Der Arche-Noah-Punkt

Es ist kühl. Das Sturmtief Ciarán, das in Europa bisher zwölf Todesopfer forderte, ist mit Ausläufern auch in der Schweiz angekommen und bringt Regen und kühles Wetter. Kalt – das beschreibt die ganze Atmosphäre. Man möchte sich verkriechen, etwas Warmes um sich ziehen, nicht denken, sondern sich ankuscheln. Und doch scheint die Kälte angemessen für das, was zu schreiben wäre, für das Lebensgefühl in dieser Zeit.

Der Sturm hat in der Toskana innert kürzester Zeit für Überflutungen gesorgt. Am Morgen, als ich erste Nachrichten hörte, war die Rede von einem Erdbeben in Nepal. Das immer neue Aufbrechen von Fronten und Katastrophen zieht einem den Boden unter den Füssen weg. Wohin kann man sich noch retten, wenn alles nachgibt?

Die Wähler suchen Sicherheit
Die Freundlichkeit der Menschen wird umgekehrt nicht stärker, alle spüren das verhärtete Klima, die zunehmende Kälte, die in alle Glieder kriecht. So macht man sich auf einiges gefasst. Ich will mich aber auch nicht verrückt machen. Ja, es läuft alles drunter und drüber. So könnte man darauf reagieren, indem man sich totstellt, indem man überhaupt nichts mehr riskiert, sondern nur noch den sichersten Wegen folgt. Aber wer weiss, wie sicher die sind, wenn so viel Fundamentales wankt? Die zurückliegenden Nationalrats-Wahlen wurden so interpretiert, dass die Menschen Sicherheit suchten.

Ein Kipp-Punkt in der Politik?
Heute scheinen die Katastrophen-Nachrichten in den Medien darum zu kämpfen, was oben stehen darf. Wieviel davon mag man hören? Da kam mir der Gedanke, ob es vielleicht nicht nur physische Kippunkte gibt, sondern auch politische, ob es vielleicht einen Arche-Noah-Punkt gäbe, wo das Ganze zu kippen beginnt.

Da sind die Katastrophen-Meldungen, die sich häufen. Flüchtlinge fliehen vor Krieg und Gewalt, dazu kommen absichtsvolle Vertreibungen, um eine ethnisch einheitliche Bevölkerung zu schaffen, um einen «Nationalstaat» zu kreieren oder einfach nur als Vorwand für Vertreibung, Aneignung und Bereicherung.

Der Klimawandel hat die letzten Wahlen nicht mehr so dominiert wie vorletztes Mal, die Berichte der Wissenschaftler sind aber nicht beruhigender geworden. Das Vertrauen, das Nötige durchsetzen zu können, wurde durch die letzte Amtsperiode erschüttert. Die Grünen waren an der Macht, teilten sich mit Koalitionspartnern in die Regierung, aber der Krieg in der Ukraine machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Das Gas wurde teurer, die Energie wurde teurer, man schaute auf einen kalten Winter. So mussten die Ziele revidiert werden. Vielleicht hat das auch zu einem gewissen Fatalismus geführt, dass das «Pariser zwei-Grad-Ziel» doch nicht zu erreichen sei. Wenn Links-Grün die Geschlechterfrage so hochspielte und die Sprachkontrolle im Sinn von Antirassismus und Antikolonialismus etc., so schien das ein wohlfeiler Kulturkampf, um dahinter das Versagen in den deklarieren Zielen zu verbergen.

Der Arche-Noah-Punkt
Dieser Fatalismus hat wohl auch in meinen Gedanken mitgespielt. Immer mehr Flüchtlinge werden kommen, dachte ich, der Klimawandel ist nicht aufzuhalten. Und er wird die Konflikte um Land und Ressourcen anheizen. Vielleicht ist irgendwann der Arche-Noah-Punkt erreicht: wenn die unversehrte Hälfte dieser Welt nicht mehr reicht, um die versehrte Hälfe aufzunehmen und die Flut hereinbricht.

Die Erdbebenopfer können in anderen Dörfern angesiedelt werden, andere werden ihr Heil im Ausland suchen, v.a. junge Männer, die mobil sind, die ihre Familie aus dem Ausland unterstützen möchten. So gibt es für jedes Katastrophengebiet ein Umland, das die Betroffenen auffangen kann oder muss. Aber was, wenn dieses Umland einmal nicht mehr reicht? Wenn die umliegende Bevölkerung die Solidarität aufkündet, wenn die internationalen Staaten sich abschliessen und Mauern bauen?

Die Arche-Noah-Geschichte in der Bibel beschreibt, wie die Flut ansteigt, wie die Katastrophe sich ihren Weg bahnt. – Wann ist der Punkt erreicht, wenn die Flut kommt, die nicht mehr aufzuhalten ist? (So fragte auch die Schweiz im zweiten Weltkrieg. «Das Boot ist voll», hiess es, und Flüchtlinge wurden zurückgeschickt.)

Einer reicht
Die Bibel sagt: einer reicht. Ein einziger, und die Dynamik ändert sich. Der eine, das ist nicht der Tropfen, der das Fass zum Überfliessen bringt. Die Katastrophe besteht nicht darin, dass die Gefahr immer zunimmt, bis es unkontrollierbar wird und uns über den Kopf wächst. Das ist die Angst, die das so buchstabiert. Der eine, der der Geschichte eine Wendung gibt, das ist Noah. Der Herr aber sah Noah, einen Gerechten, und er erbarmte sich über ihn.

Der eine, der alles wendet, das ist auch nicht der eine Überlebende, der dank der Fortpflanzung dafür sorgt, dass die Gattung nicht ausstirbt. (So heisst es, Russland müsse siegen, weil es mehr Bevölkerung habe; die Konservativen in Israel müssten die Zukunft bestimmen, weil sie mehr Kinder haben; Ungarn könne unerwünschte Einwanderung abwehren, wenn es das Bevölkerungs-Wachstum fördere…).

Was nicht ausstirbt
Der eine in der Bibel, Noah, das ist der, von dem es heisst, dass er gerecht gewesen sei. Und wenn einer gerecht ist, dann stirbt die Gerechtigkeit nicht aus. So wird er zum Retter für Viele. Seine «Arche Noah», das ist ein Schiff, so erzählt es die Mythologie; seine Arche, die Menschen und Tiere rettet, das ist die Gerechtigkeit, die er aufrecht erhält auch in einer Zeit, die Angst vor der Flut hat, die sich abschliesst, die andere nicht mehr teilhaben lassen will, die nur noch in Panik um sich schlägt, wie ein Ertrinkender. Aber diese retten sich nicht vor der Flut, so erzählt die Geschichte, sondern der rettet von der Flut, der eine Arche baut.

Anfang, nicht Ende
«Arche» heisst Anfang, Ursprung, Prinzip. Es ist der Anfang der neuen Menschheit in der Bibel. Es ist der Anfang der Menschheit überhaupt, die als Zivilisation dort beginnt, wo der einzelne einen Wert und eine Würde hat, wo Mensch und Tier geachtet werden in ihrem Lebensrecht. Wo Leben nicht verzweckt und Menschen nicht mediatisiert werden, so dass sie ein Recht nur noch unter einer Bedingung haben, und diese Bedingung, das kann ändern, das untersteht dem Fluss der Politik. Das ist relativ, das schwankt im Wind, in den Wellen. – Nein, ausserhalb der Arche schwankt alles in den Wellen. In der Arche herrscht ein Prinzip: Gerechtigkeit, nicht als formales Recht, dass ähnliche Dinge auf ähnliche Weise zu behandeln sind, sondern als Recht auf Teilhabe, auf Leben, auf ein Leben in Würde.

Die Sintflut-Geschichte in der Bibel ist eine Anfangserzählung, keine Enderzählung. Es geht um den Anfang, um das, was eine Kultur begründet, eine Menschheit im Sinn minimaler Rechte. Es geht um eine Würde, die Gott achtet und Menschen respektiert.

 

Bild: Noah’s Ark von Edward Hicks, 1846, Philadelphia Museum of Art, Public domain, via Wikimedia Commons

Bibeltext: «Und der Herr sprach zu Noah: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus; denn dich habe ich für gerecht befunden vor mir zu dieser Zeit.» (Buch Genesis, 7,1)