Sprachlos

Die Pfarrer würden nicht von ihrem Glauben reden, so lautet ein Vorwurf. Es war wohl in der Zeit meines Theologie-Studiums, da fiel mir auf, dass ich im Zugsabteil mit fremden Leuten ohne weiteres in ein Gespräch über Sexualität kommen konnte, aber nicht über Glauben – die Scham hatte sich verlagert. Für das Gespräch über Sexualität gab es eine öffentliche Sprache, für das Gespräch über Religion nicht.

Scham
Das hat zu tun, mit unerledigten Vorwürfen an die Religion und mit der Emanzipations-Geschichte der Moderne. Seit dem Auftreten eines militanten antiwestlichen Islam hat sich das verschärft und generalisiert. Nicht nur das Christentum mit seiner Verflechtung in Kolonialismus und Imperialismus steht unter Verdacht, sondern „alle Religionen“. Und seit der Aufdeckung von sexuellen Übergriffen auch in Kirchen und Klöstern hat sich der Degout vor dem Religiösen weiter verschärft. Es ist nicht möglich, sich von den dunklen Seiten des eigenen Erbes loszusagen, indem man sich einfach von der Religion distanziert. Andererseits stehen Menschen, die sich bewusst in diese religiöse Tradition stellen, unter besonderem Rechtfertigungs-Druck.

Ist Religion noch möglich?
Das kann nicht nur durch historischen Vergebungsbitten geschehen, es braucht eine Analyse der Verflechtungen und den Aufweis, inwiefern der religiöse Weg auch heute ein möglicher Weg für die Gemeinschaft sein kann. Dafür scheint das reformierte Christentum heute kaum vorbereitet, da hier v.a. subjektive Fragen thematisiert werden und die Frage nach der Allgemeinheit des Glaubens kaum mehr gestellt wird. Das hat zu tun mit einer Resignation gegenüber dem Skeptizismus, der in den letzten 200 Jahren in immer neuen Formen vorgetragen wurde.

Rückzug
So steht der reformierte Christ heute wirklich nackt vor seinem Kritiker. Er hat wenig Argumente gegen die historischen Vorwürfe. Er hat keine Sprache, in der er sich gegen die Totalablehnung noch wehren könnte. Er hat – wenn es um Religion geht und nicht um Ethik – sich selber zurückgezogen in eine Sprache der Innerlichkeit und der Nicht-Behauptung, wo religiöse Sätze nur etwas sagen über persönliche Haltungen und sich nicht mehr hinauswagen in den öffentlichen Kampf um Meinungen.

Nackt vor einem ablehnenden Gegenüber zu stehen – das ist der Inbegriff von Scham. Das erklärt die Schamhaftigkeit im religiösen Gespräch und den Rückzug in die Unsichtbarkeit. Scham verletzt. Man möchte am liebsten in den Boden sinken. Das ist eine defensive Begegnung mit der Wirklichkeit. Es ist eine Verweigerung der Begegnung, ein Rückzug in das Innere.

Neuer Anfang
Das ist solange keine unreife Regression, als es zu neuer Motivation führt, zu einem neuen Hinaustreten. Es ist solange produktiv, als im Innern sich etwas Neues formiert. Im Innern muss es zu einer neuen Begegnung kommen, einer Begegnung mit dem „Du“ des Glaubens, der hier verteidigt wird. Erst in dieser Begegnung mit einem „Du“ konstituiert sich ein Subjekt, das „ich“ sagen kann. Erst ein solch neu gefestigtes Selbst-Bewusstsein kann wieder hinaustreten und sich auf das Gespräch einlassen.

Eine neue Sprache
Erst so, in den Sprechakten dieses Ich-und-Du, entwickelt sich eine neue religiöse Sprache. Mit ihrer Hilfe können wir beginnen, uns mit anderen Menschen zu verständigen: über die äussere und innere Welt und was diese konstituiert und zusammenhält; über Ziele und Normen, wie diese erreicht werden können; und über die Quellen des Schönen und Wahren, wo wir uns feiernd einfinden und neue Kraft schöpfen können.

 

Foto Andrea Piacquadio von Pexels
Aus Notizen 2016