Ich lege mich mittags hin, im Halbschlaf meditiere ich die Bibelstelle: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben mit all deiner Kraft…“ Ich verstehe den Satz noch kaum, ich kann ihn nicht mal auswendig behalten. Die Instanzen, die da aufgezählt werden und die aktiv werden sollen, sind vom modernen Denken ja alle aufgelöst. (Was ist Geist und Herz und Kraft etc.?)

 

Trotz dieses Nichtverstehens ist es eine ganz wunderbare Meditation. Kaum wende ich meine Gedanken dahin, bin ich erfüllt von Wärme und – einem Gefühl von erfüllt sein.

Die Erlaubnis
Vielleicht geschieht das nicht, weil ich etwas tue und eine Forderung erfülle, ich habe es ja noch gar nicht begriffen, sondern weil ich einen Vorbehalt aufgeben darf?

Vielleicht ist es mehr eine Erlaubnis als ein Gebot, die Erlaubnis zur Hingabe?

Mit der Hingabe ist irgendwie alles geklärt, ich brauche keinen Vorbehalt, keine Zurückhaltung, ich muss keine Kraft reservieren für irgendetwas anderes. Er führt mich so, wie es richtig und nötig ist, und ich lasse mich führen – zum Handeln oder zum Nichthandeln, wie immer das Leben es verlangt.

Ich darf mich ganz hingeben. Das schliesst nichts aus. Damit ist alles möglich, ich werde auf Äusseres reagieren und handeln, wenn nötig. Die Hingabe ist keine Flucht vor irgendwas.

Und ich werde etwas hingeben, wenn das erfordert wird. Ich muss keinen Vorbehalt machen zugunsten eines Kindes oder meiner Frau oder irgendeines Menschen, den ich liebe. Ich lasse sie damit nicht fallen, überlasse sie keinem dunklen Schicksal. Ihr Wohl ist aufgehoben in diesem Hingeben.

Und die egoistischen Anteile in der Liebe: wenn man sagt „ich brauche dich“, das ist wahrgenommen. Dafür muss ich nicht noch eine Separat-Kraft auf die Seite zu legen, damit ich sie festhalten kann.

In meiner Krise (Erschöpfung bis zum Ich-kann-nicht-mehr, Erkältung) gab es bereits jene grosse Gebärde: dass ich die Hände aufmache und nichts mehr zurückhalte. Es war wie Gestorben-Sein, und ein Gefühl von Reinheit und grosser Klarheit erfüllte mich – wie, wenn das Alte vorbei wäre und ich in etwas Neues hineinginge, und alles ist bereinigt, ich gehe rein und klar auf das zu, was kommt.

Du sollst deinen Herrn lieben mit…“
Zu denken, dass es Jesus Christus ist, dass ich ihn lieben darf, dass es nicht irgendeiner ist, sondern er, das erfüllt mich mit grosser Wärme und Freude, im ganzen Körper. Ich kann es nicht beschreiben.

Das ist jetzt eine Meditation, bei der der Verstand kaum einen Anteil hat. Er registriert vielleicht nur so viel wie „Erlaubnis“ und darf dann still werden, so dass ich mich jener anderen Führung überlassen darf, so wie der Kapitän dem Lotsen das Steuer übergibt, wenn er in einen Hafen einfährt…

 

Aus Notizen 9.12.2010

(«Das Internet ist voller Angebote, die «Hingabe» lehren. Gleichzeitig scheint es der Inbegriff von all dem, was dieser Kultur widerspricht, die auf Kontrolle beruht, die Sicherheit will und alles ablehnt, was nicht verstanden und mit Vernunft rekonstruiert werden kann. Auf meinem religiösen Weg bin ich spät dazu gelangt. Wichtig wurde mir eine Betrachtung zu Mk 12,30. Jesus bezeichnet es als das «grösste Gebot». Aber ist es überhaupt ein Gebot? Oder eine Erlaubnis?

Die Bibelstelle findet sich bei Mk 12,29ff: „Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist grösser als diese beiden.“)

Bild: Jesus-Johannes-Gruppe, mittelalterliches Andachtsbild, 14. Jh.; Liebighaus Ffm.