Auf den Lehrstuhl, ins Gefängnis

Mitte 19. Jahrhundert kamen zwei Deutsche nach Zürich, der eine ein liberaler Theologe, der andere ein Kommunist. Der erste bekam einen Lehrstuhl, der andere landete im Gefängnis. Der erste brachte die Bevölkerung gegen sich auf, der zweite die Obrigkeit.

Der erste wurde pensioniert, bevor er auch nur eine Lektion gehalten hatte, der andere schrieb ein Buch über seine 500 Tage im Gefängnis. Der erste lebte als Privatgelehrter und brachte Nietzsche gegen sich auf, der zweite zog in die USA und besuchte utopische Siedlungen von christlichen Kolonisten.

Spuren in Zürich
Sie hiessen David Friedrich Strauss und Wilhelm Weitling. An Weitling, den Schneider und Frühsozialsten, erinnert ein Weg in einer Wohnsiedlung der Arbeiterbewegung. An Strauss erinnert das Wort «Putsch», das durch ihn in die deutsche Sprache eingegangen ist, als die Untertanen 1839 in einem bewaffneten Zug in die Stadt marschierten, um die Übergriffe abzuwehren. In den darauffolgenden Wahlen wurden die Liberalen gestürzt.

Es war eine Zeit, als das Christentum noch eine öffentliche Rolle spielte, als die Religion noch beigezogen wurde im Kampf der Meinungen um die Ausgestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Neben dem Liberalismus machte sich der Sozialismus als neue Bewegung bemerkbar. Das aufstrebende Bürgertum bestimmte damals in Zürich die Politik. Um die Konservativen weiter zurückzubinden, beriefen sie den Theologen David Friedrich Strauss auf den theologischen Lehrstuhl der Universität.

«Heraus jetzt, Züricher!»
Wilhelm Weitling kam als wandernder Schneidergeselle nach Zürich. Er hatte in Frankreich die Frühsozialisten kennengelernt und verband das im Stil der Zeit mit dem Christentum. Er schrieb ein «Evangelium des armen Sünders», worin er Christus als Kommunisten bezeichnete. Die Obrigkeit steckte ihn ins Gefängnis. Dort erinnerte sich Weitling, wie es Strauss ergangen war. Er sah sich als Vorkämpfer, der stellvertretend litt, und dachte wohl, dass das Volk sich für ihn erheben werde, wie einige Jahre vorher im Straussenhandel. „Schreien werde ich, dass ganz Zürich erwacht! Heraus jetzt, Züricher! Die Schlafmützen heruntergezogen! Zu Hilfe! Heraus alle! In Teufels Namen heraus zum Reich Gottes!“ (Zitiert nach Ernst Nobs)

Aber die Obrigkeit schob ihn ab, worauf er in die USA reiste, wo er christliche Kolonien besuchte. Religion und Christentum hatten damals noch öffentliche Bedeutung. Doch der Einfluss war am Schwinden. Der schwärmerische Frühsozialismus wurde von einem «wissenschaftlichen» Sozialismus abgelöst, auf Handwerksgesellen wie Weitling folgten Philosophen wie Marx, die sich an Hegel orientierten.

Der Kampf der Weltanschauungen
Eine Ironie ist es vielleicht, dass auch Strauss sich an Hegel orientiert hatte in seiner Umdeutung des Christentums. Philosophie und Wissenschaft waren das Signum der Zeit. Das Christentum wurde in den Hintergrund gedrängt. Wenn es sich selber mit Argumenten vor dem Wahrheitsbewusstsein der Zeit ausweisen wollte, musste es sich der Sprache der Wissenschaft bedienen. Das erklärt die ungeheure Fülle von theologischen Entwürfen im 19. Jh., die die ungeheure Fülle von philosophischen Entwürfen dieser Zeit ins Theologische übersetzten. So gab es zwar viele akademische Schulen, aber diese christlichen Konzepte hatten gar keine Zeit mehr, sich im Leben der Kirche niederzuschlagen, sich zu inkarnieren und Lebenskraft aufzunehmen.

Es war eine Übergangszeit, wo christliche Motive noch zitiert wurden, aber auch wieder fallen gelassen. V.a. die Rücksicht auf die Untertanen verlangte einen Respekt vor der Religion. Die Anklage gegen Weitling enthielt demgemäss religiöse Vorwürfe, aber auch den Vorwurf von Aufruhr und Revolution. Auch Weitling steht in diesem Übergang, einerseits beruft er sich auf die Bibel und schreibt ein «Evangelium des armen Sünders», andererseits schliesst er sich der Arbeiterbewegung an und ihren Argumentationsweisen. Einmal ist es der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon. Wie er versucht Weitling, ein System zu bilden und beruft sich auf ein Wahrheitskriterium. Später trifft er Marx in London. Dieser wird jetzt das Terrain besetzen.

Strauss konnte nach dem «Züriputsch» keine akademische Karriere machen. Er schrieb Bücher, wovon eine neue, „für das Volk bearbeitete“ Ausgabe des Lebens Jesu in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Auch er wurde von der Zeit eingeholt. In der ersten «unzeitgemässen Betrachtung» verreisst Friedrich Nietzsche den Autor nach Strich und Faden.

Es waren keine Glaubenskämpfe, Glauben und Christentum wurden einbezogen, weil sie gesellschaftlichen und politischen Einfluss versprachen.

 

Foto: Strassenschild in Zürich, Wikipedia

Beachten Sie zu diesem Thema die Beiträge: Liberales Kirchenregiment und Wie die Mär zum Märchen wurde.

Literatur:
«Wilhelm Weitling, Gerechtigkeit, ein Studium in 500 Tagen. Bilder der Wirklichkeit und Betrachtungen des Gefangenen.» (Zürcher Sozialarchiv LU 21.61.)

Ernst Nobs, Wilhelm Weitling in Zürich: Zeitschrift: Rote Revue: sozialistische Monatsschrift, Band (Jahr): 10 (1930-1931) Heft 5. Eine Besprechung zum Buch von Ernst Barnikol, Weitling, der Gefangene, und seine «Gerechtigkeit».