Ich habe Bilder von Untergang oder dann vom Bewahren, damit der nötige Niedergang abgefedert wird. Und positiv?

 

Hinausgeworfen

An diesem Morgen wache ich auf. Ich suche Anschluss, möchte spüren, dass ich gehalten bin. Ich bete. Ich erinnere mich, wie ich als Kind „Nina-Nina“ machte, wenn Mutter lange fort war und ich alleine im Kinderbett lag. Ich warf mich hin und her, wollte etwas spüren. Bis sie plötzlich da war und sagte: So, machst du „Nina-Nina“? Und es bekam einen Namen, war nicht mehr furchtbar.

 

Dieses Gefühl, hinausgeworfen zu sein, im Raum zu schweben, keinen Halt zu haben, nicht angeschlossen zu sein, verfolgt mich offenbar bis heute. Und im Alter vielleicht noch mehr.

 

Das grosse «Nina-Nina» der Kultur

Mein ganzes Bestreben, ja die ganze Kultur, liesse sich auffassen als ein grosses „Nina-Nina“: Es will sich anschliessen. Es sucht nach einem verlorenem Drin-Sein, Dran-Sein (einen kosmischen Mutterleib, eine Brust der Welt, einen Körper der Wirklichkeit), mit allen Sinnen, sodass alle Intuitionen wahr werden.

Katholiken haben eine Marien-Verehrung, die diese Kind-Mutter-Gefühle vielleicht besser aufnehmen kann. Es geht nicht um eine „Verschiebung kindlicher Bedürfnisse auf ein religiöses Objekt“ und die „Reduktion der Religion auf Psychologie“. Die kindliche Bedürftigkeit, ob erfüllt oder frustriert, ist ein Sensorium für die Wahrnehmung. Das gehört zu unserem So-Sein in der Welt. So müssen wir uns die Welt zu-richten, damit wir uns in ihr finden, in ihr leben können.

Wir müssen sie uns in einem absoluten „Du“ gegenüberstellen, wenn wir mit ihr ins Vernehmen kommen wollen. (Das machen wir im Gebet, dem spontanen Glaubens-Akt). Wir müssen ihr unterstellen, dass sie Antwort gibt auf unsere Fragen und Bedürfnisse, sonst fallen wir wie kosmischer Staub in eine ungeheure Leere. Dass sich damit nicht leben lässt, entgegen der Behauptung von sog. Religionslosen, zeigt diese Zeit mit ihrer Verzweiflung.

 

Mutter

Wir sind aus der Wiege gefallen, machen Nina-Nina. Und wir warten auf die Mutter Welt, die mütterliche Wirklichkeit, wo wir ins Leben eintreten können (statt in es hineinzufallen), wo wir sterben können (statt immer wieder von dem „Loch“ verschlungen zu werden, schon im Leben und dann im Sterben). Mutterschaft ist ein Bild für Gott (da wir nur diese Bilder haben, die aus unserem In-der-Welt-Sein stammen), Vaterschaft ein anderes. Bruder, Schwester wieder andere und die Verbindung in der Liebe ein weiteres.

 

Der Körper

  1. Juli 2013

Die Wirklichkeit ist ein Körper, an den man sich anschmiegt:

 

Wie ein Kind an die Mutter,

Wie zwei Liebende,

Wie ein Verstorbener, der in die Erde gelegt wird,

Wie ein einsamer Mensch, der noch ein Haustier hat, und es kommt, und schmiegt sich an ihn. Und es hilft ihm, dass er nicht aus der Welt hinausfällt.

 

 

Die Pforte

 

  1. Oktober 2011

Das Wetter hat umgeschlagen, es ist nass, kalt und dunkel geworden. Alles liegt unter einer Nebeldecke. Vorgestern bin ich mit Antonia auf die Rigi gefahren, in die Sonne hinauf, mit Blick auf das Nebelmeer. Heute ist es kalt. Ich will aufräumen, innen und aussen. Antonia und Sandra sind bei Oma. Sie ist nach dem Spital wieder zu Hause, mit Unterstützung vieler Dienste. Unsicher, wie lange es geht.

 

Weihnachten als „Filiale“ von Ostern

Bald beginnt die Vorbereitung der Weihnachts-Anlässe. Ich will Weihnachten nicht als etwas behandeln, das automatisch kommt wie der Frühling. Vorher ist ein gewaltiges Gebirge zu überqueren, wie der Gotthard, wenn man ins Tessin fahren will. Und es ist nicht sicher, ob man es schafft. Das sind die Ereignisse um die Passion.

 

In der Passion tauchen die Fragen auf, die an Weihnachten beantwortet werden. Beides gehört zusammen. Weihnachten ist eine „Filiale“ von Ostern. Das Weihnachts-Fest kam viel später, es hat den Inhalt seiner Heilsbotschaft von Ostern her. Es sieht weniger anstössig aus: Da wird ein Kind geboren, das kann man scheinbar leichter glauben. Das ist nicht wie ein Toter, der aufersteht. Aber so ist Weihnachten missverstanden. Da wird nicht ein Kind geboren, sondern Gott wird Mensch. Der Unendliche tritt durch die schmale Pforte eines Schosses und macht sich zum Menschen. Was die Pforte auch umgekehrt öffnet.

 

Die Pforte

Der kleine, sterbliche und zerteilte Mensch, der am Grabenrand blüht wie eine vergessene Pflanze neben der Autobahn: dieser Staub, dieses Partikel, dieser Weggeworfene und Geschundene und von hundert Wagen Überrollte, dieser Vergessene, von seinen eigenen Artgenossen Verratene – er findet eine Pforte, von der niemand mehr etwas wusste.

 

 

Das Wissen davon ist in der Menschheit ausgestorben. Als er in seiner Zerstörtheit seine tägliche Strasse runtergeht, ist da plötzlich eine Türe, wo niemals eine war. Sie ist nur angelehnt. Er stösst dagegen, sie geht auf, sie öffnet sich in einen Garten. Er geht hinein – dumm und blöd, wie er in seinem Elend ist, kann er nicht mehr klar denken und schauen – und findet sich in einem Garten wieder. Da ist es, da ist die Mitte. Da ist das Licht, die Wärme.

Und eine Erinnerung überkommt ihn wie aus der Zeit seiner Geburt, vor der Geburt. Es weht ihn an wie aus unvordenklichen Zeiten, und es bringt Schauer mit sich, Erschütterung – und Er ist da.

Und die Worte fehlen, aber eine Erinnerung schenkt ihm Kraft und Freude: die Erinnerung an Jesus Christus, wie er ihn kennt aus den Evangelien. Er pflegte zu sagen, wenn er einen Kranken heilte: „Tritt her, in die Mitte!“ So tritt auch er in die Mitte. Und es ist Gebet. Alles andere würde ihn zerreissen. Im Beten bleibt er leben.

Und nach unendlich langer Zeit kehrt er zurück. Durch die Türe, durch die Pforte. Durch den Engpass in die enge alte Welt. Aber es ist kein Alltag mehr. Es dröhnt ihm noch in den Ohren. Die Augen sind noch geblendet. So torkelt er in der Welt herum. Ist es ein anderes Torkeln als damals, als die Welt ihn am Schlafittchen hatte? Es ist ein anderes Torkeln. Er hat den Schleier gehoben, an einem kleinen Zipfel hat er den Schleier gehoben. Die Welt ist anders für ihn. Er weiss.

Er wird nie mehr so blind und stumpf und verzweifelt am Rande stehen. Weil er in die Mitte gesehen hat. Und dort war – Liebe! Man kann es nicht glauben, die Welt hat es vergessen. Die Welt torkelt ihren alten stumpfen Gang.

 

 

Im Weltinnenraum

 

  1. November 2011

Samstag, freier Vormittag. Ich hatte gestern kaum noch Kraft, weiterzufahren. Auch die Welt ist im Chaos, überall bricht es auf: Finanzen, Wirtschaft, Angst um die Zukunft, sozialer Protest, neues Säbelrasseln zwischen Israel und Iran, „arabischer Frühling“. Und Fukushima ist noch immer nicht „unter Kontrolle“… Man kann es auch so sehen: Wir nähern uns Weihnachten von der Seite der Erlösungs-Bedürftigkeit her. – Können wir auch die Botschaft der Erlösung noch hören?

 

Letzten Sonntag habe ich Oma in Basel besucht. Ich finde den Weg zu ihrer Klinik. Es wird ein wundervoller Besuch. Vor der Tür noch Zögern. Nach der Schilderung meiner Frau liegt sie im Sterben. Ich vertraue mich an. Als Pfarrer bin ich schon oft hineingegangen durch eine solche Tür: nackt und bloss, nur mit dem Vertrauen auf Christus und das Gebet. Ich muss nur „da“ sein. Er ist da.

 

Wir begrüssen uns, unterhalten uns, Grüsse von zuhause. Am Schluss ein gemeinsames Gebet. Eine Begegnung im Innern, durch die ich auch wieder ins Aussen komme.

Es ist, als ob eine Tür sich öffnet und wir eintreten in einen Welt-Innen-Raum.

Es ist wie bei „Ali Baba“ und seinem „Sesam öffne dich!“

Und eine Wunderwelt tut sich auf.

 

„Ja, das gibt es, ich hatte es nur vergessen! Das ist auch eine Seite der Wirklichkeit!“

Draussen rennen sie herum, sie plagen sich und bringen sich um im Existenzkampf der Wirtschaft, in Krieg und Bürgerkrieg.

Da ist Hunger und Härte und bleierne Zeit.

Aber hier ist Licht und Wärme und Menschlichkeit, ein Schatz von Gold und Perlen, heilige Zeit.

 

Hier ist Mitte.

 

 

Die Erinnerungen springen zurück, sie holen das Fernste herauf.

Wie ein Abstieg in den Brunnen.

 

Die Hoffnungen dehnen sich aus. Sie holen das Grösste aus der Zukunft. Wie eine Leiter in den Himmel.

 

Alles ist hier, alles ist jetzt.

Unter den Augen Gottes.

 

Ruhe, Glück und Ankommen.»

 

 

Die Antwort

 

  1. November 2011

Was wünschen wir uns, wenn wir älter werden, wenn das Leben sich dem Ende zuneigt? Wir möchten Anerkennung für das, was wir geleistet haben. Wir möchten Versöhnung, dass wir im Frieden sein können mit den Menschen. Wir möchten Danke sagen und selber auch die Dankbarkeit spüren der Menschen, uns gegenüber. Und wir möchten Gerechtigkeit. Schliesslich, wenn wir müde werden, möchten wir, dass das Leben einmündet an ein Ziel. Wir möchten ankommen nach dem langen Weg.

 

Wenn wir mit diesen Fragen auf den Text schauen, so liest er sich wie eine Lebensbeschreibung (Ps 63). Aber nicht den äusseren Weg beschreibt er, sondern den inneren Weg. Der äussere Weg, das sind die Stationen von Kindheit, Schule, Beruf und Familie. Das wurde angetönt im Lebenslauf. Der innere Weg, das sind die Erfahrungen, die wir dabei machen, die Hoffnungen, die Sehnsüchte und was wir erfahren haben an Glück und Leid. Da ist eine Kraft, die uns jeden Tag aufstehen lässt. Da ist eine Hoffnung, die uns beflügelt. Da ist ein Ort, wo wir immer wieder einkehren können und zur Ruhe finden.

 

„Du bist mein Gott, den ich suche, meine Seele dürstet nach dir. Mein Leib schmachtet nach dir wie dürres Land ohne Wasser.“

Der Psalm beginnt mit einer Anrede. Da ist ein „Du“, an den sich der Beter wendet: eine vertraute Person. Wir hören ein intimes Gespräch. Beste Freundinnen sprechen so, Menschen, die sich vertrauen und die sich ganz aufeinander verlassen können.

 

Wir sind im Innenraum der Welt. Draussen geht die Welt ihren Gang. Die Nachrichten erzählen von Politik und Krise. Das bleibt draussen, hier hören wir einen Menschen, wenn er „ganz bei sich“ ist. Er scheint schutzlos, er macht sich schutzlos, er offenbart sich und zeigt sein Innerstes, weil er sich hier ganz geborgen und angenommen weiss. Hier ist Wärme und Geborgenheit.

 

„Du“ – So ist es schön, zu leben, in der Geborgenheit eines „Ich und Du“, wo die Welt ein Gesicht erhält und Antwort gibt. (…)

 

Das ist das Gebet eines Lebens, der innere Weg eines Menschen mit Gott. Der Mensch in diesem Psalm wird nicht verschont von Problemen, auch er wird verletzt vom Leben. Es reisst Menschen weg von seiner Seite. Er erfährt Zurücksetzung und Unrecht. Aber er hält fest am Vertrauen zu Gott. So geht er seinen Weg. Und er findet Halt und Hilfe.

 

Es ist ein Weg auch für uns. Wir dürfen an unseren grössten Hoffnungen festhalten. Es ist nicht zu spät. Auch wir haben Verletzung erfahren – da ist ein Arzt, der heilt. Auch uns ist manches unter der Hand zerbrochen. Da ist einer, der aufrichten kann. Auch wir sind manchmal verzweifelt. Da ist ein „Du“, das Antwort gibt. In Christus kommt uns Gott entgegen.

 

„Ich bin der gute Hirte“, sagt Christus. „Ich will meine Schafe weiden, wie es recht ist. Was verloren gegangen ist, werde ich suchen, und was vertrieben ist, werde ich zurückholen. Was gebrochen ist, werde ich verbinden, und was krank ist, werde ich stärken.“ (Ez 34, 15)

 

In diesem Vertrauen dürfen wir auch an die Menschen denken, die gestorben sind, und an NN. Sie ist „angekommen“. Gott kommt ihr entgegen, er bringt sie ans Ziel.

 

 

Kein Ort. Überall

 

  1. Januar 2013

„Kein Ort. Nirgends“ heisst eine berühmte literarische Erzählung. Der Ort aber, von dem hier die Rede ist, könnte auch heissen „Kein Ort. Überall“. Denn er ist auf dieser Erde an keinem bestimmten Ort zu finden. Und doch ist er überall, wo man ihn sucht. Es ist ein „Ort der Besinnung“. Aber man findet ihn vor allem in sich selber.

Die Reformatoren haben vor 500 Jahren die Vorstellung abgelehnt, dass Gott sich an Dinge binde. Sie lehnten darum das Weihen von Räumen, Sachen oder Personen ab. Der Heilige Geist sei überall zu finden. Und Gott könne man anrufen, wo immer man sei, in welcher Situation auch immer.

Die Rede ist vom Gebet. Wer das bei sich hat, hat immer Kontakt. Und jeder Ort wird ihm zu einem „Ort der Besinnung“. Darum sind alte reformierte Kirchen so nüchtern. Sie erzeugen keine Stimmung durch Architektur und Malerei. Der Reichtum, der da ist, den bringen die Menschen mit.

 

Der entfaltet sich inwendig, wie ein Garten in einem verschlossenen Hof. Es braucht gleichgestimmte Augen, um ihn zu sehen. Es braucht das Gebet, um in diesem Garten einzutreten und die Schönheit zu sehen. Wer es aber bei sich hat, der kann sie überall entdecken.

So ist das Gebet ein kleines „Vademecum“, das man immer bei sich tragen kann. Wie eine Reise-Apotheke. Wie ein Handy, durch das man immer verbunden ist.

 

 

Das Schrecklichste und das Schönste

 

  1. Januar 2013

Christus betet im Garten Gethsemane. Botticelli hat das Bild gemalt. Ein Engel reicht ihm den Kelch. Unten sieht man die Jünger, die schlafen. Es ist ein Bild der Passions-Geschichte, aber er hat dieses Bild kombiniert mit dem Motiv des „hortus conclusus“.

Der Garten ist eine Felsplatte, über den Rest erhoben. Und er ist von einem Gartenhag umgeben.

So teilt sich der Eindruck von Frieden und Freude aus dem einen Motiv dem andern Motiv mit, das sonst Entsetzen wachruft.

 

Es ist das Schlimmst-Mögliche, was die Phantasie eines Menschen sich vorstellen kann. Aber gerade hier, in deinen Albträumen, wenn das Dunkelste dich einholt, da kannst du durch die Tür gehen, da kannst du in den Garten eintreten, da kannst du dich vor Gott stellen. Da kannst du in der Mitte verweilen. Da kannst du Frieden finden und Freude bei deinem Gott!

 

Frieden im grössten Schrecken
Botticelli, der das Bild malte, hat etwas Ungewöhnliches gemacht. Er hat für den Garten in Gethsemane das Bild vom umschlossenen Garten gewählt. In der Malerei ist das der „hortus conclusus“. Dieses Bild steht für die Intimität der Begegnung zwischen Gott und Mensch. Abgeschirmt von Dornen blühen die Rosen im Garten. Geschützt von Mauern blüht der Reichtum im Inneren. So wie es aufblüht im Menschen, in der Begegnung mit Gott.

 

 

Es ist wie der innerste Seelen-Kern. Der Ort, wo wir uns noch erinnern an Gott, und wo wir eine grosse Sehnsucht nach ihm tragen. Ein Paradiesort vom Anfang, ein Sehnsuchtsbild für das Ziel des Lebens, wenn alles wieder vereint ist, was getrennt wurde und auseinander gerissen. Wenn der Mensch wieder bei Gott und Gott beim Menschen ist.

 

Dieses Bild des Friedens kombiniert der Maler jetzt mit dem Schreckensbild, wo Jesus verfolgt wird und um sein Leben fürchtet! Christus sagt: „Meine Seele ist zu Tode bekümmert.“ Und ausgerechnet jetzt erinnert er an die Geborgenheit, die er erfahren hat im Vertrauen zu Gott. – Was ist wohl stärker: der Schrecken, den das Bild von Gethsemane verbreitet? Oder der Friede, der vom Bild des Gartens ausgeht?

 

„Alles ist Dir möglich“, sagt Christus. „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht was ich will, sondern was Du willst!“ (Mk 14,36) – Nicht das, was ich will. Das ist keine Resignation. Das ist nicht Verzweiflung. Es ist Vertrauen! Er gibt sich hin an diesen Gott. Er vertraut ihm, auch in dieser dunklen Stunde. Er glaubt, dass Gott gute Gedanken für ihn hat und dass er ihn den richtigen Weg führt.

 

Das Vertrauen, das wir in uns tragen – wir dürfen es auch dorthin tragen, wo unsere grössten Sorgen sind. Der Friede – er ist gewachsen im Innern, dort wo wir im Gespräch sind mit Gott in unseren Gebeten – wir dürfen ihn auch dort hintragen, wo wir Widerstände spüren, wo die Angst uns lähmt.

 

Der Garten geht mit
Die Dornen schützen den Garten. Die Mauern schützen das Heiligste, was wir kennen. So konnten wir uns früher öffnen für das Vertrauen und für das Leben. Weil wir wussten, dass das Innerste und Kostbarste geschützt und bewahrt wurde.

 

Jetzt erfahren wir: Gott selber ist da. Er ist mit uns auf dem Weg. So dürfen wir ihm alles hingeben, müssen nichts mehr zurückhalten. Wir wissen und vertrauen: Er schützt und bewahrt es, wie es richtig ist.

 

So dürfen wir hinausgehen, auf das Stück Leben, das vor uns liegt. Und wir dürfen die Geborgenheit dieses Schutzes mitnehmen auf den Weg. Denn Er ist mit uns.

 

 

Die Himmelsleiter

 

  1. Februar 2013

 

Was ist das: das Leben? Was macht unser Leben aus?

Wir denken unser Leben immer von dem her, was wir machen. Das beschäftigt uns ein Leben lang: die Schule, die Ausbildung, der Beruf. Jeden Tag ist die Agenda voll mit Pflichten und Aufgaben, die wir erfüllen müssen. So können wir uns fast nicht mehr vorstellen, dass man ein Leben auch anders erzählen könnte. Wir können das Leben auch von dem her verstehen, was uns geschenkt wird. Dann kommen ganz andere Dinge in unseren Blick: die Familie, die Menschen, die wir gern haben.

 

Das erste, was wir in einem Lebenslauf angeben, ist unser Geburtsdatum. Das erste und wichtigste an unserem Leben haben wir nicht selbst gemacht. Es ist uns geschenkt. Und wenn wir all das abziehen würden, was uns geschenkt ist, es würde wenig übrig bleiben. Wir finden uns vor auf dieser Welt, die wir nicht gemacht haben. Wir leben von dem, was sie und die Natur uns schenken. Wir sind Teil von etwas Grossem.

 

Die Bibel erzählt das Leben von Jakob. Zuerst hören wir von dem, was er selber macht. Mehr und mehr wird sein Leben aber auch durchsichtig für das, was ihm geschenkt wird. Und wir sehen seine Lebensreise in einem grösseren Zusammenhang. Bei dieser Geschichte lernen wir begreifen, was mit dem Wort „Paradies“ gemeint ist. Und was Kinder meinen, wenn sie sagen: dass „Opa im Himmel“ ist. Hören wir die Geschichte von Jakob.

 

Jakob macht sich auf den Weg. Früh am Morgen ist er schon unterwegs. Es ist ein schönes, erwartungsvolles Gefühl: ein neues Kapitel des Lebens fängt an. Er soll heiraten, die Braut abholen, die für ihn bestimmt ist. Das wird ein grosses Fest geben in der Familie, alle sind dabei. Das gibt ein Singen und Tanzen, ein Festen und Fröhlich Sein. Jakob kommt flott vorwärts. Am Anfang ist alles bekannt. Hier ist er aufgewachsen. Hier kennt er jeden Tritt und jeden Stein. Er kommt bei den Herden vorbei, bei den Weideplätzen, am Brunnen. – Orte, wo er als Kind gespielt hat. Er grüsst all diese Plätze im Vorbeigehen. Er nimmt die Erinnerungen mit.

 

 

Bald ändert sich der Weg. Und es kommt der Moment, wo er wirklich Neuland betritt. Hier war er noch nie. Aber sein Vater hat ihm den Weg beschrieben. Er ist diesen Weg schon gegangen. Jakob geht zu dem Ort, wo sein Vater herkommt. Und er hat ihm seinen Segen mitgegeben. Es ist schön, wenn man sich von seinem Vater getragen fühlt, wenn man im Einverständnis ist mit Vater und Mutter. –

 

Jakob greift tüchtig aus. Am Mittag macht er Halt, er packt das mitgebrachte Essen aus. Er schaut sich das Land an. Es ist schön, es gibt Wiesen und Wasser. Da könnte man Vieh weiden lassen. Vielleicht wäre das ein Platz für ihn, wenn er eine Familie hat?  –  Dann geht es weiter. Jakob ist jung. Es ist eine Freude, die Beine zu bewegen. So wandert er bis in den Abend hinein.

 

Allmählich wird es dunkel. Er sucht sich einen Platz zum Übernachten. Er ist es sich gewohnt, im Freien zu übernachten. Das hat er oft getan zusammen mit den Knechten, wenn er bei den Herden war, zuhause, wenn er die Ziegen hütete. Er freut sich, unter freiem Himmel zu schlafen. Er legt sich einen Stein unter den Kopf und legt sich hin. Ein prächtiger Sternenhimmel wölbt sich über ihm. Er wird allmählich schläfrig. Die Milchstrasse ist wie ein silbernes Band am Himmel. Es beginnt unten am Horizont und führt hoch in den Himmel hinauf. Wie eine Strasse… Jakob schläft ein. Er hat einen Traum.

 

Der Traum

Er träumt von dem Weg, von dem, was er vorhat. Er träumt von seinem Leben, und was für eine Wendung es nehmen wird. Und dann sieht er eine Leiter. Der Himmel ist offen. Und eine Leiter führt von seinem Platz direkt in den Himmel hinein. Und Engel steigen auf der Leiter auf und nieder. Und Gott selber ist da. Er gibt sich ihm zu erkennen: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks.“ Er segnet ihn. Dein Weg wird dich ans Ziel führen, sagt er. Ich werde dir Kinder schenken, sie sollen auf diesem Land leben, auf dem du stehst. Ich gebe es dir und deinen Nachkommen.

 

Am Morgen wacht Jakob auf. Ganz elektrisiert von seinem Erlebnis.

Was war das? Er möchte es festhalten. Der Stein, auf den er seinen Kopf legte in der Nacht, er richtet ihn auf, als Zeichen, damit er diesen Ort wieder findet. Hier will wieder herkommen. Hier soll das Zentrum werden für ihn und seine Familie.

Das ist ein heiliger Ort, sagt er. Hier ist das Tor zum Himmel, und ich wusste es nicht.

 

 

Wenn ich sicher zurückkomme, dann will ich hier für meine Familie einen Altar bauen. Das soll der Mittelpunkt werden für meine Familie – der Ort, wo der Himmel offen ist und wo Gott Antwort gibt.

 

Das Leben

Später, viel später, als er selber schon alt ist, erinnert er sich gern an diese Wanderung. Er ruft sie sich in Erinnerung. Und er kann spüren, wie es sich anfühlte: als er am Morgen loszog, als er Mittagspause machte, als er am Abend einen Schlafplatz suchte. Und wie er dann den Himmel über sich sah.

 

Und er sieht sein Leben dann mit anderen Augen. Es ist ein grosses Unterwegs-Sein. Nicht nur damals, in der Jugend, auch jetzt, im Alter.

Es hört nie auf. Und sein Weg, den er hier unten geht, ist nur ein Teil eines grossen Weges. Er hat etwas davon gesehen, die Leiter, die in den Himmel führt.

Es ist nur ein Traumbild. Aber er erinnert sich ein Leben lang daran.

Es ist etwas Wahres, aber er kann nicht sagen, wie das geht.

Es gibt ihm Vertrauen für den Weg.

 

Ich verstehe nicht alles, was mein Leben ausmacht. Ich muss es wohl auch nicht verstehen.

Aber ich muss vorwärts gehen. Und ich spüre, dass ich dabei begleitet bin.

Damals war ich unterwegs zu einer Hochzeit. Etwas Schönes lag vor mir, ein grosses Versprechen.

Auch jetzt hat das Leben ein grosses Versprechen für mich. 

 

Jakob vertraut auf seinen Traum. Er lässt sich von dem leiten, was Gott ihm versprochen hat. So geht er seinen Weg. Er macht eigene Schritte, und kommt doch an ein Ziel, das er aus sich allein nie hätte erreichen können. Es ist, als ob jemand eine Leiter aufgerichtet hätte, die von der Erde zum Himmel führt. –

 

Die Haltung

So erzählt die Bibel. So können wir unser Leben ansehen: Wir sind auf einer Reise, sie ist viel grösser, als wir denken. Da ist eine Heimat, von der wir herkommen. Da ist ein Ziel, zu dem wir unterwegs sind. Es ist uns vorgegeben wie die Erde, auf der wir unterwegs sind, wie die Sterne, die über uns leuchten. Es ist ein gutes Geheimnis um das Leben. Von seinem Ursprung her.

 

 

Am Ende des Wegs nimmt er uns auf. Wie er es zugesagt hat: «Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.»

 

 

Trauma und Weltinnenraum

 

  1. Juni 2013

Sandra ist jetzt in Frankfurt. Um 12.00h fliegt sie nach Washington. Ihre Abreise hat mich nervös gemacht. Zuerst auf eine halb verborgene Weise, es schlich sich ein von den Rändern her. Bis es immer grössere Teile von mir okkupierte. Ich wurde fahrig und nervös, wütend. Ich zog mich zurück und wollte niemanden sehen. Es erinnerte mich an mein Aufgebracht-Sein, wenn die kleinen Kinder früher nicht nach Hause kamen und ich nicht wusste, wo sie waren.

 

Als Sandra weggeblieben ist

So ist Sandra früher mal weggefahren, auf ihrem Dreirad. Sie sagte noch „ich geh weg“. Eine Frau hat sie später auf der Marktgasse angehalten. „Zu wem gehörst du denn?“ „Pffh!“ – hat sie sie angefahren. Später, sie war vielleicht acht Jahre alt, wollte sie mit ihrer Freundin Kathy weggehen, so wie Pippi Langstrumpf von zuhause ausreisst. Sie packten eine Gurke ein, Guetsli, und eine Pelerine. Später entdeckten wir sie auf der Treppe vor unserem Haus, wie sie die Gurke assen. Vielleicht hat Kathy sie davon abgehalten, in Nacht und Nebel hinein aufzubrechen, wie Pippi Langstrumpf, und bei jeder Kreuzung die Münze zu werfen.

 

 

Ein Einbruch von Ängsten

Es ist ein Einbruch von Ängsten, der in seinem Ausmass aus der Situation nicht erklärbar ist. Da wurden alte Dämonen geweckt, die mit Furcht und Schrecken durch das Haus rasten. Eine alte Angst wurde geweckt und mit der Erinnerung stieg die Befürchtung auf, dass das Leben wieder seine hässliche Seite zeigen könnte und mich tief verletzen.

 

Da gibt es keine sichere Seite, auf der man wohnen kann.

Die Abgründe sind immer da.

Und es kann dich immer wieder einholen.

Dafür gibt es keine Therapie. Heile mal den Tod weg!

 

Dafür gibt es nur das Glaubensvertrauen.

Und dieses geht immer wieder durch die Hölle.

 

Das Glaubensvertrauen muss die Bilder aufnehmen, muss selber rasen und schrecken können. Wie soll ich sonst diesen Fratzen begegnen? Dafür ist die Apokalypse da. Da ist der Glaube am Kämpfen.

 

Der grosse Tod

In meiner Jackentasche fand ich kürzlich einen Zettel mit einer Notiz:

 

“Diese Welt geht auf ein massenhaftes Sterben zu –

wie wollen die auskommen ohne einen Gott,

der entgegenkommt und aufnimmt?“

 

Die Antike kannte Jesus Christus als „Psychopompos“, als Seelenführer. Früher hatten sie einen Gott, der mit massenhaftem Tod und mit Schrecken umgehen konnte. Das ist die Szene in der Bhagvad Gita, wo Gott sich dem Krieger Arjuna offenbart. In einer japanischen Manga-Version hat sie Hayao Miyazaki aufgenommen, in seinem „Porco Rosso“. Der Kampfflieger im Krieg ist übermüdet, er fällt in einen Traum. Er sieht einen Strich über sich, der in den Himmel zieht. Als er genauer hinsieht, sind es Myriaden von Kampffliegern in ihren Flugzeugen, alle seine Kameraden, aber auch die Gegner, die abgeschossen wurden – in einer langen Prozession fahren sie in den Himmel auf.

 

 

Der Blick von aussen und von innen

Tod und Schrecken – das ist der Blick von aussen.

Christus ist all diese Tode schon gestorben.

Er kommt ihnen von der anderen Seite her entgegen, nicht in Schrecken, sondern in Frieden. Er verbreitet nicht Angst, sondern Trost und Geborgenheit.

 

Die Offenbarung zeigt beide Seiten: Den kämpfenden Gott, den Blick von aussen. Und den entgegenkommenden Gott, den Blick von innen.

 

Dass er entgegenkommt, das ist der Blick von innen.

Von aussen gesehen heisst das: Er hat gesiegt.

Im Glauben wären wir im Innern, aber in Angst und Schrecken schauen wir immer wieder von aussen.

 

Für diese Zeit hat er die Glaubenden mit einem Kreuz bezeichnet, damit sie schon aussen etwas haben, was sie an den Frieden im Innern erinnert. Von aussen ist es schrecklich anzusehen: ein Kreuz, ein Instrument der Folter und des Todes. Von innen ist es ein Geschenk des Friedens.

 

„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Joh 14, 27)

 

 

Das Äusserste und das Innerste

 

  1. Mai 2015

Im Traum gehe ich hinaus und verirre mich. Ich frage nach der Adresse und finde sie trotzdem nicht. Das träume ich zweimal. Nach dem Aufwachen habe ich Angst, dass ich dement werden könnte. „Alles verlieren“ – das Bild der Demenz verbindet sich mit dieser Angst.

Mit der Demenz verliere ich nicht nur Haus und Bleibe, ich muss in ein Heim und kenne vielleicht Frau und Kinder nicht mehr. Schon einmal habe ich den Namen meiner Mutter vergessen!

 

 

Ich verliere auch mich selber und alle Vorstellungen, die die innere und äussere „Welt“ repräsentieren.

Zuerst mobilisiert der Traum die Angst der Verlassenheit, was ich als Kind erlebte. Dann geht die Angst ins Aller-Innerste: dass ich auch den Glauben verliere, jenen Anker, den ich auch in der allergrössten Verlassenheit meines Lebens noch auswerfen konnte.

 

Hängt der Glaube am Verstand? Ist es eine Verstandesfunktion? Hängt das Vertrauen-Können am Körper, ist da eine Gewissheit eingestiftet, die auch dann noch spielt, wenn der Verstand seine Funktionen einstellt?

Der Traum sagt: Ich kann noch beten. Das hängt dann vielleicht nicht mehr an den kognitiven Teilen des Betens, vielleicht nicht mehr an den körperlichen Anteilen (dem jahrzehntelang geübten „ewige Gebet“, das mit Atmen verbunden ist und manchmal fast selbsttätig abläuft).

 

Ich erinnere mich an das grösste Gebet in meinem Leben, das ich gar nicht gebetet habe. Es war vielleicht der dunkelste Moment in meinem Leben. Gott hat mich gesehen. Gott hat gehört, was ich gar nicht gesagt habe (ich konnte nicht beten, weil ich den Glauben noch nicht kannte). Gott hat mir eine Antwort geschickt (auf das, was nur ein unartikulierter Schrei war, ein stummes Bitten, das keinen Adressaten kannte). Er hat mich aus meiner abgrundtiefen Einsamkeit erlöst, mir eine Frau und eine Familie geschenkt, mir ein Dasein gegeben und aus dem Loch gerissen, in dem ich schon versinken wollte. Von da ab meinte ich zu verstehen, was Paulus in Römer 8 meint mit der Bemerkung, dass der Heilige Geist uns zu Hilfe eilt, wenn wir nicht beten können – dass er uns seine Seufzer leiht.

 

Wenn ich also schon beten konnte, bevor ich den Glauben kannte, dann werde ich auch noch beten können, nachdem ich den Glauben als bewusste Funktion vielleicht verloren habe: Gott selbst wird an meiner Stelle für mich beten. So will ich mich seiner Barmherzigkeit anvertrauen, komme was wolle!

 

 

Das Leben besichtigen

 

  1. Juli 2013

Vielleicht reisen Männer nach der Pensionierung auch deshalb so gern im Land herum, weil sie ihr Leben besichtigen. Es ist nicht einfach Tourismus, es ist das vergangene Leben, das gelebte und das ungelebte. So geht es auch mir, als ich den Stätten meines Lebens nachreise.

Jede Entscheidung hinterlässt auch ungenutzte Möglichkeiten. Und es ist reizvoll, sich diese auszumalen. So wie beim Kartenspiel – manchmal spiele ich aus und bedaure den Zug schon im Spielen. Ich hätte es auch anders machen können. Es wäre reizvoll, alle möglichen Varianten zu wissen, die das Spiel hätte nehmen können…

Meine Art, das Leben anzugehen, zeigte sich auch bei diesem Rundgang durch die Stadt, wo ich früher mal eine Stelle hatte.

 

Aussen herum
Ich entscheide, dass ich erst aussen herum gehe. Das ist meine Art. Ich hätte sonst das Gefühl, ich hätte es mir zu leicht gemacht, wenn ich gleich ins Zentrum gehe, wenn ich dort weitergehe, wo es schön ist und wo es gleich ins Ziel zu führen scheint. Ich würde es dann büssen, meine ich, denn das, was mir gefällt, das kenne ich schon, das kann ich. Aber dort aussen werde ich vielleicht mit Aufgaben konfrontiert, die mir nicht liegen, die ich nicht lösen kann. Und die muss ich doch vielleicht bestehen?

 

Lebenswege
So gehe ich mein Leben lang in Gassen, die ich nicht kenne, konfrontiere mich mit Aufgaben, die ich noch nicht lösen kann, lade mir Dinge auf, die mir schwer werden und die ich nicht einmal gerne tue. Und ich lasse liegen, was ich gerne habe, was mir leichtfällt, wo es mich hinzieht. So kann man auch einen Weg gehen, das ist auch eine Regel für ein Labyrinth: Wähle immer das, was dich abstösst. Aber ist das ein Weg, um glücklich zu werden? Entfaltet man so seine Talente, für sich oder zum Wohl von andern? Ist das überhaupt ein Weg zu irgendetwas? Oder ist es nur die Verbohrtheit einer kindlichen Psyche?

 

Vorschnelle Mitte
Ich bin älter geworden. Jetzt kann ich nicht mehr alles von aussen und von unten aufdröseln. Jetzt ist es dringlicher, ins Zentrum vorzustossen. Führt nicht jedes Labyrinth schon nach den ersten Durchgängen mitten hinein? Man sieht die Mitte schon, man ahnt es schon, und es gibt Kraft und Freude zum Weitergehen. Aber gleich darauf führt der Weg wieder fort, er geht aussen herum. Es wäre eine Enttäuschung, wenn ich mich gefreut hätte, schon jetzt ins Zentrum vorstossen zu können.

 

Innen und aussen
Meine Psyche enthält das Labyrinth in sich. Darum ist nichts verloren, egal, ob ich zuerst ins Zentrum vorstosse oder aussen herum gehe.

Ich muss wohl alle Wege in diesem Labyrinth abschreiten. Denn das Leben ist labyrinthisch strukturiert. Es gleicht dem Birnbaum, der seine Form im Blatt zeigt aber auch im Ganzen. Diese Baumstruktur hat es im Äussern, aber sie ist auch in unser Inneres eingebildet. Darum steckt es auch in meiner Psyche.

Also ärgere Dich nicht um ein vertanes Leben. Es ist immer ganz und eins. Auch wenn ich nur die Bruchstücke sehe, auch wenn es mir in der Mitte zerbricht. Aber die Mitte ist da, und ich kann mich hineinstellen. Und dort erfahre ich das Ganze. Dort ist Gegenwart und Schauen. Dort zeigt Gott dem Moses das gelobte Land.

 

 

Nachwort

 

Innen und aussen – ist das mehr als eine Ortsbeschreibung? Immer wieder tauchen die Begriffe in meinen Tagbüchern und Notizen auf. Mit der Suchmaschine habe ich einige Texte zusammengestellt. Was steckt also dahinter? Ich rufe einige Texte auf und folge dem Weg, den sie beschreiben.

 

Nach Afrika!

Als ich das Gefühl hatte, ich hätte genug Karriere gemacht, ich hätte gezeigt, dass ich’s kann, ging die Motivation schlagartig verloren, sie wandte sich nach innen. Die Mitbewohner aus der WG fuhren per LKW durch Italien nach Afrika. Ich machte mich auf eine Reise in die Vergangenheit – oder in das, was sich innerlich bei mir anmeldete, was angesehen werden wollte.

 

 

Dableiben

Ich konnte nicht stillhalten. Ich fand in mir keine Ruhe. Als ich begann, abends hinzusitzen und aufzuschreiben, was mir durch den Sinn ging, spürte ich, dass da Ängste waren, die grosse Gewalt über mein Inneres ausübten. Ich konnte sie kaum benennen, aber sie abzuwehren, erforderte grosse Kraft. Gewisse Tageszeiten waren kaum zu ertragen, ich musste sie in Rituale packen, die mir den Ablauf vorgaben. Die Angstabwehr stürzte mich in Betriebsamkeit. Das waren die ersten Begegnungen auf meiner Reise nach «innen».

Wenn ich mich so durch die Abende treiben liess, wenn ich nach den zwanghaft verbrachten Abenden nach Hause kam, fühlte ich eine abgrundtiefe Enttäuschung. Darin entdeckte ich das Bild eines besseren und ganzen Lebens, wenn ich auch sonst nichts davon wusste. Es steckte nur noch in dieser Enttäuschung, die auf etwas Besseres verwies.

Das Erste, was mir aufgegeben war, so entdeckte ich, war die Fähigkeit, nicht wegzulaufen. Das Erste, was ich wiedergewinnen wollte, war, standzuhalten, mich umzudrehen und dem ins Gesicht zu sehen, was mich vor sich hertrieb. Wenn ich vor ihm davon lief, würde ich es immer im Nacken haben.

 

 

Dabei half mir das Bild des besseren Lebens, das mir durch sein Fehlen bewusst geworden war. «Nein, er möchte ein ganzes Leben. Anders geht es gar nicht! Ohne die Zuversicht, dass das Leben gelingt, kann man es nicht führen. Ohne die Garantie, dass es am Schluss ankommt, ist schon der erste Schritt nicht möglich.»

Die Hoffnung warf ihr Netz weit in die Zukunft. Ich begriff, ohne Hoffnung konnte ich nicht leben. Was am Schluss vielleicht erreicht wird, das richtige Leben, ich brauchte es schon für die ersten Schritte.

 

 

Dumm und leer werden

Ich hatte den äusseren Halt losgelassen, die «Karriere», die mir bestätigte, wer ich war und was ich wert war. Einen inneren Halt hatte ich noch nicht. Ich beobachtete mich von aussen. Ich wollte ein angenehmer Gesprächspartner, ein guter Kollege sein, aber da war nichts. Ich riet, was wohl von mir verlangt sei, ich spiegelte mich im Bild der Erwartungen und verlor mich im Spiegelkabinett des erwarteten Verhaltens.

Ich wollte mich in den Augenblick stellen und versuchte die schwierigste Übung schon am Anfang. Dafür brauchte ich Vertrauen, das Gegenteil von Angst, und ich brauchte Glauben. Der Weg ins Innere entpuppte sich als ein Weg, auf dem die alten Ängste aufgesucht werden mussten, und als Weg zum Vertrauen, das im bisherigen Leben verloren gegangen war.

Glaube, so lernte ich, ist nicht nur ein Relikt alter Kulturen, nicht eine Sammlung von dogmatischen Sätzen, es ist eine Lebensform, die das äussere und innere Leben nicht auf Sicherheit abstützt, nicht auf all die Vorkehrungen, die man vornehmen kann, um Einkommen, Stand und Selbstachtung zu garantieren. Es ist eine Vertrauenshaltung, die das Unmögliche versuchte: sich auszuliefern und keine Angst zu haben, sich anzuvertrauen und keine Panik zu empfinden, sich hinzugeben ohne etwas in der Hinterhand zu behalten, durch man es notfalls doch noch kontrollieren konnte. Ich konnte das nicht, in mir löste das Panik aus. Gerade darum zog es mich an. Ich wollte es lernen.

 

 

Was war hier «innen» und was war «aussen»? Es war wie ein Staubkorn, das Wasserdampf kondensieren lässt, so dass es regnet und bald alles davon benässt wird. Wenn ich bei «Gott» angelangt war, was war dann innen und was aussen? Mir half das Erlebnis, dass gläubige Menschen so vertrauen und sich anvertrauen können. Es half mir, «dumm und leer» zu werden.

 

 

Aus der Deckung kommen

Viele Verstecke hat meine Angst gesucht, viele Barrikaden aufgerichtet. Wenn ich hervortreten soll, fühl ich mich wie ein Maulwurf, der ausgegraben wird und ins Helle blinzelt. Hier erlebe ich etwas von dem «Augenblick». Es ist der Moment des Hinaustretens, wo ich alles hinter mir lasse, was mir Halt verspricht, wo ich nichts bei mir habe als das Vertrauen auf Gott, das ich von ferne kennengelernt habe und dem ich mich ausliefern will.

 

Das ist nicht der «Augenblick» eines ruhigen Gottvertrauens, das sich in die Gegenwart des Gebetes stellen kann. Das ist der Augenblick einer aufs höchste angespannten Angst. Jetzt heisst es, zu springen, hier ist der Ort, wo alles drauf ankommt. Spring!

 

«Hier und jetzt. Gott lebt, hier und jetzt. (Ich muss es mir in der Angst vorsagen wie eine Formel; bis ich mich hineinfinde). Ich kann auf ihn vertrauen und das tun, was ich als richtig erkannt habe.

Das ist der heilige Augenblick und der Ort, an dem Gott erscheint. Die Angst will alles in ein fahles Licht tauchen, aber das Licht seiner Gegenwart ist heller. Hier ist alles in Gelingen getaucht. Gott blickt auf mich – in seinem Blick wird alles heil, in seinem Blick wird die Welt, wie sie von ihm gedacht ist. In ihm kommt sie in sich selber an.»

 

 

Im Innern gespalten

Die Angst hat etwas Lähmendes. Sie hat aber auch eine Gratifikation bei sich. So kann ich es mir wohl sein lassen im Unterstand. Ich brauche nicht an die Front, ich richte mich ein in der Etappe.

«Es sind nicht einzelne Widerstände, die ich nach und nach abbauen könnte, sodass ich immer näher zur Handlungsfähigkeit gelangte. Meine Widerstände zielen auf das Handeln selbst. Durch eine Tat würde ich sichtbar, ich müsste den Schutz der Unerkennbarkeit verlassen.»

So werde ich zum Randständigen. Ich tanze ein Leben lang auf der Grenze. So bin ich kein verachteter Outsider, das würde ich nicht ertragen, ich bin aber auch nicht integriert, ich muss die Verantwortung nicht tragen.

Das sind nur Nebenfolgen. Das ist nicht der Grund, warum ich mich im Unterstand verstecke. Es sind die äusseren Konflikte, mit denen ich nicht umgehen kann, die ich ins Innere verlagert habe. «So habe ich mich selber blockiert, damit es nicht zu einem äusseren Konflikt kommen kann.»

 

 

Im Augenblick begegnen sich innen und aussen

Hier ist der Ort, jetzt gehe ich! «Ich gehe über ein dünnes, schwankendes Seil, links und rechts der Abgrund, aber Du bist da, du hältst mich.»

 

Wenn ich die Angst annehmen kann, wenn ich hinausgehe im Vertrauen auf Gottes Gegenwart, dann begegnen sich «hinein» und «hinaus», Vertrauen und Handeln. Hineingehen ist ein erster Schritt, auf den der zweite folgt: Im Vertrauen auf Gott und seine Gegenwart kann ich meine Situation annehmen, die Aufgabe übernehmen, auf Menschen zugehen, ich muss sie nicht mit Ängsten überfrachten.

Die Angst hat damals alles zugespitzt. Da gab es keine neutralen Begriffe mehr, kein ruhiges Dasein. Auch Gott, wenn ich von ihm sprach, wenn ich zu ihm betete, erschien in diesem hellen Licht. Und es zeigte auch mein Leben in neuem Licht.

 

 

«Vor Monaten ist in Gebeten etwas Neues entstanden. Wie wäre es, wenn wir ernst machen würden mit dem Gedanken, dass es Gott „gibt“? habe ich manchmal gefragt. Eines Tages rückte dieser Gedanke ins Zentrum des Gebets. Wenn ich ernst nehme, dass Gott lebt – dann wird alles anders – mit einem Schlag bin ich frei, trete der Welt in derselben Freiheit gegenüber, wie Gott ihr gegenübersteht.»

«Ich will hinaustreten in den Augenblick, in seine Pflicht, in seine Einladung, in Deine Gegenwart. Was kann mir geschehen, wenn ich in Dir stehe?»

 

 

«Mit ohne Gott»?

 

Ich versuche, auf Gott zu vertrauen. Das Vertrauen hält nicht lange stand. Vor allem, wenn ich hinter meinen Ansprüchen zurückbleibe und «abgestürzt» bin, stelle ich alles in Frage. Soll ich mein Leben überhaupt religiös verstehen?

 

«Innen und aussen» bezieht sich dann auf die ganze religiöse Welt. Ich bin «in» der religiösen Welt, in der ich mich auf Gott beziehe, oder ich bin nicht in dieser Welt, alles wird dann einfach und vernünftig. Es ist eine bürgerliche Welt, die Aufregung der Gläubigen ist hier nicht zu begreifen. «Ist was?» Es lässt sich alles vernünftig auseinanderlegen.

 

Aber «drin» habe ich Verantwortung mit allem, in dem ich mich bewege. Ich stehe (im Gebet) vor Gott. Ich muss mich für alles rechtfertigen, darf mich aber auch mit allem anvertrauen. Jeder Gedanke ist vor Gott. Er ist das «Du», vor dem erst mein «Ich» entsteht.

 

Draussen habe ich ebenfalls ein «Ich», ein bürgerliches Ich. Es bewegt sich wie ein Mechanismus mit einem Schwungrad: die Energie, mit der es aufgeladen wurde, dreht noch einige Zeit weiter, auch wenn es von der Quelle abgehängt wurde.

 

 

Aber wenn dieses Ich angezweifelt wird, wenn es ins Wanken kommt, dann entsteht es in der bürgerlichen Welt nicht von neuem. Ja, da wären «Beziehungen» zu Menschen, die man eingehen könnte. Wenn ich mich aber mit meiner Seele davon abhängig mache, überfordere ich die Menschen, ich schlage sie damit in die Flucht. Das will keiner tragen, kann er auch nicht. So bleibe ich bald allein, falle noch tiefer in die Krise.

 

Was in meinen Notizen als «Verlassenheits-Angst» erscheint (ich habe es nach der Scheidung durchbuchstabiert), ist nicht nur eine Angst vor Verlassensein, es ist diese tiefe, metaphysische Angst eines Seelenkerns, der kein «Du» findet, am dem es ganz und zu einem «Ich» werden kann. Und das «Aussen» kann nicht zu einer «Welt» werden, es ist das «Loch», das man in der Verzweiflung ahnt und das man später benennen lernt als Verletzung, als Trauma, als ein Erleben, dem das Wichtigste fehlt, so dass es gar nicht zu einer richtigen Geburt kommen kann.

 

Die ganze Schöpfungsgeschichte von Gott-Welt-Seele steht hier noch aus, man befindet sich in einer Zeit vor dem Urknall. Gott hat sein «Es werde!» noch nicht gesprochen. Der Logos ist noch nicht ausgegangen, das Schöpfungswort, das später als Erlösungswort wiederkehrt. Der Geist schwebt noch über den Wassern und alles ist ununterschieden vermischt in einem Chaos, in dem das alte Ich verschwebt, der Seelenkern sich gar nicht zu einer Seele formieren kann.

 

«Innen und aussen» haben sich hier noch nicht geschieden. Es gibt keine Grenzen und keine Identität, kein Irgendwas, das ein Inneres von einem Äusseren abgrenzen und unterscheiden könnte.

 

 

Worum es geht

«Innen und aussen» meinen nicht nur die psychische Innenwelt und den äusseren Erfahrungsraum, in dem ein Individuum sich bewegt. Es ist nicht nur die Sprache der Innerlichkeit gegenüber der Erfahrungswelt der Wissenschaft. Oder innerpsychisch gesehen: Es ist nicht nur der Gegensatz von Dingen, die ein Mensch sich zurechnet als «Eigenes», das er mit seinem Leben meint, und von Erwartungen, die von aussen an ihn herangetragen werden und die er übernimmt, denen er bei Ich-Schwäche ausgeliefert ist. Es ist auch nicht nur das Wechselspiel von «innerem Weg» und «äusserem Weg» (in der Sprache der Frömmigkeit) und die Frage, ob der richtige Weg im Äusseren auch dann gefunden werden kann, wenn man nur dem inneren Weg der Gewissheiten folgt.

 

Das Innerste

Die Erfahrung von Gelingen und Misslingen, von Zuversicht und Verzweiflung, von Handlungsfähigkeit und Ich-Zerfall, zeigt, dass es sich hier um etwas Elementares handelt. Darum stellt sich bei tiefen Erfahrungen, bei der Begegnung mit meiner geschiedenen Frau, beim Sterben von Oma, die Empfindung ein, in «Blaubarts Zimmer» zu stehen, in einem «Weltinnenraum» zu sein, einem Ort, wo jene fundamentalen Dinge entstehen, die ein Leben prägen, wo Verdammung ausgesprochen wird oder Erlösung.

 

Hier wird das «Ich» geprägt, hier wird es aufgehoben. Es ist der Ort, wo Ich, Welt und ein Gottesbegriff entstehen. «Innen und aussen», das sind somit andere Worte für Schöpfungsgeschichte, Urknall, Ich-Werdung als soziales Wesen, Weltwerdung als erste Prägung eines Ensembles von Erleben und Verhalten, von Wahrnehmen und Reagieren, von Angst und Angstabwehr, von Deutung der Welt im aussen und innen. Hier werden die Kategorien und Anschauungsformen geprägt, die das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen prägen.

 

 

Auf Leben und Tod

Damals hatte ich einen Traum, der sich mir einprägte und den ich später oft aufsuchte. Der Weg führte ins Innere. Schon das Überschreiten der Schwelle war wie das Wiederfinden von etwas lange Vergessenem. Hier einzutreten war wie Entkommen, wie Eintreten in Frieden, wie Hinter-Sich-Lassen von Lärm und Verfolgung.

 

Am Schluss ging es wieder hinaus in mein altes Leben. Da waren die Aufgaben, da die Menschen. Ich sah den Weg, als ob es auch hier einen Weg gäbe, der so klar in die Landschaft gegraben wäre wie dieser Weg ins Innere.

 

«Hinein und Hinaus» begegnete mir hier nicht nur in Bildern. Es war ein Ritual, das einen Weg nachstellte, den ein Gott geöffnet hatte. Ich verstand den Traum von der antiken Taufe her. In der Antike, nachdem die Verfolgung der Kirche aufgehört hatte, wurde die Taufe breit entfaltet. Man nahm Elemente der Kultmysterien auf. Der Mythos erzählt von Ursprung, Untergang und neuer Schöpfung, der Ritus lässt den Täufling daran teilhaben. So wird er «gleichzeitig» mit den Ereignissen der Weltwerdung. Die Ereignisse von Untergang und Heilung ereignen sich «jetzt» auch an ihm. Mit dieser Erinnerung ging der Täufling zurück ins tägliche Leben und die Erfahrungen halfen ihm auf dem Weg.

 

Der Weg ins Innere

In der Mitte des Traums war die Frage, die ich lösen musste. Dort war auch die Hilfe. Die Lösung kam nicht von mir. «Wir können, was wir sollen»: das war die Antwort auf die Frage, die mich beschäftigte. Auch ich kann mein Leben führen, wie es richtig ist, auch wenn ich immer nur auf Hindernisse stosse. Diese grosse Versöhnung von Sein und Sollen, das wurde hier geleistet. Ich durfte daran Anteil nehmen.

Aber die Reihenfolge war anders. Wenn ich bisher dachte, dass erst die Frage gelöst werden muss, bevor ich zum Frieden finde, so hiess es jetzt: ich darf zum Frieden finden, dann löst sich auch die Frage.

 

 

In der Mitte / aus der Mitte

«Ich» und «du» und «es» – in der Mitte, im Innersten, tauchen Urworte auf, mit denen die Wirklichkeit selbst konjugiert wird. Ich schlage den Weg zum Glauben ein. Andere werden den Finger darauf legen und die Reihenfolge umkehren: «In allem war erst der Mensch».

 

Ich finde auch im Innersten etwas, in das ich mich bergen kann. Es erinnert an die Schutzmantel-Madonna, wo der Hilfesuchende sich unterstellen kann, selbst an diesem Ort, wo die Welt noch nicht geworden oder schon vergangen ist.

 

«Viele «Ichs» sind da, die wie Puppen einer Babuschka ineinander- stecken.» Aber welches «Ich» steht am Anfang?

Ist es Gott, der Welt und Menschen schafft, und das Ich lernt sich begreifen im Gegenüber eines absoluten Du?

Oder ist es ein Bewusstseins-Akt, durch den sich ein Ich konstituiert, ein Du und Es, ein Subjekt und sein Gegenüber, der Inbegriff aller Welt, wie die Bewusstseins-Philosophie sagt?

Kann man also die Religion auf Philosophie und Psychologie zurückführen oder ist es umgekehrt? Ist Gott nur ein Konzept oder eine Wirklichkeit? Und so das «Ich» und die «Mitte» und die «Realität»?

 

Anstelle vieler Argumente zitiere ich eine Notiz von 2011:

«Es ist Nacht, ich wache auf. Vom Grundgefühl aus (wie es mir nachts zugänglich ist), gibt es zwei Wege: „Alles fährt auf das grosse schwarze Loch zu.“ Oder: „Ich muss sowieso sterben, darum will ich von dieser Gewissheit her vorwärts gehen: mich gehalten wissen und von diesem Gehaltensein her fröhlich und ruhig die Sache angehen.“ Wenn es so ist, dann ist es nicht die Lösung eines Suchproblems, sondern im Grunde immer nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Trauma, verzweifelte Welt – oder Glaube.»

 

 

Ich finde den Weg

Wieder ist es ein Traum, der mir einen Weg zeigt.

«Ich träumte, wie ich in einer fremden Stadt nach langem Herumirren eine Haltestelle fand. „Ich kann handeln und finde den Weg.“ Die tiefe, fast metaphysische Beruhigung aus diesen Worten. Es nimmt das Gefühl des Fremd– und Verlorenseins auf, die Anspannung des Weg-Suchens und die Angst, ihn nicht zu finden.»

 

 

Innen und aussen – worum geht es also?

 

Ich suche Texte zum Stichwort «aussen». Ich gehe sie durch. Es zeigen sich viele verschiedene Bedeutungen von «innen und aussen». Worum geht es?

Am Ende kommt eine Auskunft, die schon am Anfang gestanden hatte: im «Tauftraum». Es geht um die Frage, wie ich kann, was ich soll. Das hat mich immer geplagt.

 

Ein Traum

So steht das auch hinter diesen Texten, die dem «Innen und Aussen» nachgehen. Ich hätte es nicht erwartet, doch scheint dieses Ergebnis nicht aussergewöhnlich. Als Frage nach der «Willensfreiheit» ist es ein Klassiker in der Philosophie. Als Motiv von «Gesetz und Evangelium» ist es eine zentrale Lehre der reformatorischen Theologie.

 

Ein philosophisches Seminar

1984 war ich ein halbes Jahr in Frankfurt. Als Ich hörte, dass Jürgen Habermas nach Frankfurt zurückgekehrt sei und an der Uni ein Seminar zur Ethik abhalte, suchte ich ihn in der Sprechstunde auf und fragte, ob ich als Gast teilnehmen dürfe.

 

 

Ich hatte im ersten Studium einige Semester Philosophie studiert. Ich arbeitete damals als «Bundeshaus-Redaktor» und hatte mir eine Auszeit genommen.

 

Habermas sagte im Seminar, von den drei Aufgaben der Ethik (begründen, anwenden und verwirklichen) sei nur die erste philosophisch lösbar. Anwendung erfordere Urteilkraft und Verwirklichung Ich-Stärke. Als ich sagte, für mich in meinem persönlichen Leben sei nicht das Begründen von Normen schwierig, so dass ich sie annehmen könne, sondern das Verwirklichen – ich könne nicht, wie ich solle -, meinte Habermas, er könne keinen religiösen Trost geben.

 

Ich begriff damals nicht, warum er von Religion sprach. Wie viele andere las ich damals Aristoteles und Hegel, die in Abgrenzung zu Plato und Kant (und Habermas) nicht die «Moralität» ins Zentrum stellten, sondern die «Sittlichkeit».[7] Sie fragten also nicht, wie die abstrakte Vernunft das Handeln anleiten kann. Sie setzten bei der «eingebetteten Moral» an, die in Sitte und Gewohnheit mit den Quellen des Handelns verbunden ist.

 

 

Religion

Bald darauf stiess ich aber auf religiöse Fragen. Ich begriff, dass die Kluft zwischen Sein und Sollen gar nicht ethisch zu schliessen ist. Der Mensch ist nicht das «Subjekt der Tat», das den Abstand überbrückt und das Sollen dem Sein aufprägt, weder in seiner eigenen Natur noch in der äusseren Welt. Diese Aufgabe ist viel zu gross und treibt ihn nur zur Verzweiflung. Die Lösung gibt die Religion, indem sie Gott als Versöhner und Vermittler der Gegensätze begreift. [8]

 

Das beschreibt das Begriffspaar von «Gesetz und Evangelium», das zentrale Einsichten der reformatorischen Theologie zusammenfasst: [9] Der Mensch steht unter dem Sollen und er will auch, was er soll, denn so findet er zum «richtigen Leben». Er verzweifelt aber am «Gesetz», weil er es nicht erfüllen kann. So findet er zum «Evangelium». Im Glauben hat er Teil an der Versöhnung und Vermittlung der Leidensbestände in Gott.

 

 

So wird er zum Handeln befreit, weil er nicht mehr Sein und Sollen versöhnen muss – das kann er nicht, das treibt ihn in Resignation und Verzweiflung. Es werden ihm kleinere, lösbare Aufgaben gegeben. So findet er aus Lähmung und Resignation heraus, er kann seine Aufgaben ergreifen und auf Menschen zugehen.

Die Scham, sein Leben nicht durch eine ungeheure Tat rechtfertigen zu können, löst sich. Er wird zum Leben befreit.

 

Das ist die Auskunft des «Tauftraums»: «Ein innerer Friede und wir können, was wir sollen.» Die Antwort wird im Glauben gegeben. Er begründet nicht die Normen, er schenkt Frieden, weil er vertraut, in Gott die Versöhnung zu finden. So findet das Handeln aus Lähmung und Resignation heraus. Im Vertrauen auf Gott können wir, was wir sollen, weil die Kluft versöhnt wird, die Sein und Sollen trennt. [10]

Ich habe nach dem «richtigen Leben» gesucht. Zuerst in der Ethik, das faszinierte mich im ersten Studium, dass man das zu einer Hauptfrage macht, dass man es nicht beim Auf-den-Bus-Warten abmachen muss oder beim Zähneputzen, wenn immer das Leben Zeit lässt. Es war offenbar nicht mit einem Makel verbunden, wenn man das Leben nicht lösen konnte, das war allgemeines Schicksal und die Menschen haben sich seit den Anfängen der Kultur damit beschäftigt.

Von der Ethik bin ich zur Religion gelangt. Das Buch könnte im Untertitel heissen «Die Suche nach dem richtigen Leben». Da doch die Religion die Antwort gibt, ende ich mit einer Glaubensgeschichte. Sie handelt von Kain und Abel, dem «ersten Kriminalfall der Geschichte». Da wird die Frage nach Gelingen oder Scheitern schon auf den ersten Seiten der Bibel gestellt. [11]

 

 

Die Reihenfolge

 

  1. Mai 2012

Ich denke nach über „Freiheit“ und Verstrickung, über Schuld und Unzufriedenheit mit dem Leben. Gut, dass ich das nach einem „Absturz“ tue. So bin ich geschützt gegen Überheblichkeit. Ich betrachte die biblische Erzählung von Kain und Abel.

 

Vertrieben aus dem Paradies

Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem Herrn von den Früchten des Ackers ein Opfer dar. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der Herr sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Blick senkte sich.

Der Herr aber sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür, und nach dir steht ihre Begier, du aber sollst Herr werden über sie.

Darauf redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

(Der ganze Text in Gen 4, 1-16)

 

Die Bibel erzählt es in dieser Reihenfolge: Gott sieht nicht auf Kain und sein Opfer. Kain wird zornig und senkt den Blick. Er wird belehrt: Wenn du «gut handelst» [12], kannst du aufblicken, wenn nicht, steht die Sünde vor der Tür. Nach ihr steht die Begier, du sollst Herr werden über sie. Kain bringt Abel um. Er wird rastlos und heimatlos, jeder kann ihn erschlagen. Nur das Kainszeichen schützt ihn, welches siebenfache Rache androht.

 

 

Wenn aber Kain von seinem Schicksal erzählte, kam wohl erst das Leiden an der Ruhelosigkeit. Er findet keinen Boden unter den Füssen, er lebt ihn dauernder Furcht. Nach den Gründen gefragt, wird er wohl sagen:

„Schon der Vater hat meinen Bruder vorgezogen. Ich habe in mir selber keinen Wert und keine Ruhe, darum muss ich herumziehen, immer auf der Suche, nie am Ziel. Darum immer in Angst. Darum ist auch der Zorn in mir. Ich darf nie sagen, was ich brauche, ich darf mich nicht wehren. So halte ich es immer zurück, bis es sich staut, bis ich es nicht mehr zurückhalten kann. Dann bricht es durch, mit zerstörerischer Gewalt. Ich bin selber entsetzt, ich kann es nicht verhindern. Aber es entlastet mich auch, weil so endlich Gerechtigkeit geschieht. – Es geschieht ihnen recht.“

Ist das denn Gerechtigkeit, kann man ihm entgegenhalten, wenn einer totgeschlagen wird, und sei es im Affekt? Dein Zorn hat das ganze angefacht, bis das ganze Haus brannte und die ganze Familie ihr Dasein verlor. [13]

„Ich bin unschuldig“, wird er sagen, „mein Vater ist schuld, die Eltern sind es. Schon in frühster Kindheit musste ich die Ungerechtigkeit ertragen. Ich habe mich nur gewehrt.“

Hier fügt die biblische Geschichte etwas Neues ein: „Aufblicken“ [14]: „Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken.“ Wenn du dich freust / fröhlich bist und gut handelst (yatab), kannst du aufblicken / dann stellt sich Ansehen ein, Erfolg, dann wirst du erhoben werden (seeth).

Dann wird dich Gott erheben, wie Christus den Gedemütigten aufrichtet. Dann wirst du aus dem Aschenhaufen aufgerichtet wie der trauernde Hiob, der alles verlor. Dann wirst du erhoben und hast Teil an der Auffahrt Christi, der zur Rechten sitzt, wie die Fürsten des Volkes (Ps 113).

 

 

Die Ungerechtigkeit des Herkommens

Die Geschichte mutet dem Kain in mir zu, dass er die Ungerechtigkeit des Herkommens erträgt. Dass, bevor noch der Zorn aufsteigt über die Ungleichbehandlung, ein heiteres Zutrauen zu Gott Platz greifen soll: Er wird mich ebenso behandeln.

Ich schaue auf zu ihm. Ich senke den Blick nicht unter seinen Augen, die Er voll Gnade auf mich richtet. Ich traue ihm zu, dass er gerecht handelt. Ich traue ihm zu, dass er in Liebe auf mich blickt. Ich traue ihm zu – Ihm, der Sterne schafft und selbst kleinste Sträucher mit Myriaden von Blüten übersät – dass er reich genug ist, um auch mich, auch dich und jeden Menschen zu beschenken. Alles hat er geschaffen, auf allem ruht sein Blick. Alles blüht auf unter seinem Blick.

Wenn ich nur das Kunststück fertigbringe, ihm zu vertrauen, wenn nur mein Vertrauen grösser ist als meine Angst, wenn nur die Unschuld in mir stärker ist als die Erinnerung an vielfaches Versagen, wenn nur das Zutrauen grösser ist als die Erwartung, Strafe verdient zu haben, Ablehnung verdient zu haben, Vertreibung verdient zu haben, so dass ich ruhelos bleiben muss und unter den Menschen keinen Platz finde.

Vom Weg abgewichen

Jetzt aber ist das Falsche schon eingetreten. Ich bin vom Weg abgewichen. Und ich finde Ersatz für das Verlorene, es verleiht grosse Gefühle. Die Befriedigung des rechten Weges hat sich angeheftet an Ersatz-Wege. So entsteht eine Begierde, die immer wieder auf falsche Wege lockt:

Es lauert die Sünde an der Tür, nach ihr steht die Begier, du sollst Herr über sie werden.

Sehr viel schwerer ist das, als aus einer ersten Unschuld heraus zu Gott zu kommen. Sehr viel schwerer ist das, als aus unverletztem Erleben Zutrauen zu haben. Sehr viel schwerer ist das, als den Blick frei zu heben, wenn noch kein äusserer Feind da war. Sehr viel schwerer ist das, wenn im eigenen Innern ein Feind sich erhoben hat.

 

 

Du sollst Herr werden über sie.

Offenbar ist es das, was ich lernen soll. Offenbar ist es das, was mir aufgetragen ist, nicht auf dem äusseren Weg, aber auf dem inneren. Offenbar stehen sie bereit und schauen auf mich und begleiten mich (die Helfer, die Gott mir sendet, im Innen und im Aussen).

Aber sie führen mich immer wieder in solche Situationen, dass ich üben kann. Sie führen mich immer wieder in solche Situationen und sehen, wie ich versage. Sie führen mich immer wieder hinein und stehen mir bei, damit auch ich es lerne. Wie die Eltern mit den Kindern, wie die Lehrer mit den Kleinen. „Jetzt ist auch der Kleinste darüber hinweg, jetzt können wir weiter gehen.“

 

Die Scham wird aufgehoben

Gott mutet es mir zu und weiss, dass ich es lernen kann: Ich darf den Blick frei zu ihm heben und so allen Menschen begegnen, ohne Furcht.

Weil ich in mir vertraue, dass Gott mich ansieht. Weil ich dem Blick begegnen kann. Weil mein Zutrauen zu seiner Gnade stärker ist als das Bewusstsein meiner Verfehlung.

Mein Gewissen erwartet Strafe, ersehnt Strafe, kennt nur die Strafe als Ausgleich, um wieder zurück zu kommen, ins Paradies, diesseits von Eden. Ich darf – gegen das helle Blenden des Gewissens, gegen die Last, die meinen Blick niedersenkt, gegen die ungeheure Gewalt, die alles in mir zurückhält – ich darf seinen Blick suchen.

Alles blüht auf unter seinem Blick. Wenn ich nur den Blick nicht senke. Wenn ich nur seiner Liebe mehr traue als seinem Zorn. Wenn … Alles blüht auf unter Deinem Blick!

 

Das steht in meinen Texten zu Innen und Aussen. Es ist eine Suche nach dem richtigen Leben. Es handelt vom Abenteuer des Glaubens.

 

 

 

 

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Afrika oder der Weg nach innen. 4

Ich kann nicht stillhalten. 6

Sieht aus wie Autonomie. 6

Dumm und leer werden. 9

Aus der Deckung kommen. 13

Im Innern gespalten. 15

Innen und aussen begegnen sich. 17

Der Traum.. 19

Auf Leben und Tod. 19

Der Weg ins Innere. 20

Gegenwärtig sein. 21

In die Mitte fliehen. 24

Aus der Mitte fallen. 25

Ich finde den Weg. 27

In Blaubarts Zimmer 28

Teufel und Dämonen. 28

Sie trug die Mitte in sich selbst 29

Aus der Mitte leben. 30

Vom Unterscheiden der Sprachen. 31

Das eine ruft dem andern. 32

In Blaubarts Zimmer 33

«Suchweg der Seele». 34

Der Einschlags-Krater 35

Vom Glauben erzählen. 37

Arbeit am Innersten. 39

Ist das Leben mit 55 vorbei?. 43

Einen Altar errichten. 44

Im Labyrinth. 45

Bevor ich gehen kann. 45

Der richtige Beruf 46

„Tritt her in die Mitte“ 46

Der richtige Ton. 49

Der Tisch am Ende des Weges. 50

Dieses Ineinander von Tun und Getragen-Sein. 50

Der Innere Altar 52

Petrus geht über Wasser 52

Das Ja von aussen. 54

Ein Garten ist nicht genug. 55

Das schwarze Schaf der Familie. 58

Innen und Aussen. 63

Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr 63

Die Möglichkeit des Scheiterns. 64

Ein Kompass findet sich. 65

Das Leben selbst 65

Vom Auftauchen goldener Gefässe. 68

Endlich darf die Wahrheit stattfinden. 71

Das innere Ziel 72

Der Berg vor mir 73

Es wird, was ich glaube. 73

Die Halbheit im Leben. 75

Die Räuber vom Liang Schan Moor 76

Vom Umrunden des Berges. 78

Was wissen innere Bilder von äusseren Ereignissen?. 78

Der Weg. 80

Der Berg. 82

Das Haus. 83

Das Verborgene. 85

Wahrhaftig. 86

Auch das nicht gelebte Leben geht vorbei 87

Verschlossen. 88

Kündigung. 88

Ende und Neubeginn. 89

Die Deckung verlassen. 90

„Einnisten“ in die Welt 90

Neue Infragestellung. 92

Mein Teil 93

East of Eden. 96

Handlungsfähig werden. 97

Wie innen und aussen sich verbinden. 98

Der Künstler 100

Das Schöne. 101

Entscheidung. 102

Weltinnenraum.. 103

Untergangs-Gerede. 103

Der kosmische Innenraum.. 103

Die Pforte. 106

Im Weltinnenraum.. 108

Die Antwort 109

Kein Ort. Überall 111

Das Schrecklichste und das Schönste. 112

Die Himmelsleiter 114

Trauma und Weltinnenraum.. 117

Das Äusserste und das Innerste. 119

Das Leben besichtigen. 121

Nachwort 123

Innen und aussen – worum geht es also?. 132

 

 

Titelbild Kirche Sonogno

Anmerkungen

[1] (all das Leid der Welt hat da seinen Platz, aber alles Leid der Welt kann nicht aus dem Weg schaffen, dass es ein Ziel gibt, einen guten Willen, der über allem steht und der das Neue schafft)

[2] Und doch bin ich überzeugt, dass auch Ihr es in Euch tragt.

[3] Aus einer Beerdigung

[4] Aus einem Gottesdienst

[5] Die Geschichte der Räuber vom Liang Shan Po spielt im 12. Jh. und wurde mündlich überliefert, bevor sie im 14. Jh. schriftlich festgehalten wurde. Es ist eine Erzählung vom «Rand: Aber eigentlich ist etwas «im Zentrum» nicht in Ordnung, es wird an den Rand gedrängt. Es sucht Schutz in der Wüste, in den unzugänglichen Gegenden eines Moors oder eines Gebirges.

 

Es ist ein Kommentar zum Zustand in der Mitte, zum Staat, zum Königreich. Die Integration dieser Menschen gelingt erst, wenn das Reich sich wieder integriert, wenn es wieder zum Recht findet. Dann können auch die Menschen als Individuen sich wieder integrieren: Sie können die soziale Isolation überwinden, den Status als „Outcast“, aber auch die Zerspaltenheit in sich selbst.

[6] Aus dem Vorwort zum Buch «36 Ansichten vom Berg Fuji.» Es versammelt Notizen aus dem Jahr 2009.

[7] Das war der allgemeine Trend jener Zeit. Diese Debatte der 80er Jahre ist zusammengefasst in dem Buch „Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik“. Hg von Wolfgang Kuhlmann, Ffm 1986. Anlass des Buches war eine Tagung zu diesem Thema, zu der Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas eingeladen hatten (im März 1985).

[8] Das «Reich Gottes» ist der Inbegriff einer Ordnung, in der Sein und Sollen übereinstimmen. Dieses Reich liegt protologisch und eschatologisch der natürlichen Ordnung als «Paradies» voraus. Es begleitet den Gläubigen als Hoffnung und Verheissung. Die Sakramente lassen ihn «jetzt schon» kosten vom Zustand der Versöhnung, so dass seine Motivation gestärkt wird. Das Sollen ist nicht nur eine abstrakte Forderung wie in der Ethik, es ist im Heilsgeschehen eingelöst, die Versöhnung ist «jetzt schon» erfahrbar und entfaltet Kraft auf dem Weg zur Einlösung. Die Frage der Verwirklichung wird gestellt und gelöst: sei es durch die symbolische Vermittlung im Glauben, sei es in der realen Vermittlung durch Sakrament und Tat.

 

[9] Diese nimmt Einsichten auf, die ein jahrhundertelanges Nachdenken über den Menschen im Alten und Neuen Testament zutage gebracht haben. Der Bereich planer Ethik wird verlassen, der Mensch kann nicht wie er soll. Aber damit kann er sich nie begnügen. Das richtige Leben muss möglich sein! Im späteren Alten Testament geben die Propheten eine Antwort. Da beklagt sich Gott über die Menschen. Sie seien wie ein verzogener Pfeilbogen, man könne noch so genau damit zielen, man treffe nichts ins Schwarze.

Die Propheten blicken auf den Anfang und das Ende. Die empirische Ebene wird aufgestockt um eine Wirklichkeitsebene, die nur theologisch zu beschreiben ist. Will man davon erzählen, muss man zur Figur eines Mythos greifen: am Anfang war…, am Ende wird sein… Da werden die Menschen das Gesetz nicht nur auf der Stirn tragen, wie es fromme Juden tun, wenn sie beten. Da wird Gott den Menschen das Gesetz ins Herz schreiben und es wird keinen Gegensatz mehr geben zwischen Sein und Sollen. Der Mensch tut, was er soll, nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung. Und Friede wird einziehen zwischen den Menschen.

Was die Religion als eschatologische Heilserzählung darbietet, rekonstruiert die Philosophie in metaphysischen Aussagen. Diese verleugnen die empirische Wirklichkeit nicht, sie leiten die Menschen an, sich in dieser Wirklichkeit zu bewegen, im Vertrauen: Ich kann, was ich soll, wenn ich auf Gott vertraue.

[10] Die Versöhnung in einem endzeitlichen Paradies ist Bedingung der Möglichkeit für eine Ethik. Schon jetzt brauchen wir das Vertrauen, dass Leidensbestände vermittelt werden. So erstirbt die Motivation nicht, Menschen können mit Freude und Hoffnung ihre Aufgaben angehen. Paulus formuliert: «Gott selbst ist ja in euch am Werk und macht euch nicht nur bereit, sondern auch fähig, das zu tun, was ihm gefällt.» (Phil 2,13)

 

[11] Ich schliesse damit an die Notiz an vom 5. Februar 2011 an, East of Eden.

[12] Hebräisch «yatab» – das Wort heisst auch: sich freuen, fröhlich sein

[13] Es ist eine umgekehrte Reihenfolge! Dein Zorn hat es angefacht. Wer vergilt hier wem? Wo ist die erste Schuld? Wer darf sich «gerecht» fühlen, weil er „nur zurückschlägt“ und es „den andern zeigt“? Und soll das ganze Leben in dieser Haltung gelebt werden: «Ich gebe ihnen nur zurück, was sie mir angetan haben»?

 

[14] Hebräisch «seeth» – Erhebung, Würde, Hervorragen