Wie die Religion seltsam wurde

Nicht nur der einzelne wird für seine Kollegen «seltsam», wenn er sich als Glaubender outet. Die ganze Kirche ist für ihre Umwelt seltsam geworden, als die Philosophie die Religion als Denkmöglichkeit verabschiedete.

Die Kirche steht in Spannung zur umgebenden Kultur. Das rührt daher, dass sie letztlich ein vormodernes Gebilde in einer modernen Welt darstellt. Sie hält an absoluten Begriffen wie Gott, Heil, Reich Gottes fest in einem kulturellen Umfeld, das diese aufgehoben oder in einem bloss relativen Sinn im Rahmen der empirischen Wissenschaften rekonstruiert hat.

Das Wort Heil z.B. gilt als unsinnig, oder aber es meint ein Ziel für Heilung, wie es in der Medizin und in der Psychotherapie angestrebt wird. Ein solches Ziel wird aber besser durch einen Begriff wiedergegeben, der mit empirischen Methoden gemessen werden kann. Das Wort Erlösung fällt dahin, allenfalls liesse es sich rekonstruieren als Befreiung aus Zwängen des gesellschaftlichen oder psychischen Lebens.

Der Begriff Reich Gottes bedeutet (in dieser Reduktion) nichts, wenn damit nicht ein Staat gemeint ist, in dem das Recht selber herrscht und die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die institutionellen Sicherungen eines Rechtsstaates abgelöst worden ist. Dieser ist freilich nicht repräsentiert in einem über-sinnlichen Herrscher, sondern garantiert in einem Katalog von Grundrechten, die in bestimmten Verfahren juristisch einklagbar sind. Ist der Instanzenzug einmal erschöpft, so gilt das letzte Urteil als Recht. Alles andere würde die Rechtssicherheit gefährden.

Jeder Pfarrer aber hat in der Seelsorge mit Menschen zu tun, die eine Intuition von Schicksals-Gerechtigkeit in sich tragen, die Heil in einem absoluten Sinn suchen. Sie wünschen sich, dass die Welt und der Kosmos Bestand haben in einer Kraft, die nicht vom Menschen abhängt, und dass der Weg der Menschheit nicht im Dunkeln endet, sondern dass es so etwas wie Frieden und Gerechtigkeit gebe. Die Kirche kann diese Intuitionen aufnehmen, weil sie über Begriffe von absolutem Gehalt verfügt. Aber sie kann ihren Wahrheits-Anspruch nicht in den Begriffen ihrer Umgebungs-Kultur einlösen.

Die Kirche verkündigt einen Gott, der in die Welt kommt, aber nicht in der Welt aufgeht, sondern diese seinerseits wieder in einem „neuen Himmel“ und einer „neuen Erde“ aufhebt. Im Rahmen ihrer mythischen Redeform zeigt sich das darin, dass sie an einer Protologie und einer Eschatologie festhalten muss, wenn sie ihre ganze Verkündigung zu Wort bringen will. Es gibt eine Geschichte vor der Welt-Geschichte und eine Geschichte danach.

Was ist der Skandal?
Vom Wahrheitsbewusstsein der Adressaten-Kultur her zeigt sich das Dilemma darin, dass sie mit ihrer „mythologischen“ Redeform Zumutungen an das Für-Wahr-Halten macht. Die wahre Zumutung des Glaubens nach kirchlicher Sicht liegt dagegen nicht im intellektuellen Gehalt des biblischen Wortes «pistis», Glauben, sondern in der darin ausgedrückten Haltung, die mit „Vertrauen“ übersetzt wird. Die Zumutung, die der Glaube macht, ist nicht, etwas für wahr halten zu müssen, was den Verstand beleidigt, sondern sein Leben aus einer Grundlage zu gestalten, die nicht verfügbar ist und die alle psychischen Bedürfnisse nach Sicherheit herausfordert. Das ist der wahre Skandal für die Menschen, die von der Sicherheit nicht loslassen können. Das Gegenteil der Angst ist aber nicht die Sicherheit, sagt Luther, das ist das Vertrauen.

Dilemma
Die Kirche ist in einem Grund-Dilemma. Sie muss ihre Verkündigung immer wieder ihrer Adressaten-Kultur verständlich machen. Da diese aber die absoluten Gehalte in der Metaphysik-Kritik der Moderne entweder zurückweist oder in bloss-empirischen Begriffen zu rekonstruieren versucht, kann die Kirche ihre Verkündigung nicht nach den Wahrheitsbegriffen der Moderne ausrichten.

Das ist das erkenntnistheoretische Spannungsfeld. Es kann nicht aufgehoben werden: Jeder Versuch, es aufzulösen, endet entweder darin, dass die Kirche die absoluten Inhalte der Tradition (Gott, Erlösung, Gott in Christus) oder den Verkündigungs-Auftrag verrät.

Wenn sie sich nach der Messlatte des empirisch Verstehbaren ausrichtet, so wird sie bei der Beerdigung sprachlos. Der „liebe Gott“ hat es nicht verhindert und über das Leben, wie es jetzt abgeschlossen ist, ist nicht mehr zu sagen.

Wenn sie aber von Auferstehung reden will und von Vollendung, dann muss sie den Wahrheits-Konsens der Moderne zurücklassen und eine Glaubenssprache buchstabieren, die ihre Akzeptanz nicht aus der Allgemeinkultur bezieht, sondern höchstens bei individuellen Aha-Erlebnissen anknüpfen kann – oder bei Resten einer Glaubenssprache, die noch in der „Subkultur“ Kirche vorhanden sind.

Diese wurde aber von der vorletzten Pfarrer-Generation zugrunde gelegt. Nach der „empirischen Wende“ der 60er Jahre hat die Kirche ihre Verkündigung den Verstehens-Kategorien der Adressaten-Kultur angepasst. Wohl gibt es heute so etwas wie eine „spirituelle Wende“. Diese bewegt sich aber noch auf der Ebene vieler Suchprozesse und Kleinkulturen, sie hat noch kein neues theologisches oder kirchliches Paradigma geprägt.

 

Aus dem Buch «Die Hälfte meines Pfarramtes. Die Mitte meines Pfarramtes.» Notizen 2004-2005.

 

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