Tag Archive for: Verantwortung

In Italien gab es Überschwemmungen. Die Nachrichten zeigen einen Mann, der bis zum Hals im Wasser watet. Seine Frau trägt ein Kind. Solche Bilder sieht man immer nach Überschwemmungen, man hat sich daran gewöhnt. Ungewöhnlich war aber, dass das nicht «einer der üblichen Verdächtigen» war, aus den «Problemregionen» dieser Welt, an die wir uns gewöhnt haben. Weiterlesen

Ich bin nachts jetzt oft aufgeregt, kann nicht schlafen. Ich habe die „Deckung“ verlassen, bin zum Handeln übergegangen, zum Zeigen (bekennen) und zum Tun. Ich folge dem, was ich für wahr halte. Weiterlesen

Unsere Tochter lebt für einige Monate am andern Ende der Welt. Geht es ihr gut? Meine Phantasie füllt die Lücken, wenn ich nichts höre, mit Bildern. Ich möchte ihr einen Brief schreiben. Ich möchte ihr begegnen. So kann ich bei ihr sein. Wie kann ich sie ermutigen? Wie umarmen und ihr das Gefühl geben, dass sie aufgehoben und geborgen ist, was immer geschieht? Weiterlesen

Die Zeit zwischen den Jahren hat einen eigenen Sinn. Sie ist nicht nur Zwischenzeit, sie ist gefüllt mit … Ja, womit? Wenn ich sie nütze, gelingt mir der Start ins neue Jahr besser. Weiterlesen

Der Plan der britischen Regierung, Flüchtlinge nach Ruanda abzuschieben, ist von den Gerichten abgewiesen worden. In Deutschland, Österreich und anderen Ländern wird dieser Versuch, Flüchtlingsprobleme per Outsourcing zu lösen, auch verfolgt. Weiterlesen

Es ist kühl. Das Sturmtief Ciarán, das in Europa bisher zwölf Todesopfer forderte, ist mit Ausläufern auch in der Schweiz angekommen und bringt Regen und kühles Wetter. Kalt – das beschreibt die ganze Atmosphäre. Man möchte sich verkriechen, etwas Warmes um sich ziehen, nicht denken, sondern sich ankuscheln. Und doch scheint die Kälte angemessen für das, was zu schreiben wäre, für das Lebensgefühl in dieser Zeit. Weiterlesen

Wie hat es angefangen, schief zu laufen auf dieser Erde? Auch die Antike hat die Frage schon radikal gestellt. Auch die Antike kannte schon ökologische Zerstörungen in einem Ausmass, das die Menschen erschrecken liess – ob wohl die Welt aus ihrer Schuld zerstört werden könnte? Weiterlesen

 

Erbsünde und Freiheit? Das scheint wie die Faust aufs Auge. Beschreibt die Erbsünde nicht die «völlige Verderbnis der menschlichen Natur»? Wo Freiheit verneint wird, ist sie oft verborgen, in einer entstellten Gestalt, in Form von enttäuschten Hoffnungen, als Nachdenken, woher die Unfreiheit denn stammt und wie sie zu heilen wäre.

In der «Erbsünde» steckt die menschliche Freiheitsgeschichte, die Hoffnung, die damit verbunden war. Darin stecken aber auch die Enttäuschungen und – schlimmer noch – die Traumatisierungen, wenn schmerzlich ersehnte Freiheitsprojekte in Zwang umschlugen, wenn Menschen malträtiert und beiseitegeschafft wurden. Darin steckt das Erschrecken, die Angst des Menschen vor sich selbst, wenn die Vernunft ein dunkles Gesicht zeigte: den Gewaltcharakter, den sie annimmt, wenn Dinge und Menschen sich nicht fügen, wenn sie sich widerständig zeigen. Es ist nicht nur die «Bosheit», die sich im Widerstand zeigt. «Der Pfeilbogen ist verzogen», wie die Bibel sagt. Er trifft das Ziel nicht mehr. Der Mensch kann nicht immer, wie er soll.

Im Konzept der «Erbsünde» steckt ein jahrtausendealtes Nachdenken über menschliches Handeln und wie es gelingen kann, trotz aller Widerstände, die von aussen kommen, die aber auch aus dem Menschen selber stammen. So versucht die «Erbsünde», die Freiheit zu retten, indem sie diese mit dem Gegenteil vermittelt, der absoluten Abhängigkeit im Vertrauen auf die Güter des Lebens und die Bedingungen des Daseins, die dem menschlichen Tun vorausliegen. Vertrauen wird so zu einer Kraft, es ist keine leere Formel. Es begrenzt die Autonomie nicht, sondern macht sie möglich, auch dort, wo diese an einer absoluten Grenze ansteht.

Im Glauben sind auch Tod und Leben keine letzten Hindernisse, sie sind aufgehoben bei Gott in einem Symbol, wo Sein und Sollen zusammenfinden. «Glauben» als religiöse Praxis ist ein aktives Vertrauen auf das Zusammenstimmen der Gegensätze, auch in jenen Erfahrungen, die einen Riss durch die Welt zu treiben scheinen. Es ermutigt das Tun, ermöglicht Verantwortung, trägt die Intuition eines autonomen Lebens. Es verhindert dieses nicht, sondern ermöglich es und befreit es aus seinen lähmenden Gegenerfahrungen.

 

Inhaltsverzeichnis

Zeitenwende. 2

Einleitung. 4

Das Weltbild wird revidiert 7

Erfahrungen unserer Zeit 8

Die Krise der Spätantike. 8

Erbsünde im Atomzeitalter 9

Wie ein Tun ins Gegenteil umschlägt 9

Wie die Welt erfahren und gedeutet wird. 11

Das Harmonie- und das Konfliktmodell 11

Freiheit wird Unfreiheit wird Freiheit 15

Sich gleichzeitig machen mit Adam.. 16

Sich gleichzeitig machen mit Abraham.. 17

Ein Blick auf die Geschichte. 18

Revolution und Romantik. 18

Versöhnung. 19

Nebenfolgen und Backlash. 21

Die Frage nach dem rechten Leben. 22

Rettung der Moderne durch ihre Vermittlung mit dem Glauben. 22

Verantworten und Vertrauen. 23

Rück- und Ausblick. 25

Das Sollen kehrt zurück. 27

Die Verbannung der Ethik aus der Politik….. 27

… und ihre Rückkehr 28

Katastrophenerfahrungen in der Bibel 32

Die Katastrophe des Exils. 32

Die Katastrophe der Kreuzigung. 34

Traumatisierung und Vermittlung. 34

Erbsünde und Endversöhnung. 35

Rückblick. 36

Ende oder Transformation. 36

Richtig leben im falschen. 36

Der Mensch und Gott 37

Zum Schluss. 39

 

Zeitenwende

Als die Zeit sich verdüsterte revidierte er sein Weltbild. Sein bisheriger Optimismus widersprach so vielem, was die Zeit vor Augen stellte. Nicht nur am einzelnen Menschen zweifelte er, die ganze Menschheit schien einem Abgrund zuzulaufen.

Er lebte in der Antike und nach dem Stil der Zeit, machte er es am «ersten Menschen» fest. Schon Adam im Paradies habe den Weg zum Falschen eingeschlagen. Und das habe er allen folgenden Menschen «vererbt». Darum sprach er von «Erbsünde», der Autor heisst Aurelius Augustinus.

Beim Wort «Erbsünde» zucken wir heute zusammen, wir denken an die körperfeindliche Sexualmoral der Kirche, die die Menschen verstört. Das Verdikt der Körperfeindlichkeit bleibt, die gab es aber schon vor und neben Augustinus. Und der Clou des Erbsünde-Gedankens ist nicht die Fortpflanzung (Augustinus suchte einen Mechanismus, der erklärt, wie ein falscher Weg sich von einer Generation auf die nächste überträgt.)

Der Clou ist die Frage, wie aus Freiheit Unfreiheit entsteht und warum sich freie Wesen zwanghaft auf einem falschen Weg bewegen. Diese Fragen stellen wir uns auch heute, in einer Zivilisation, die zwanghaft ihre eigenen Lebensgrundlagen untergräbt. Wie kamen wir als freie Menschen in eine solche Situation, die die Freiheit aufhebt?

Wie kam es, dass ausgerechnet die Moderne, die mit einem Freiheitsprojekt gestartet ist, in einer Welt endet, die mit Klimazerstörung und Artensterben in Naturzwang zurückfällt? Wie kam es, dass das Zeitalter, das den Menschen im Namen trägt, «Anthropozän», nicht für Freiheit und Entfaltung steht, sondern für einen drohenden Kollaps von Klima, Meer und Artenvielfalt?

Heute verstehen wir Augustinus und seine Zeit vielleicht besser. Es war eine Zeit zunehmender Verdüsterung, er revidierte seinen Optimismus. Was war es denn am Menschen, das ihn in diese Richtung drängte? Wie konnte Freiheit so entarten, dass sie in Unfreiheit umschlug?

Der Gedanke der «Erbsünde» half damals, den Konflikt zu überwinden zwischen dem Glauben an einen guten Gott, der lebensnotwendig war, und der gegenteiligen Erfahrung eines Lebens in Leid und Schicksals-Schlägen. Und es lag nicht am guten Willen, die Menschen hatten das Gefühl, in etwas verstrickt zu sein, was sie lähmte und Dinge tun liess, die sie nicht wollten. So erlebten sie sich selbst, wie sie beim besten Willen das Falsche taten, was das Leben belastete und verstörte.

Vielleicht dass der Erbsünde-Gedanken doch noch etwas an sich hat, was heute zur Verständigung beitragen kann? Freiheit kann in Unfreiheit umschlagen, gibt es auch einen Weg aus Unfreiheit, der in Freiheit führt?

 

Einleitung

Warum läuft es schief auf der Welt? Das fragte schon die Antike. Um nicht Gott die Schuld zu geben – das gab es damals auch: Sekten die von einer «schlechten Schöpfung» sprachen oder davon, dass der Teufel der «Herr der Welt» sei – sprachen sie von «Erbsünde». So blieb die Schuld bei den Menschen, sie waren frei geschaffen, aber sie machten falschen Gebrauch davon.

 

So traten Übel auf, die man nicht mehr beherrschen konnte. Die Freiheit wandte sich gegen sich selbst. Was frei geschaffen war, trat dem Menschen wie etwas Fremdes gegenüber, zu dem er keinen Schlüssel mehr besass, das seinem Willen nicht mehr gehorchte. Der Wille selbst war wie verbogen, dass er Dinge hervorrief, die man nicht wollte, dass man sich in einer Welt vorfand, die allem widersprach, was man sich ersehnte.

 

Das Wort «Erbsünde» ist heute verpönt, weil man an Sexualität denkt und an Sünde, eine Welt, die einem als Ganzes verhasst ist. Der Clou dieses Gedankens ist aber die Frage, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann. Es ist die Erfahrung einer Zeit, wo die Projekte nicht mehr einfach in den Himmel wuchsen, wo die Schattenseiten sichtbar wurden, wo die Kosten bezahlt werden sollten – nicht von fremden Völkern an fremden Stränden, wo die Nebenfolgen der Zivilisation sich zuerst bemerkbar machten, sondern im Herz dieser Zivilisation, wo die Pläne ausgeheckt werden, die Entwicklung und Wohlstand bringen sollen.

 

Klimawandel, Artensterben und viele Entwicklungen dieser Zivilisation zeigen eine Welt, die von den Menschen angestossen wurde aber ihm nicht mehr gehorcht. Hitzesommer, Überschwemmungen, Dürre – es kommt daher wie Natur, es gehorcht einem Zwang wie Natur, es hat eine gewaltige Kraft wie Natur, aber es stammt vom Menschen her. Es ist «zweite Natur», vom Menschen geschaffen, aber nicht mehr von ihm kontrolliert, von ihm vom Stapel gelassen, aber mit einer Entwicklungsrichtung, die nicht mehr zu steuern ist.

 

Wie ist es so weit gekommen? Warum entfremdet sich das Werk des Menschen von dem, was er will? Warum schaut sich der Mensch heute selber zu: wie er etwas tut, was er nicht will? Wie er eine Welt der Zerstörung immer weiter perpetuiert, obwohl er daraus aussteigen will?

 

Ist es vielleicht doch eine verflixte Welt? Ein Geschick, das über den Menschen gekommen ist mit fremder Gewalt? Science-Fiction Filme malen sich so etwas aus: Extraterrestrische, die die Welt erobert haben und sie zerstören wollen. Verschwörungs-Theorien stricken an einer solchen Erzählung: dass gar nicht die gewählten Politiker, die Unternehmer eines freien Marktes die Dinge vorwärtsbringen, dass es eine dunkle und verschworene Gemeinschaft gibt, die die Dinge zum Bösen lenkt.

 

Damit ist die Erzählung aus der Spätantike wieder da. Auch damals verdüsterte sich der Horizont, das römische Reich zerfiel in zwei Hälften, herumziehende Völkerschaften, die früher an der Grenze angesiedelt und in ein Bündnis aufgenommen wurden, drangen in das Reich ein, plünderten Städte, brandschatzten die Bevölkerung. Eine Grosserzählung, die das verarbeiten wollte, war damals die Gnosis. Die Welt ist gar keine gute Welt, sagte sie, und der Urheber kein guter Gott. Das Eigentliche ist nur im Geist zu sehen, diese materielle Welt ist eine schlechte Kopie. Die hat ein Demiurg geschaffen, ein Weltschöpfer, der das Ganze nicht im Griff hatte. Darum kann er sie nicht zur Ganzheit erlösen, die Gegensätze nicht versöhnen. Die Menschen aber tragen einen Funken jener Geisteswelt in sich, sie müssen das nur erkennen, so werden sie aus diesem Jammertal erlöst.

 

Jetzt ist vielleicht plausibler, was der Erbsünde-Gedanke leistet: er hält an der Intuition eines guten Gottes fest, denn das brauchen die Menschen, um leben zu können, nimmt aber auch die Erfahrung des Gegenteils auf, dass die Welt in vielem anders läuft, als wir es wünschen und hoffen. Das ist nötig, um die Erzählung ernst zu nehmen. Nicht Gott oder ein Geschick oder Aliens oder finstere Verschwörer sind die Urheber der Uebel dieser Welt, die uns mit Klimawandel und Artensterben immer dichter auf die Pelle rücken, es ist der Mensch selber und er tut es gerade dann, wenn er die besten Absichten hat. So schaut er sich zu, wie er tut, was er nicht will, wie er Uebel hervorbringt, die er vermeiden möchte, wie sein Wille und seine Welt sich zu einer grotesken Fratze entwickeln, in der er sich mit seinen Absichten nicht mehr erkennen kann.

 

Was aber ist es, was den Willen so pervertiert? Was ist es in uns, wie läuft es bei uns ab, wenn wir etwas Gutes wollen und dann doch so handeln, dass das Gute unterlaufen wird und das Gegenteil resultiert? Es ist die Angst, sagt Kierkegaard, der den Gedanken der Erbsünde untersucht. Er nimmt den Mythos der Bibel auf vom «ersten Menschen», der in Sünde fiel und diesen Fall der ganzen Gattung als Erbe vermachte. Aber er will keinen Mythos erzählen, er fragt als Philosoph. So hebt er die mythologische Distanz zum ersten Menschen auf und macht sich «gleichzeitig»: Wenn ich mich als Adam denke – wie lief das ab? Wie läuft das ab, wenn ich mich verfehle und so sehr verfehle, dass die Freiheit selber korrumpiert wird? Es ist ein Geschehen, das sich immer wiederholen kann, denn jeder Mensch ist gleichzeitig mit Adam, mit seinem Wesen, er lebt nicht in mythologischer Distanz. Es ist die Freiheit jetzt, die in ihr Gegenteil verfällt. Was ist es also? Es ist die Angst.

 

In der Angst mache ich, was ich nicht will. Und was ich will, das tue ich nicht. Und das beginnt nicht erst in einer Situation, wo ich gefordert bin, die Angst hat sich viel tiefer in mich eingegraben, es ist tiefer, als ich oft weiss. Die Angst hat sich mir schon in der Kindheit mitgeteilt. Schon als kleines Kind habe ich ein Angst-Abwehr-Verhalten eingeübt. Und das bestimmt schon meine Wahrnehmung. Nähert sich das Erleben einer Situation, die sich mir in der Kindheit «eingebrannt» hat, läuft das Leben Gefahr, noch einmal in diese Richtung zu gehen, so reagiere ich mit Verhaltensweisen, die ich in frühster Kindheit gelernt habe.

 

Das kann Totstellen sein, «Einfrieren», es kann Flucht sein in Träumerei und was die Verhaltensweisen immer sind, die die Psychologen mit Dissoziation bezeichnen. Das Verhalten ist unfrei, ich wiederhole zwangsweise, was mich verletzt hat, ich baue keine positive Welt auf, ich wiederhole und verlängere die negative. Ich spiele meine alten Konflikte durch und benütze die Menschen, die mir begegnen, um die alte Welt wieder aufleben zu lassen. Ich gebe ihnen die Rollen, die sie spielen müssen, ich bin der Regisseur in diesem höllischen Spiel, das mich immer und immer wieder verletzt, aber ich kann kaum daraus aussteigen.

 

Die Vernunft, die in einem biographischen Leben mit der Pubertät erwacht als Wille, sein Leben bewusst zu gestalten, findet sich vor als Kapitän auf einem Schiff, das schon lange fremden Lotsen folgt, die das Steuer in der Hand halten.

«Autonomie» ist das Ziel der Pubertät: dass der jugendliche Mensch aus der Abhängigkeit der Kindheit auswandern kann in ein Land, in dem er sich selber folgt, wo er die Gesetze selber gibt, denen er sich unterwerfen will, so dass er ein freies Leben führt. Doch will er das umsetzen, stösst er auf Widerstand, statt Autonomie und Selbstbestimmung, ist da «Heteronomie» und Fremdbestimmung. Er verfehlt die Freiheit auch, weil sie Angst macht. Frei zu leben und sich auf nichts zu stützen, ist ein ungeheuer anspruchsvoller Weg.

 

Für den religiösen Menschen ruft Gott zur Freiheit, nicht zu Unfreiheit. So erzählt es auch die Bibel: am Anfang stand ein Mensch in voller Freiheit. Trotzdem verfehlt er sich selbst – aus Angst, sagt Kierkegaard, der die Erzählung von Adam entschlüsselt.

 

Erbsünde als Theorie der Freiheit

Es ist keine Theorie der Unfreiheit, sie nimmt die Freiheit ernst, fragt, wie sie verloren und wieder gefunden werden kann, wie sie entartet und eine entfremdete Welt erzeugt und wie sie wieder so ausgerichtet werden kann, dass sie dem Willen dient.

 

Darin liegt auch eine Kritik des falschen und eine Vision des richtigen Willens, eines Willens, der sich nicht absolut setzt, sondern an Gott ausrichtet. Nichtreligiös gesprochen: er muss mit Vertrauen verbunden sein. Sonst verliert das Tun sich in den Aporien einer Welt, die aus menschlichem Handeln zur Vollkommenheit gelangen will. Das endet in Überforderung, in totalitären Entgleisungen, in Verzweiflung und findet erst zu neuem Anfang in der Hingabe im Vertrauen.

 

Das ist ein Glaubensakt, ein religiöser Akt. Damit wird nicht irgendein Gottesbegriff gesetzt, die heutige Kultur ist geprägt von historisch mächtigen Religionen und dem Widerwillen dagegen. Es ist ein Gottesbegriff, der diesem Akt des Vertrauens entspricht. «Ich will» ist der Satz der Autonomie, «ich vertraue» ist der Satz des Glaubens. Beide Sätze ermöglichen ein Leben in Freiheit und Erfüllung.

 

 

Das Weltbild wird revidiert

 

Ich habe gestern Nacht ein Büchlein aus dem Büchergestell gezogen. Es ist fast 2000 Jahre alt. Als ich drin lese, scheint es mir wie für heute gemacht. Es stammt aus der Spätzeit des römischen Reichs. Der Zentralstaat ist geschwächt, Sicherheit und Wohlstand werden fragil. Augustinus hatte eben noch eine optimistische Werbeschrift für das Christentum geschrieben. Fünf Jahr später unterzog er sie einer Revision, die die Lage nüchterner einschätzte. Es erinnert in manchem heutiger Welterfahrung.

 

 

„Über die wahre Religion“ heisst das Büchlein, das Aurelius Augustinus 390 schrieb und fünf Jahre später in den «Überprüfungen» unter dem Eindruck der Geschichte revidierte. Die Zahlen 390 und 395 stehen für verschiedene Erfahrungen; zwei Weitsichten begegnen sich.

 

Der freie Mensch

Die Schrift aus dem Jahr 390 wirbt für das Christentum, indem es diese Religion als „Philosophie für das Volk“ vorstellt. Da wird der Mensch als frei und autonom gesehen. Der Mensch kann sich zwar verfehlen, was aber nicht gegen ihn spricht. Der Begriff der Sünde setzt die menschliche Freiheit geradezu voraus.

 

Am Horizont zeichnen sich bereits die historischen Umwälzungen ab. Die äussere Welt scheint immer weniger gestaltbar für die menschliche Vernunft. Das Interesse verlagert sich auf das individuelle Glück, und sei es in einer untergehenden Welt. So verengt sich die platonische Tradition zu einer Glücks- und Seelenlehre, die den einzelnen im Über-Sinnlichen verankert (ohne Umweg über eine nicht mehr für möglich gehaltene Veränderung der Lebensumstände).

 

Der verstrickte Mensch

395, fünf Jahre nach Abfassung der Schrift, zerfällt das Römische Reich in zwei Hälften. Die Verkehrswege werden unsicher, Wohlstand und Sicherheit werden fragil. Der Zentralstaat ist geschwächt, lokale Grossgrundbesitzer reissen die staatliche Macht an sich und pressen die Untertanen aus. Es kommt zu Bauernunruhen.

 

Augustinus revidiert sein Büchlein in einer Nachschrift («Retractationes», Überprüfungen). Die Gegensätze lassen sich nicht mehr harmonisieren. Er beendet den Versuch einer Humanisierung des Christentums und wechselt vom Harmonie- zum Konflikt-Modell. Er unterstreicht jetzt im Gegenteil die Gegensätze, weil so leichter zu sehen ist, wo die Freiheit ansteht. Es ist ein Paradigmenwechsel nötig, der die Unfreiheit ernster nimmt, der Antwort gibt, wie das Leben auch in einer solchen Welt gelingen kann.

 

„Erbsünde“

In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff «Erbsünde» zu sehen. „Erbsünde“ meint nicht, dass ein Kind „in Sünde empfangen“ wird und Sexualität darum „böse“ sei (die asketische Ablehnung des Materiellen steckt schon in der platonischen Phase), Erbsünde steht für die Beobachtung, dass es Verstrickungen gibt, die wir nicht lösen können.

 

Wir haben sie nicht individuell verschuldet und müssen sie doch mittragen. Wir können uns nicht mal davon distanzieren, weil uns „nichts angeht, was wir nicht verbrochen haben“. Das unberührte Land, in das wir uns zurückziehen könnten, gibt es nicht mehr. Die Staats-Verschuldung heute ist nur ein Beispiel für viele Probleme, die die Generationen vor sich herschieben und auf spätere Geschlechter übertragen. Dazu gehören weltwirtschaftliche Verwerfungen, die sich wie eine Verstrickung um die Menschen legen. Wer kann daraus aussteigen?

 

Erfahrungen unserer Zeit

Die Impulse, die das Gefüge vorwärtstreiben sind so mächtig, dass kein politscher Akteur sichtbar ist, der das sinnvoll modulieren könnte. Es folgt seiner Dynamik. Hier reisst es eine Wirtschaftszone in die Krise, dort führt es zur Abholzung von Regenwäldern. Es lässt als Resultante von vielen Interaktionen die Arten aussterben und die Temperaturen ansteigen. Die Permafrost-Böden tauen auf, die Hanglagen in den Bergen werden instabil. Meere werden leergefischt und Luft- und Meeresströmungen werden blockiert oder suchen sich neue Wege…

 

„Erbsünde“ ist ein Begriff im Diskurs um Schuld und Freiheit. Im weiteren Sinn, als Wort-Signal, ist es eine Absage an die Vorstellung, über die historisch vorhandenen Kollektiv-Subjekte Einfluss auf die Lebensbedingungen der aktuell lebenden Menschheit zu nehmen.

 

Die Krise der Spätantike

„Erbsünde“ ist die Erfahrung der Spät-Antike, dass die vom Menschen geschaffenen Strukturen sich verselbständigen und vom Menschen und seinem Handeln nicht mehr eingeholt werden können. Die Produkte des Menschen haben sich von diesem entfremdet, sind zu einer „zweiten Natur“ geworden, die mit Naturzwang auf die Urheber zurückschlagen. Sie sind nicht mehr erreichbar für die Gestaltung des Menschen. Kalt prallen die Intuitionen des Menschen an ihnen ab: dass es so etwas wie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geben müsse. Dass ein Leben gelingen soll. Dass Anfänge nicht abbrechen. Dass Verletztes verheilen kann. Dass ein langer Weg in ein „Ankommen“ mündet.

 

In der Spätantike ziehen sich solche Lebenshoffnungen vom Raum gemeinsamer historischer Gestaltung zurück. Der einzelne stellt sich vor Gott. Er erklärt sich für „reichsunmittelbar“ und sucht für sich einen Weg zu Gott, „und wenn die Welt untergeht.“ Die Reich-Gottes-Verkündigung im Christentum verengt sich zu einer Erlösungs-Religion für Einzelseelen. Heute spricht man nicht mehr von „Seele“ und „Gott“. Man sucht und findet andere Begriffe und Wege, wie das „Ich“ mit dem Innersten der Wirklichkeit zur Übereinstimmung kommen soll, so dass es nicht verloren geht (oder gerade durch sein „Aufgehen in anderem“ bewahrt wird).

 

Die „Erbsünde“ ist ein sperriger Begriff. Sie behält in sich die Erinnerung an ein überindividuelles Schicksal. Diese Erinnerung sperrt sich gegen die Zersplitterung der gewachsenen kollektiven Handlungs-Subjekte in eine Wolke von Mensch-Atomen, die chaotisch durcheinander sausen. „Erbsünde“ ruft nach einem Erlöser, der auch diesem historischen Stand menschheitlicher Verlorenheit noch gewachsen ist.

 

Der Begriff mag veraltet sein, es lohnt sich aber, ihm nachzudenken, weil er Erfahrungen formulieren hilft, wie eine ganze Weltgesellschaft Gefahr läuft, ihr Wichtigstes zu zerstören, gerade indem es dem Guten nacheifert.

 

 

Literatur: Aurelius Augustinus: „De vera religione“ / „Über die wahre Religion“ mit seinen späteren Ergänzungen. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch, Reclam-Verlag, Stuttgart 1983.

Aus Notizen, 2015

 

 

Erbsünde im Atomzeitalter

Dass unsere Taten sich gegen uns selber kehren, das erleben wir heute in Klimawandel und Artensterben. In den 50er Jahren war es die Atom-Technologie. Der Theologe Rudolf Bultmann hat sich damit beschäftigt.

Bultmann fühlt sich der Geschichte „ausgeliefert“. Die grossen weltgeschichtlichen Ereignisse brächten dem Menschen seine Abhängigkeit und Hilflosigkeit zum Bewusstsein, so schreibt er in „Geschichte und Eschatologie“ von 1955. Die Geschichte werde als fremde Macht empfunden, was besonders bitter sei, da sie als Resultat menschlichen Handelns sich jetzt gegen seinen Urheber selber kehre.

 

Wie ein Tun ins Gegenteil umschlägt

Zehn Jahre früher haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno unter derselben Denkfigur, die sie „Dialektik der Aufklärung“ nannten, zu analysieren versucht, warum die Aufklärung im Faschismus und Totalitarismus in ihr Gegenteil umschlagen konnten. Bultmann hat in den 50er Jahren weniger den Totalitarismus im Auge als die Technik, an der sich dasselbe Umschlags-Phänomen zeige: „Ihre Erfolge treiben zu Folgen, vor denen oft ihre eigenen Meister erschrecken. Was zur Förderung des menschlichen Lebens geplant und ausgeführt war, droht in den Folgen zu einer Schädigung, ja sogar Vernichtung zu führen.“

Welche technische Errungenschaft dahinter steht, wird deutlich in einer Vorlesung von 1951, wo er die „schreckliche Vision“ beschreibt, „dass die moderne Technik, besonders die Atomphysik, die Zerstörung über unsere Erde bringen kann durch den Missbrauch menschlicher Wissenschaft und Technik.“ Sechs Jahre zuvor hatte der Abwurf einer Atombombe über Hiroshima und Nagasaki 152.000 Tote und 150.000 Verletzte gefordert, was den Schrecken dieser Waffe demonstrierte.

Umso grösser der Schock der westlichen Welt als die Sowjets 1949 ebenfalls die A-Bombe bauten. Wegen der sowjetischen Doktrin der Weltrevolution und der amerikanischen Eindämmungspolitik war die zuvor bestehende Verbindung beider Mächte im Zweiten Weltkrieg auseinandergebrochen und hatte dem „Kalten Krieg“ Platz gemacht. Die Welt erstarrte in einem „Gleichgewicht des Schreckens“; Geschichte wurde immobil sie schien in einen Zustand geführt zu haben, der auch die Bewegungsfreiheit jener begrenzte, die über diese Waffe verfügten.

Wenn Bultmann mit Horkheimer und Adorno den Umschlag von Freiheit in Unfreiheit beschreibt, denkt er nicht wie jene an das Projekt der „Aufklärung“. Die theologische Tradition bietet dafür den Begriff der Erbsünde an, in der als Ursünde Freiheit in Unfreiheit verwandelt wurde, so dass der sündige Mensch die Folgen tragen und verantworten muss, obwohl ihre Heilung nicht mehr in seiner Macht steht, es sei denn, Gott heile ihn und er könne durch eine „Umkehr“ in sein Heil zurückkehren – durch ein „anderes Selbstverstehen“ im Glauben. Der Gewährsmann, der sich hier anbietet, ist Kierkegaard der im „Begriff Angst“ den locus der Erbsünde rekonstruiert und erklärt, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann: durch die Angst, die mit der Freiheit der Entscheidung gesetzt ist, so dass der Einzelne Sicherheit sucht, sich ans Endliche klammert und so durch ein Tun, das helfen soll, sich selbst verfehlt.

 

Paradoxes Ja

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bot neue Verstehens-Voraussetzungen, um die Wahrheit der Predigt Jesu „aufzuheben“ und für ein Verständnis der eigenen Zeit fruchtbar zu machen: Die apokalyptische Vision einer atomaren Zerstörung der Welt lässt die Politik als handelndes Verändern in der Geschichte erstarren. Zwischen „wahrem“ Leben und Leben in dieser Welt gab es offenbar keine Vermittlung. Die erstarrte Welt lässt sich nicht in eine wahre verbessern, sie lässt sich nur übersteigen in einer Hingabe an den weltüberlegenen Gott, der dem Gläubigen analoge Weltüberlegenheit vermittelt, so dass er erst in einem paradoxen Akt des „Trotzdem“ sein Leben in dieser Welt wieder bejahen und „verantworten“ kann.

 

Literatur: Bultmann, „Geschichte und Eschatologie“ von 1955 und „Jesus Christus und die Mythologie“ von 1951, zitiert nach Peter Winiger „Glaubenssprache angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen – ein Gespräch mit Bultmann und Moltmann“, Akzessarbeit, Zürich 1992

 

 

Wie die Welt erfahren und gedeutet wird

 

Die Verunsicherung ist in dieser Zeit allgemein geworden, so habe ich 2008 in mein Tagebuch geschrieben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise und ihre sozialen Folgen verunsichern viele Menschen und lassen unsicher erscheinen, was eben noch das Fundament für ein unangefochtenes Funktionieren war.

Im historischen Längsschnitt lösen sich Phasen von Optimismus und Pessimismus ab: man fühlt sich wohl in der Zeit und glaubt, sein Schicksal gestalten zu können oder man fühlt sich gebunden und getrieben. Das zeigt sich auch in der Kirchengeschichte und im Glaubensdenken. Statt die ganze Geistesgeschichte nachzuzeichnen, kann man die Möglichkeiten in idealtypischen Modellen gegeneinanderstellen.

 

Wie ist die Wirklichkeit? Steht hinter allem ein guter Gott? Manchmal geht ein Riss durch Fühlen und Denken – lässt sich das wieder heilen oder geht der Riss bis in die Fundamente? In der Kirchengeschichte begegnet immer wieder ein Wechsel zwischen zwei Modellen, die Wirklichkeit zu betrachten: einem Harmonie- und einem Konflikt-Modell. Es ist die kulturelle Antwort auf Problemlagen der Geschichte, auf den Wechsel von Krieg und Frieden, einmal gibt es Wohlstand, dann wieder Suche und Hungersnot.

 

Es gibt zwei mögliche Extreme, die in der Kirche nie realisiert wurden, aber in der Philosophie und in anderen Religionen:

  • Der Monismus: Welt und Gott sind eins, die Welt ist schon heilig, einfach weil sie ist. Hier entsteht das Problem, die Brüche in der Welt zu verstehen.
  • Der Dualismus: Der Riss durch die Welt ist ontologisch, die Wirklichkeit ist gespalten, das Böse steht als eigenes Prinzip auf derselben Höhe wie Gott. Das Problem hier: es gibt keine Erlösung.

In der Kirchengeschichte gab es keinen Monismus oder Dualismus. Es war immer klar: Die Welt ist keine „schlechte Schöpfung“. Sie gehört „zu Gott“, ist aber nicht „gleich Gott“. Gott hat sich nicht in die Welt entäussert, so dass alles von sich aus göttlich wäre und nur noch erkannt werden müsste.

 

Das Harmonie- und das Konfliktmodell

Je nach historischer Erfahrung dominierte ein Harmoniemodell, wo Gott auf der einen und Welt und Mensch auf der anderen Seite trotz prinzipieller Verschiedenheit in Harmonie gesehen werden. Der Mensch hat gute Anlagen, kann sich höher entwickeln, kann durch Fortschritt in Erkennen und Streben Gott entgegenkommen.

Dann wieder gab es andere Erfahrungen: Natur-Katastrophen, Bürgerkrieg, unfassbare Gewalttaten… Das führte zu einem Konfliktmodell, wie nach dem ersten Weltkrieg. Zwischen Gott und Mensch ist ein Bruch, nie und nimmer kann der Mensch aus sich zu Gott finden. Wenn beide zusammenkommen, dann weil Gott herabkommt. Aber die Welt kann ihn nicht begreifen, wenn er zu ihr kommt, sie lehnt ihn ab. Das ist seine Passion. Er trägt es, er offenbart sich in seiner Andersheit. Die Offenbarung in dem ihm fremden Medium ist zugleich der Weg zu deren Verwandlung und Erlösung.

 

Drei Wege zu Gott im Harmoniemodell

In der Antike gab es eine harmonistische Variante. So konnte die junge Kirche (und der frühe Augustin) die griechische Philosophie verwenden, um den Glauben zu verstehen: Bei Plato ist die Wirklichkeit hierarchisch aufgebaut. Alles lebt von der obersten Wirklichkeit, die wahr, schön und gut ist. So gibt es drei Wege zum Göttlichen: das Wahre, das Schöne und das Gute.

Daraus sind drei Wissenschaften entstanden, die die Geschichte des Abendlandes begleitet haben:

  • Die theoretische Wissenschaft der Natur, wo mit Argumenten um Wahrheit gerungen wird.
  • Die praktische Wissenschaft der Ethik, wo der richtige Weg für das Leben des einzelnen und des Staates gesucht wird.
  • Die ästhetische Wissenschaft vom Schönen.

So gab es drei Wissenschaften, drei Geltungsansprüche, die in einem geordneten Diskurs eingelöst werden konnten, um das Leben des Menschen in der Welt, das Leben der Menschen miteinander und das Leben auf dem Weg zum göttlichen Ziel auf eine feste Grundlage zu stellen.

 

Heilswege im Gefolge der Philosophie

So gab es auch drei Wege zu Gott, die in den verschiedenen Kirchen unterschiedlich aufgenommen wurden:

Die Westkirche nahm v.a. den Weg des Guten auf. Sie begreift die Welt aus der Spannung von Sein und Sollen. Der Mensch tut nicht, was er soll. Der Bruch vergrössert sich. Er kann nicht mehr, was er soll. Sünde wird Erbsünde, die erste Sünde pflanzt sich fort. In der Westkirche geht die Diskussion um Sünde, Busse, Gnade, Werke.

Die Ostkirche nahm auch den Weg des Wahren und Schönen auf. Das Leid in der Welt lässt sich nicht nur aus dem Versagen der Ethik begreifen, sondern auch nach dem Modell des Messers, das nicht mehr taugt, der Vase, die zerbrochen ist. Das Urbild ist im Abbild nur ungenügend verwirklicht, so dass Fehler auftreten, Unvollkommenheit, Leiden.

Der Weg zurück führt nicht nur über Anstrengung, Busse, Gnade, sondern auch über Betrachtung des Urbildes. Die Schönheit verzückt die Seele, diese erinnert sich, woher sie kommt und empfindet Sehnsucht nach ihrer Heimat… So macht sie sich auf den Weg, bis Gott sie in seine Gemeinschaft aufnimmt und das Abbild im Urbild erneuert wird.

Darum sind hier Ikonen wichtig. Gott hat bei der Schöpfung sein Abbild (eikon) in den Menschen gelegt, es ist verschüttet.[1] Gott offenbart sich in Jesus Christus, er wird Mensch und erneuert im Menschen-Abbild das Urbild, so dass sich der Mensch wieder vergottähnlichen kann (eikon und homoiousis).

 

Ein Konfliktmodell nach der Bibel

Neben den philosophischen Wegen gab es auch einen Weg aus der Bibel: die Nachfolge Christi. Diese ist weniger optimistisch, was die Einschätzung der Leistungen des Menschen betrifft. Hier wird der Erfahrungsweg des Gottesvolkes im ersten Testament aufgenommen und die Erfahrung der Kreuzigung: dass Jesus Christus kein Gehör fand, dass er abgelehnt wurde. Er musste die ganze Gewalt von Unrecht, Zynismus und Lust am Quälen erleben, alles, wozu Menschen fähig sind, den ganze Abgrund dieser Welt.

 

Die Haltung von Paulus

Hier steht auch Paulus: Er erzählt von Christus und lässt das Kreuz nicht aus. Er kommt in die griechische Stadt Korinth mit der Absicht, nichts anderes zu wissen als das Kreuz Christi.

„Ich hatte mir vorgenommen, unter euch nichts anderes zu kennen als Jesus Christus, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten. Als schwacher Mensch trat ich vor euch und zitterte innerlich vor Angst. Mein Wort und meine Botschaft wirkten nicht durch Tiefsinn und Überredungskunst, sondern weil Gottes Geist sich darin mächtig erwies. Euer Glaube sollte sich nicht auf Menschenweisheit gründen, sondern auf die Kraft Gottes.“ (1. Kor. 2,1ff)

Dieser Weg ist realistischer und in gewissen Phasen der Geschichte allein glaubwürdig. Auf diese Weise kann ein Mensch seinen Weg gehen, auch wenn er seine Grenzen von Seiten der Natur erfährt (Krankheit, Tod, Hunger, Katastrophe…), aber auch, wenn er auf seine eigenen Grenzen stösst, die er sich als Mensch selber setzt.

 

So kann er trotzdem seinen Weg gehen, auch wenn er das Vertrauen verloren hat,

  • dass ein Mensch aus eigener Kraft seinen Weg finden kann,
  • dass die Menschengattung eine Fortschrittsgeschichte erlebt, die den Menschen am Ende ermächtigt, die Bedingungen seiner Existenz selber in der Hand zu halten, so dass er ein autonomes, selbst-mächtiges Wesen wird, das sich nur sich selber verdankt,
  • dass die Welt Bestand hat oder jedenfalls nicht untergeht wegen seiner Eingriffe.

 

Im Kreuz geht Gott durch Hinterhöfe und Arbeitsplätze, durch Bloss-Stellen und Demütigung. Er geht zu den Verlorenen. Er ergreift ihre Hand, führt sie hinaus. Gott stellt den ins Unrecht Gesetzten ins Recht, er erhöht den Erniedrigten. Er stellt seine Füsse auf weiten Raum.

Aus Notizen 2008

 

 

Freiheit wird Unfreiheit wird Freiheit

 

Wie hat es angefangen, schief zu laufen auf dieser Erde? Auch die Antike hat die Frage schon radikal gestellt. Auch die Antike kannte schon ökologische Zerstörungen in einem Ausmass, das die Menschen erschrecken liess – ob wohl die Welt aus ihrer Schuld zerstört werden könnte?

 

Mythologische Antwort

Der römische Dichter Ovid erzählt von einem goldenen Zeitalter, wo jedes Wesen aus eigenem Antrieb Gesetz und Treue übte. Diese vollkommene Welt ist verloren, so dass wir die Forderung nach Gerechtigkeit nur noch in unserem Wissen, nicht mehr in der Erfahrung wiederfinden. Einen der Gründe für diese Entartung sieht er auch im menschlichen Verhalten. Das goldene Zeitalter degenerierte zum silbernen und dann zum eisernen Zeitalter. Hier „flohen Scham, Wahrheit und Treue“ von der Erde und es brach „jeglicher Frevel hervor“.

Auf der Erde wohnten damals Giganten. Als diese anfingen, den Himmel zu erstürmen und die Gefahr bestand, dass sie ihren Frevel dorthin tragen könnten, bis die Ordnung der Sterne durcheinandergeriete, stürzte sie „der allmächtige Vater“ hinunter. Ihr Blut benetzte die Erde. Daraus entstand ein neues Geschlecht von Menschen. „Doch auch dieses Geschlecht verachtete die Überirdischen, war grausam, gewalttätig und erfüllt von unstillbarer Mordlust – man sah, dass es aus Blut entsprossen war.“ Ovid erzählt, wie der Mensch zum Wolf entartet und wie Jupiter die Erde und alles Leben in einer Flut ertränkt. Nur Deukalion und Pyrrha entkommen – in ihnen macht das Leben einen neuen Anfang auf der Erde.

Ähnlich erzählt die Bibel von einer Welt, die im Ursprung vollkommen war. Darum tragen wir das Wissen, wie es sein soll, in uns. Auch die Bibel schildert eine „ontologische Daseinsminderung“. Das Gold des Ursprunges verblasst, so dass Unrecht, Krankheit, Tod auftreten. Auch hier trägt der Mensch eine Schuld an dieser Entwicklung („Sündenfall“), sie erzählt von Sintflut und Neuem Anfang in Noah und seiner Arche.

 

Ein Philosoph enträtselt den Mythos

Wie lässt sich die Schuld des Menschen verstehen? Was ist das Verhalten, das die Ur-Vollkommenheit zerstört? Das wäre so etwas wie der „Urknall“ der Menschwerdung, sein Ausgang aus der Unschuld des Naturwesens, der Beginn der Zivilisation. Die Paradiesgeschichte erzählt von der Versuchung Adams. Durch seine Schuld wurde er aus dem Paradies vertrieben und das Menschengeschlecht lebt seither in Not und Schmerz.

Sollte Adam der Einzige sein, der die Schuld beging und wir Menschen unschuldig gestraft? Sollte Adam der Einzige sein, der frei gewesen war, und wir Folgenden nur Erben seiner Schuld? – So legt es der Gedanke der „Erbsünde“ nahe.

Der Philosoph Sören Kierkegaard meint: So erzählt, nützt mir das nichts. Zwar kenne ich die Erfahrung von Unfreiheit, dass ich mich beim besten Willen verfehle. Aber ich habe auch eine Intuition von Freiheit, die ich wahrnehmen muss, wenn mein Leben gelingen soll.

 

Sich gleichzeitig machen mit Adam

Kierkegaard erzählt die Geschichte von Adam neu – so dass diese nicht in eine mythische Vorzeit gerät und wir nur noch Nachfolger sind, die hier ihre „condition humaine“ erfahren. Er macht sich „gleichzeitig mit Adam“. Er tritt in den Mythos ein. Er verwandelt ihn in eine Freiheitsgeschichte. Er fragt: Wie ist es denn zu verstehen, dass aus Freiheit Unfreiheit entsteht? Was ist damals geschehen im Paradies? Was geschieht hier auf dieser Erde immer wieder, so dass die Vertreibung sich immer neu wiederholen muss?

Was genau tue ich, dass ich immer wieder aus dem Paradies vertrieben werde? Was kenne ich an mir, was mich und mein Verhalten so verändert, dass es mir nicht mehr selber angehört, dass ich mir selber fremd werde? In welchen Situationen geschieht es, dass ich mich selber im Stich lasse und gegen besseres Wissen und Vertrauen handle, so dass ich das Falsche tue, obwohl ich das Richtige will?

 

Angst

Es ist die Angst! – Sie verwandelt mich. Sie übt jene Kraft der „Metamorphose“ aus, von der Ovid erzählt. Sie lässt das Gold in Silber und Eisen verrotten, sie weckt in mir den Wolf. Darum sieht man mir den Menschen nicht mehr an, als der ich gedacht war. Darum finde ich das Richtige nicht mehr in meinem Handeln, sondern nur noch in einem Wissen, das ich gegen alle Erfahrung in mir trage. Darum lebt das Ziel, das ich mir ersehne, nur in einem Hoffen, das ich kontrafaktisch gegen alle Erfahrung aufrechterhalten muss.

 

Sicherheit vs. Vertrauen

Aus Angst vor dieser Welt, in der ich mich vorfinde, will ich sie kontrollieren. Ich klammere mich an Dinge dieser Welt, die ich nicht verlieren will, und verfehle so mein Leben. Wenn ich zwanghaft etwas festhalte, kriege ich die Hände nie frei, die ich brauche, um zu handeln. Und was es auf dieser Welt gibt, zwischen Leben und Tod, das verlangt mein Handeln. Wenn ich aber zu viel tue, wenn ich Tod und Leben aus eigener Kraft bewältigen will, verzweifle ich und verfehle mein Leben.

Ich muss es ins Vertrauen setzen, dass es gehalten ist aus jener Anfangs-Kraft, die alles ins Leben rief, und auch mein Leben. Wenn ich aber alles nur noch ins Vertrauen setze und denke, Gott wird es schon richten, verfehle ich mein Leben ebenfalls.

Kierkegaard rekonstruiert die „Erbsünde“ und erklärt, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann: durch die Angst, die mit der Freiheit der Entscheidung gesetzt ist. Aus Angst sucht der Einzelne Sicherheit und klammert sich ans Endliche. So verfehlt er sich selbst. Die „Synthese zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit“, die das Selbst ist, gelingt erst, wenn er sich als Glaubender aus der Unendlichkeit versteht und das Endliche loslässt. Dann wird er es wieder zur Verantwortung zurückerhalten, sodass er ein paradoxes „Dennoch“ zur Welt sprechen kann.

 

Sich gleichzeitig machen mit Abraham

Wie gelingt der Glaube? Wie kann ich vertrauen, gegen die Angst? Wie kann aus Unfreiheit wieder Freiheit werden? (In Bildern der Mythologie gesprochen wäre das wie eine Rückkehr ins verlorene Paradies.)

Kierkegaard rekonstruiert die Haltung, die Abraham zum „Vater des Glaubens“ macht. Abraham opfert seinen Sohn Isaak, erhält ihn aber zurück. Hat Abraham daran gezweifelt? Er machte eine „doppelte Bewegung“, und Kierkegaard merkt an, dass es ihm selber immer nur gelingen will, die eine Bewegung zu machen, aber nicht beide. Darum sieht er sich nur als Schüler des Glaubens.

Wie Abraham muss ich eine erste Bewegung machen und Isaak loslassen, ihn Gott übergeben im Sinn des Opfers, das er verlangt, im Sinn des Vertrauens, aus dem ich leben will. Dann muss ich aber eine zweite Bewegung machen und Gott mehr zutrauen, als ich fühle und sehe. Dass ich ihn übergebe und nicht zweifle, dass Gott das Opfer nicht will, dass ich ihn loslasse und dabei in keinem Moment verzweifle und vertraue, dass Gott ihn mir wieder geben wird.

Es ist ein riesiges Vertrauen. Das Verantworten wird nicht aufgehoben, es wird neu ermöglicht. Die Ethik verschwindet nicht in der Religion. Durch das in der Hingabe erlebte Vertrauen wird sie neu ermöglicht, wo sie an den Widerständen schon scheitern wollte. Ethik und Glaube bringen sich gegenseitig hervor. Vertrauen und Verantworten gehören zusammen. Es ist ein Ineinander: Nur wenn ich vertraue, kann ich verantworten. Wenn ich aber nicht Schritte mache in diesem Vertrauen, wenn ich es nicht im Handeln erprobe, stirbt es ab. So kann ich ohne handeln auch nicht glauben, ohne verantworten auch nicht vertrauen. So, erklärt Kierkegaard, kann aus Freiheit Unfreiheit werden. So kann aus Unfreiheit neue Freiheit entstehen, neue Verantwortung, wo das Leiden schon resignieren wollte.

 

Literatur:

Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Deutsch Düsseldorf 2005

Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst, deutsch Frankfurt am Main 1984

 

 

Ein Blick auf die Geschichte

 

Wie kam es, dass ausgerechnet die Moderne, die mit einem Freiheitsprojekt gestartet ist, in einer Welt endet, die mit Klimawandel und Artensterben in Naturzwang zurückfällt? Wie kam es, dass das Zeitalter, das den Menschen im Namen trägt – «Anthropozän» – nicht für Freiheit und Entfaltung steht, sondern für einen drohenden Kollaps von Klima, Meer und Artenvielfalt?

 

Revolution und Romantik

Die Aufklärung war das Freiheitsprojekt der Moderne und die Französische Revolution der grösste Versuch bis dahin, eine Gesellschaft auf der Grundlage der Autonomie aufzubauen. Nicht nur das Zusammenleben, auch die Konstituierung des Menschen überhaupt wurde in die Hand genommen. Die Pädagogik hatte Hochkonjunktur. Durch vernünftige Erziehung sollte der Mensch heran-„gebildet“ werden, wie er es als Anlage in sich trägt, nicht verbogen durch Herrschaft, Vorurteile, Unterdrückung.

Die „Schöne Seele“ war das Ziel, nach dem Worten von Schiller. Pflicht und Neigung sollten versöhnt werden, nach den Worten von Kant: dass der Mensch nicht mehr der Neigung folgt und ohnmächtig vor der Pflicht steht, aber er kann nicht tun, was er soll und will. Immer wieder ertappt er sich dabei, wie er das eine will und das andere tut. Vernunft und Trieb sollen versöhnt werden, die Verhärtungen des Charakters sollen aufgeweicht werden, das Flussbett soll umgelegt werden, damit es den Fluss wieder ins Ziel leitet und dieser nicht mehr zerstörerisch die Ufer überschwemmt. Die Schöne Seele tut aus Neigung, was die Pflicht ihr zu tun vorgibt. Es „fliesst einfach“ und der Mensch ist, wie er soll. Die Welt kommt zu ihrer richtigen Ordnung.

 

Fremdbestimmung

In der Aufklärung war es die „Bildung“, im 19. JH die „Revolution und der neue Mensch“, im 20. JH war es die „Therapie“ – angestrebt war nicht weniger als eine neue Schöpfung, in der die Konflikte versöhnt sind. Der Versuch, die Selbstbestimmung (Autonomie) zu leben, stiess auf Erfahrungen der Fremdbestimmung (Heteronomie). Und diese lagen nicht nur aussen, in den „Verhältnissen“, sondern auch innen, im Wollen und Verhalten des Menschen. Meist sah man darin Ableger der äusseren Verhältnisse; das „pessimistische“ Menschenbild der Kirche mit ihrer „Erbsündenlehre“ wurde von der Aufklärung und all ihren Folge-Epochen abgelehnt. Sie hatten ein „optimistisches“ Menschenbild.

Die Lehre der „Erbsünde“ sagt die Unmöglichkeit aus, dass der Mensch sich selber in der Hand halten könne. Es ist ein dogmatisch gewendeter Satz aus dem Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies.

Dort wird die Unterscheidung festgehalten: da ist Gott, da ist der Mensch. Da ist der Schöpfer, da ist das Geschöpf. Und kein Geschöpf erschafft sich selbst, es lebt aus Gnade, es kommt aus einer Quelle des Lebens, die es nicht selber schafft, und ist unterwegs zu einem Ziel, das die Souveränität seines Tuns und Machens übersteigt. Allenfalls kann das Schauen ihm etwas davon verraten.

 

Versöhnung

So erhob sich vor dem Projekt eines autonomen Lebens das zweite Projekt, die Heteronomiebestände zu versöhnen, sei es in der Gesellschaft oder im einzelnen Menschen. Die Menschen sollten «das Gesetz nicht nur auf der Stirn tragen», so wie Juden es beim Gebet mit Gebetsriemen tun. Gott sollte es ihnen «ins Herz schreiben», wie es die Propheten für eine messianische Endzeit voraussagen.[2] Dann ist der Mensch erlöst, er ist am Ziel, er kann, was er soll.

Die Vertreibung aus dem Paradies wird endlich aufgehoben. Dort hatte er zwar vom Baum der Erkenntnis gegessen (er weiss, was er soll), aber bevor er vom Baum des Lebens essen konnte, wurde er vertrieben (so ist er sterblich, er ist nicht „wie Gott“). Am Ende der Geschichte steht ein zweites Paradies, dort kann der Mensch vom Baum des Lebens essen. Er kann was er soll.

So schildert es die Religion, die über absolute Aussagen verfügt. Der Mensch mit seinen Kräften bleibt aber der Zeit und dem Tod unterworfen, das macht seine Sterblichkeit aus und seine „Geburtlichkeit“. Er lebt in der Geschichte, nicht in der Vollendung. Die „condition humaine“ wird gefunden und beschrieben, nicht selbst gesetzt.

 

Äussere Versöhnung

Im Terror der Französischen Revolution endet der Traum der Autonomie, der Selbst-Bildung des Menschen. Es war ein Schock für ganz Europa, für alle gebildeten Stände, die mit ihren Hoffnungen auf Freiheit und Selbstgestaltung nach Frankreich geschaut hatten. War der Mensch vielleicht doch des Menschen Wolf, wie es die Naturrechtsdenker unter dem Eindruck der Bürgerkriege des 17. JHs formuliert hatten? Musste Herrschaft wieder mit Schrecken durchgesetzt werden, nur um überhaupt das (innere und äussere) Chaos zu bändigen?

Denn das war das Schlimmste, was man bisher erfahren hatte: die Gewalt, die hier plötzlich explodierte. Zivilisation schien nur ein dünner Film über einem Abgrund von Barbarei. Hier hatte der Krieg sein rationales Gesicht verloren (als „Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mittel“), es gab sinnlose Gewalt, Folter auch ohne den Zweck, ein Geständnis zu erpressen. Es gab Freude an der Gewalt. (Marquis de Sade hatte seine Werke schon vor dem Terror geschrieben. Da zeigte das Zeitalter der Vernunft schon in Friedenszeiten ein dunkles Gesicht.)

Im allgemeinen Schrecken konnten auch kleine Rechnungen beglichen werden, Nachbarn denunzierten sich und eigneten sich das Gut der andern an. Schuldner wurden mit dem Gläubiger auch ihre Schulden los. Diese Rationalität ist aber aufgesetzt. Wäre der Mensch ein rationales, vernünftiges Wesen nach der Vorstellung der Aufklärer, hätte er diesen Exzessen widerstanden, statt sie für seine kleine Rechnung zu missbrauchen.

Die Gewalt kannte kein Ende, jeder schien ein Verräter. Die Henker von heute legten morgen selber den Kopf auf die Guillotine. (Es erinnert an die Apokalypsen der zwischenbiblischen Zeit, wo der Weg beschrieben wird, wie das Eine sich ins Viele zerteilt, bis zum Krieg aller gegen alle. Erst in diesem Chaos kehrt die Bewegung um, sie fliesst zurück zum Einen. Es kommt die Flut und deckt alles wieder zu. Bis aus dem Einen eine neue Schöpfung geschieht.)

 

Die innere Versöhnung

Wie herausfinden aus dieser Situation? Das Schlagwort damals war die „Legitimität“, die Restauration, die Rückkehr zu den alten Mächten von Adel, Krone und Kirche. Auch das war zunächst nur eine aufgesetzte Rationalität.

Die tieferen Gründe wurden von der Romantik erforscht: Was ist der Mensch? Was sind seine Antriebe? Warum ist die Vernunft nicht Herr im Körper? Was sind die vermittelnden Instanzen? Und haben diese einen Eigensinn? Wie ist der Mensch also zu verstehen, wie die Gesellschaft?

So kam es zu einer Restauration auch in tieferem Sinn: nicht nur die alten Eigentumsrechte wurden wieder hergestellt. Die Kirche wurde nicht nur in ihr Recht wieder eingesetzt, weil sie im Bündnis von Thron und Altar stabilisierend wirkt. Es gab ein echtes neues Fragen in der Religion. Ein Wiederanknüpfen an biblische und kirchliche Lehren, eine Restauration im tieferen Sinn.

 

Nebenfolgen und Backlash

Damals war es die Französische Revolution, die für ganz Europa zu einem Lehrstück wurde. Die Zeitgenossen des 21. JH haben den Krieg im Irak erlebt, als US-Präsident Bush Saddam Hussein stürzte und das mit der Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten begründete. Heute, im Chaos der Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten, in denen auch die Interessen der USA in dieser Region untergehen, wünscht man sich eine Machtgestalt zurück, die die widerstrebenden Kräfte bündeln und Frieden herstellen könnte. Schon ein Waffenstillstand wäre eine Erholung, schon eine kurze Ruhe im allgemeinen Gemetzel würde erlauben, die Eingeschlossenen auszufliegen, humanitäre Hilfe an den Ort zu bringen.

Die Revolten des „Arabischen Frühlings“ führten fast überall zu Bürgerkrieg und später zur Etablierung der alten Ordnungen – nach dem Schema der Französischen Revolution und ihrer Folgezeit. Und wo das noch nicht geschah, wünscht man sich einen Friedensfaktor, weil der Bürgerkrieg immer weiter um sich frisst. Die nationalen Grenzen in der Region, die nach dem 1.Welkrieg gezogen wurden, werden aufgelöst. Der ganze mittlere Osten ist in Bewegung. Gewalttätige Islamisten errichten im Grenzgebiet von Syrien und Irak ein Schreckens-Kalifat. Die Kurden, bisher auf vier Staaten verteilt, werden erstmals vom Westen unterstützt, weil sie noch zu den wenigen gehören, die Widerstand leisten können. Syrien ist auf Generationen zerstört. Millionen von Menschen sind auf der Flucht.

Auch in Libyen ist es seit dem Sturz von Muammer al-Gaddafi noch nicht gelungen, eine Friedensordnung herzustellen. Der ganze Staat, die Gesellschaft, scheinen zerrüttet, man möchte aber doch nicht von „gescheiterten Staaten“ reden, da diese Region gar nie eine Staatlichkeit nach westlichem Vorbild herausgebildet hatte. Die westlich klingenden Institutionen waren übergestülpt, dort sassen westlich gebildete lokale Eliten, die mit den ehemaligen Kolonialmächten kooperierten. Jetzt fällt das wieder ab. Die Menschen ordnen sich nach traditionellen Mustern und suchen Orientierung in einer Zeit, die nicht vom Westen beeinflusst war, z.B. im Islam.

 

Aus Notizen 2014

 

Die Frage nach dem rechten Leben

 

Wie ist Freiheit möglich? Die Frage stellt sich auf politischer, aber auch auf individueller Ebene.

Mich mussten diese Fragen damals faszinieren, weil das genau meine Fragestellung war: Ich wollte mein Leben bewusst führen, ich wollte es „in die Hand nehmen“ und nach meiner Einsicht gestalten. Aber mit jedem Schritt stiess ich auf neue Hindernisse. „Autonomie stösst auf Heteronomie“, schrieb ich damals in meinem Tagebuch.

Im Verlauf meines „Unternehmens Leben“, wie ich das nannte, kam ich mir immer mehr auf die Schliche. Ich fand Fremdbestimmung nicht nur aussen, sondern auch in mir, in meinem „Charakter“. Ich sah, wie ich mit der Fremdbestimmung kollaborierte, wie ich mich ihr auslieferte, weil es etwas gab, was mir noch viel mehr Angst machte: die Freiheit, die Verantwortung, das Hinaustreten auf eine Bühne, wo ich sichtbar und haftbar bin, wo man mir Fehler zurechnen kann und wo man versprochene Leistungen auch sehen will, sonst gibt es Pfiffe und Buhrufe.

Aus Notizen 2014

 

 

Rettung der Moderne durch ihre Vermittlung mit dem Glauben

Mein Nachdenken über den Glauben hat begonnen, als ich versuchte, jenen Tendenzen etwas entgegen zu stellen, welche die „Aufklärung“, die „Moderne“, die „Vernunft“ verabschieden wollten. Es stammt also gerade nicht aus dem aktuellen postmodernen“ Konservativismus oder Irrationalismus, sondern aus dem Interesse an Autonomie, Begründung, Aufklärung, Vernunft.

Aber ich begriff, dass die Aufklärung, dass die Moderne als Programm der Autonomie, nicht selber autonom ist, als Weltanschauung, dass sich die historische Aufklärung Bedingungen verdankt, welche sie aus ihren eigenen Mitteln nicht reproduzieren kann… bis ich eben mit Kierkegaard begriff, dass Autonomie und Heteronomie „dialektisch“ aufeinander bezogen sind und ineinander umschlagen können.

  • Ohne den bis zur Verzweiflung getriebenen Versuch der Autonomie gibt es keinen Glauben.
  • Und ohne vollständige Hingabe und ohne rückhaltloses Leben aus Vertrauen gibt es keine Autonomie.

Hier sind paradoxe Übergänge, welche das Neue Testament mit dem Gleichnis vom Senfkorn benennt: Erst aus dem „Absterben“ kann „neues Leben“ entstehen.

 

Verantworten und Vertrauen

Der Mensch gelangt bald an eine Grenze seines Tuns, wo er das Verdikt des Sollens tragen muss, wo er die Kluft des unversöhnten Seins ertragen muss: wo die Welt nicht ist, wie sie sollte; wo das Leben nicht so spielt, wie er wollte; wo er leidet, wo er traurig ist, wo er stirbt.

 

Sein und Sollen

Und selbst in totalitären Ideologien, die versprechen, dass die Menschheit eines Tages diese Kluft überbrücken werde, wird das für eine ferne Zukunft vor Augen gestellt. Dem einzelnen ist dieses Ziel für seine Person und im Augenblick seines Lebens nur symbolisch gegeben: Er hat jene Tat nicht in der Hand, kann aber glauben, dass die Welt letztendlich „aufgeht“ – wenn der Mensch endlich jenen Prometheus aus sich hervorbringt, der in den Himmel steigt und das Feuer der Unsterblichen holt, jenen Herkules, der in den Hades hinuntersteigt und den Wächter der Unterwelt überwindet, so dass die toten Seelen wieder ins Leben zurückkehren können. Was er hat, ist auch in diesen Ideologien wie in der Religion: Glaube, Hoffnung, Vorstellung (Symbol).

Die Ganzheit der Welt und des Lebens erlebt er nicht „real“, er kann es sich nur „symbolisch“ repräsentieren und im Symbol daran teilhaben. Damit tut er genau das, was der Gläubige immer schon tut. Ist nur die Frage, ob sich eine solche Ideologie so glauben lässt wie ein religiöser Glaube.

Wenn man denn schon mit „nüchternen Tatsachen” operieren will: dass ich mich vorfinde und mich nicht mir selbst verdanke, sondern „etwas anderem“, das erlebe ich auf Schritt und Tritt. Dass die Menschheitsgeschichte auf einen prometheischen Homunculus zulaufen wird, der Himmel und Hölle ersteigen wird, den Tod aufheben und die Ganzheit des Weltalls verbürgen, das ist eine Zumutung an meine intellektuelle Redlichkeit, die diese viel mehr strapaziert als jeder religiöse Glaube.

 

Moderne und Postmoderne

Damit ist ansatzweise deutlich geworden, was ich mit Verantwortung und Vertrauen meine, dass beide Verhaltensweisen einander bedingen und am Grenzpunkt ineinander übergehen müssen, damit sie vollzogen werden können. Anders ausgedrückt: dass „Moderne“ und „Postmoderne“ sich nicht als Epochen ablösen können, dass das Weltbild der “Moderne“, die Autonomie, nur auf der Basis einer religiösen Grenzvermittlung möglich ist und umgekehrt.

 

Glaube denk- und lebensnotwendig

Im „Oben-Ohne“-Weltbild geht auch die Autonomie nicht mehr auf. Ohne Repräsentation der Ganzheit in Gott und individueller Teilhabe erstirbt die Möglichkeit der Autonomie, sowohl was die Denkmöglichkeit angeht, wie das psychologische Funktionieren.

Es ist nicht denkmöglich, weil die Autonomie offensichtlich die Ganzheit des Weltalls nie garantieren kann. Ein solcher Anspruch führt auch psychologisch in lähmende Resignation. In der Resignation kann die absolute Autonomie aber in die absolute Heteronomie umschlagen; wenn ich mich zuerst ganz mir selbst verdanken wollte, lege ich mich jetzt ganz einem andern in die Hände.

Das Individuum ist Subjekt des Leidens und Denkens, aber nicht Subjekt der vermittelnden Tat. Die Kluft muss symbolisch überbrückt werden: Einerseits im Symbol der ethischen Norm, die das Sollen einer gesuchten Ordnung für den zeitlichen Vollzug im Leben eines Individuums repräsentiert, andererseits im Symbol der Ganzheit, in der das zeitlich und sozial-individuell gespaltene und nur über das gesollte Tun vermittelbare Sein symbolisch bereits zu einem harmonischen Ganzen verbunden ist, als Vorwegnahme der Tat, die diese erst ermöglicht.

 

Gläubig werden

So entsteht aus dem Sollenden am Umschlagspunkt der Grenze ein Glaubender. Die im Symbol vorweggenommene Ganzheit ersetzt das Tun, das im Sollen gefordert wird, nicht. Sie ermöglicht es aber als Zielbestimmung und psychische Ausrüstung.

Sollen und Glauben, Verantworten und Vertrauen, schliessen sich also nicht aus, sie sind je verschiedene Repräsentationen der Ganzheit im Augenblick der geschichtlich-individuellen Existenz. Die eine appelliert an seine Freiheit, an sein Tun-Können, die andere an sein Vorstellen-Können; die eine nimmt seine Freiheit ernst, die andere seine Grenze, aber nicht nur die Grenze. Auch unterhalb der Handlungsgrenze ist das Handeln auf eine symbolische Vorwegnahme des Ziels angewiesen.

Unstatthaft wäre es, die Grenze segregativ zu ziehen:

  • Hier bin ich überfordert, sorge Du, lieber Gott, dafür, dass die Welt aufgeht und dass der Begriff meines Sollens zu seinem Recht kommt. Z.B. beim Welt-Hunger: da bin ich überfordert, und trotzdem empfinde ich unabweisbar meine Verantwortung für das Problem. Löse Du das ein, stille mein Harmoniebedürfnis… Da wird symbolische Versöhnung zur Ausflucht, Religion zu „Opium“.
  • Genauso unmöglich ist ein Verantworten-Wollen, das die ganze Verantwortung allein mir zuschiebt. Beides muss ineinandergreifen.

Aus Notizen 1987

 

Rück- und Ausblick

 

In der Aufklärung begann das grosse Freiheitsprojekt der Moderne. In der Französischen Revolution begann die Aufklärung, ihr politisches Programm umzusetzen. Nach wenigen Jahren schlug die Befreiung in Anarchie um, in Gewalt und Staatsterror. Das Bürgertum (das revolutionäre Subjekt dieser Zeit) einigte sich mit einem autokratischen Herrscher und engte unter Napoleon die Spielräume wieder ein.

Die Romantik suchte nach einer Lösung für diese Dialektik von Autonomie und Heteronomie, von Freiheit und Unfreiheit. Sie fand sie in der idealistischen Philosophie, die die Versöhnung der Gegensätze im Geist vorstellte, und in einem neuen Nachdenken über Religion, wo die Versöhnung in Gott gesetzt ist, der einzelne aber Anteil hat im Glauben.

Die Autonomie ist hier nicht mehr total, als ob der Mensch Autor seiner selbst wäre – das wurde nur in einigen totalitären Ideologien behauptet, die die religiöse Heilslehre beerbten und in eine politische Utopie übersetzten – die Autonomie ist in der Sicht der Religion begrenzt. Wird die Versöhnung der Gegensätze in einem Absoluten gesucht und gefunden, wird der einzelne als Handelnder entlastet.

Die Versöhnung von Sein und Sollen wird nicht mehr dem Menschen aufgelastet – er würde von einer solchen Aufgabe erdrückt – sie ist religiös beantwortet in einer Heilserzählung, die diese Harmonie protologisch in einem Ursprungsparadies gegeben sah (das nimmt die Intuition auf, dass die Welt an sich eine gute Wirklichkeit darstellt, dass sie nicht unversöhnbar zerrissen ist), und eschatologisch in der Harmonie einer Endzeit (das nimmt die Erfahrung ernst, dass das Leben heute von Unrecht und Tod verletzt und gefährdet ist, und die Intuition, dass mit dem Leben, auch mit meinem Leben, etwas anderes gemeint sei, dass jedes Leben zur Erfüllung kommen soll.)

So ist der Mensch aufgerufen, seine Autonomie wahrzunehmen, die Verantwortung zu übernehmen in jenen Dingen, die ihm als Handlungsbereich gegeben sind, aber nicht die ganze Welt erlösen zu müssen. Ein solch absolutes Autonomie-Projekt führt die Ethik in Lähmung und Resignation, sie lässt den einzelnen, der sein Leben richtig führen will, verzweifeln. Hier wird er offen für die Erzählung der Religion (Hegel hat sie ins Philosophische gewendet), dass die Versöhnung der grossen Fragen durch ein anderes Handlungs-Subjekt geleistet wird, dass die Rätsel von Leben und Tod bei Gott geborgen sind.

(Luther hat das als Krise erlebt. Seine Lösung ist in die protestantische Theologie eingegangen als Lehre von Gesetz und Evangelium: der Mensch resigniert an den nicht erfüllbaren Forderungen des Gesetzes und verzweifelt. Er flieht zu Gott, der ihm im Evangelium Anteil an der von Gott gewirkten Versöhnung zusagt.)

 

Autonomie stösst auf Heteronomie. Der Mensch, wenn er in der Pubertät zum Bewusstsein seiner selbst kommt, findet sich in dieser Welt vor, er will Verantwortung übernehmen für sich, sein Leben und alles, was dieses ausmacht. Mit dem ersten Schritt, seine Autonomie wahrzunehmen, stösst er auf Widerstände und konkurrenzierende Bestimmungen.

Nach dem historischen Grossprojekt der Französischen Revolution war das Autonomie-Projekt in eine Krise geraten. Die Vernunft, eben noch gefeiert als Instrument der Erkenntnis und der freien Willensbestimmung, sah sich als stumpfe Waffe gegen Emotionen, ja, sie wurde verdächtigt, an der Entartung selber beteiligt gewesen zu sein. Die Romantik hat aber nicht einfach das Gefühl gefeiert und die Vernunft verdächtigt, sie hat auch gefragt, was das Verhalten des Menschen bestimmt, wie es zur Versöhnung kommen kann, was die Bedingungen sind für einen Ausgleich und eine Vermittlung der Gegensätze.

Die Autonomie musste auf sich selbst zurückwirken, Bedingungen schaffen, dass die Vernunft überhaupt zum Zuge kommt. Es mussten Institutionen geschaffen werden, die den Fluss der Handlungen anleiten, um die Ziele und Werte, welche Anerkennung fanden, in die empirische Wirklichkeit überzuführen.

Geist und Körper wirken hier zusammen, es braucht Institutionen der Sittlichkeit, die die Ideen der Moralität umkleiden und ihnen Kraft geben auf dem Feld der Handlungen. Dann, wenn Körper und Geist vermittelt sind, steht die Vernunft nicht mehr ohnmächtig vor ihren Zielen, die sie nicht zu verwirklichen weiss oder nur in einer Schreckgestalt, wo die ursprünglichen Ziele nur noch in einer verzerrten Fratze zu erkennen sind.

So entstanden neue Projekte der Vermittlung, die bei einzelnen ansetzten, bei der Erziehung, aber auch bei Reformen in Gesellschaft und Wirtschaft. Im Hintergrund stand noch lange die Erfahrung der Revolution und die Demut, mit all diesen Projekten nicht die Grossfragen des Daseins beantworten zu wollen: Leben und Tod, das war in Gott gesetzt. Für diese Generation wäre der Gedanke lachhaft gewesen, dass der Mensch, der sich irgendwann auf dieser Welt vorfindet, diese unter den Arm nehmen und in seine Verantwortung übernehmen könnte, als ob er sich geschaffen hätte, als ob er nicht selber ein spätes Produkt dieser Wirklichkeit wäre.

Die Zuspitzung der Gegensätze hatte allerdings wieder Ideologien aufgebracht, die das Absolute versprachen. Nicht im Glauben sollte es genossen werden, nicht in den Symbolen der Religion, sondern in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit. Es war alles dringlich geworden, man hatte zu viel versprochen. Es gab keine Zeit mehr, um auf eine „Endzeit“ zu warten, keine Geduld, um die symbolische Erfahrung über die Ermutigung, die im Gottesdienst erlebt wurde, in Handeln umzusetzen. So wurde das Absolute versprochen in empirischer Gestalt und das Absolute wandelte sich zum Totalitären.

 

Das Sollen kehrt zurück

 

Viele Menschen können heute mit dem Pflicht-Begriff, mit dem wir Älteren aufgewachsen sind, nichts mehr anfangen. Es geht nicht mehr in erster Linie um das Sollen, sondern um das Wollen. Das Problem ist aber nicht nur, dass wir nicht können wie wir sollen, sondern dass wir uns beim besten Willen verfehlen können.

Darum war ich fasziniert von dem „Erbsünden“-Gedanken, der das thematisiert. Es gibt „Verstrickungen“, so dass wir das Falsche tun, auch wenn wir das gar nicht wollen. Es gibt „objektive Sünde“ in den Strukturen des Charakters oder der ganzen Weltwirtschaft, so dass wir Profiteure werden von ungerechten Verhältnissen, ob wir wollen oder nicht. Und wir können auch nicht aussteigen. Wir tun im Moment nichts Falsches, tun etwas scheinbar Unschuldiges, wie eine Hose kaufen. Wir sind subjektiv unschuldig und durch dieselbe Tat objektiv schuldig.

 

Die Verbannung der Ethik aus der Politik…

Das Problem: „ich kann nicht wie ich soll“, stammt aus der Ethik. Da gibt es eine jahrhundertelange Debatte über die Willensfreiheit. In der Politik spricht man von „Willensbildung“. Dass diese sich unter ein „Sollen“ ducken soll, diese Vorstellung ist ein Relikt aus älteren historischen Phasen (als die Politik ein Teil der Ethik war).

In der Politik frage ich: Wie kriege ich eine Mehrheit für ein Vorhaben? Es geht um Willensbildung beim Erlass von Gesetzen, Verfassungsänderungen, Wahlen. Und wo das Parlament auch in Exekutiv-Fragen mitbestimmt, geht es um Strassenführung, den Bau von Schulhäusern und Turnhallen etc. Die Vorstellung ist fremd, dass der Souverän nicht könnte wie er wollte. Die Frage nach dem Sollen ist als historisch überholt verabschiedet. Die Frage, die die Ethik klären wollte: wie man zu intersubjektiv gültigen Normen gelangt, wird nicht mehr philosophisch beantwortet durch die Frage nach dem „Menschen“, was er brauche, was sein Glück oder seine Bestimmung sei, etc. Das riecht heute nach Kommunismus, Sozialismus, nach einer dieser Ideologien, die im 20. Jahrhundert so viele Millionen Tote gefordert hatten.

Diese Frage wird durch ein formalisiertes Verfahren ersetzt: Normen sind gültig, wenn sie rechtmässig und legitim zustande gekommen sind in einem rechtsstaatlichen Verfahren. So hatte jeder Gelegenheit, mitzuwirken. Jeder ist „Souverän“, weil er nur den Gesetzen gehorcht, die er selber erlassen hat. Er hat ja Wahl- und Mitbestimmungs-Rechte, so jedenfalls in der Theorie.

 

Die in gewissen Ländern massenhaft auftretende Staatsverdrossenheit, die Wahl-Abstinenz etc. zeigen aber, dass nicht jedes Wahlgesetz jedem eine selbe Chance gibt. Die formalen Regeln des Staatsrechts müssen sozial unterfüttert werden. Eine Demokratie nach dieser Façon ist überhaupt nur denkbar, wenn ein Mittelstand da ist, der über Bildung und Freizeit verfügt und im Arbeitsprozess nicht völlig ausgepowert wird.

 

Das alles fliesst zusammen in das Erfordernis einer „Öffentlichkeit“ als sozial-kulturellem Unterbau des Staates, wo Fragen formuliert, diskutiert und konterkariert werden, wo jede Erfahrung eine Chance hat, formuliert und eingebracht zu werden, so dass andere Menschen sich in ihr spiegeln können. So konstituieren sich „Themen“, so werden sie wahrgenommen und Gegenerfahrungen ausgesetzt, so bündeln sich Meinungen, so kanalisieren sich Interessen. So ist die Gesellschaft schliesslich bereit, das in die Politik einzugeben. Vielleicht trauen sie es einer bestehenden Partei zu, das aufzunehmen. Vielleicht entsteht eine Bewegung, die sich erst nach und nach zu einer Partei formt.

 

… und ihre Rückkehr

Der Vorfall von Fukushima bringt etwas Neues. 2011 bebte die Erde vor der Küste von Fukushima. Eine 23 Meter hohe Flutwelle zerstörte viele Häuser und die dort gebauten Kernkraftwerke. In der Folge kam es in drei von sechs Reaktorblöcken zu einer Kernschmelze.

 

„Grosse Mengen an radioaktivem Material – mehr als das Doppelte von Tschernobyl – wurden freigesetzt und kontaminierten Luft, Böden, Wasser und Nahrungsmittel in der land- und meerseitigen Umgebung. Ungefähr 100.000 bis 150.000 Einwohner mussten das Gebiet vorübergehend oder dauerhaft verlassen. Hunderttausende in landwirtschaftlichen Betrieben zurückgelassene Tiere verendeten…“ (Wikipedia)

 

Der Vorfall ist bis heute nicht unter Kontrolle.[3] Hier stösst die politische Willensbildung auf ihre Grenze: sie kann nicht wie sie will. Hier taucht auch die ethische Frage wieder auf, die man durch die Formalisierung (Legitimation durch Verfahren) so elegant entsorgt hatte: Politik, Parteien, NGOs und neue Bewegungen nahmen die Frage nach der Angemessenheit und Nützlichkeit wieder auf, nach den zumutbaren Risiken, nach den zerstörerischen Nebenfolgen (die die Kosten-Nutzen-Rechnung völlig über den Haufen werfen) und nach dem richtigen Entwicklungspfad dieser Zivilisation.

 

Ich kann nicht wie ich soll

Und jetzt taucht auch das Problem wieder auf: „Ich kann nicht, wie ich soll!“ und diesmal auf politischer Ebene. Plötzlich gibt es wieder eine politische Ethik, oder es sollte sie geben. Sie wird schmerzlich vermisst. Wo sind die Antworten auf diese Fragen?

 

Die etablierte Politik läuft ab wie gewohnt, die grossen Interessen dominieren. Sie haben den ganzen idealistischen Überbau aus der Zeit, als Europa sich aus den Fesseln eines Adelsstaates befreite und sich auf revolutionärem Weg Demokratie und Rechtsstaat erkämpfte, unterlaufen. Das ist nur noch Fassade, nicht ganz so schlimm wie in den afrikanischen Diktaturen, wo Korruption, Günstlings-Herrschaft und die Kollaboration einer einheimischen Führungsschicht mit internationalen Grosskonzernen bei der Ausbeutung des Landes und seiner Bodenschätze helfen, wo also diese Vorgänge mit den Uniformen einer fremden Verfassungskultur verbrämt sind. Als ob es unter solchen Verhältnissen echte Wahlen und Sachabstimmungen geben könnte. Das Beispiel, auf die Schweiz angewandt, überzeichnet, aber es macht die Richtung deutlich. Das ist nicht das total andere der europäischen Verfassungs-Wirklichkeit aber eine Verfallsform davon, die graduell auch hier zu beobachten ist.

 

Die Menschheit vor der Frage nach dem «Richtigen»

Jetzt entsteht auch in der Politik wieder die Frage, wie man das „Wollen“ zum „Sollen“ hinbewegen kann. Welcher Weg, welches Ziel als „richtig“ erkannt werden kann und wie man das anwendet und verwirklicht. Jetzt macht man die Entdeckung, dass man nicht immer kann, was man soll, und dass es Vorhaben gibt, die man als legitim und notwendig anerkennt – und trotzdem scheitert man daran. Man kann es nicht, beim besten Willen nicht.

Darum hat mich die Erbsünden-Tradition so fasziniert, weil sie genau diesen Sachverhalt diskutiert: Ich kann nicht wie ich soll und selber will. Ich will das Gute und tue das Schlechte. Ich kann mir selber zuschauen dabei. Ich tue etwas, was ich gar nicht will. Es gibt „Verstrickungen“, so dass wir das Falsche tun, auch wenn wir nicht wollen. Es gibt „objektive Sünde“. Das falsche Tun hat sich dort objektiviert, in Gewohnheiten und Institutionen niedergeschlagen. Es wohnt in den Strukturen des Charakters. Aber es ist nicht nur die Frage eines einzelnen Menschen, der sein Leben schlecht geführt hätte. Es betrifft die ganze Zivilisation, vielleicht die ganze Menschheit. Es hat sich niedergeschlagen in der ganzen Weltwirtschaft so dass wir Profiteure werden von ungerechten Verhältnissen, ob wir wollen oder nicht. Wir können auch nicht aussteigen.

Wir tun im Moment nichts Falsches, wir tun etwas scheinbar Unschuldiges, wie eine Hose kaufen. Aber dieser Kauf sendet Impulse über den ganzen Globus, die Hose macht eine Reise über viele Kontinente. Da wird der Stoff gewoben, dort die Baumwolle angepflanzt. Dort wird sie gefärbt, dort geschnitten und zusammengenäht, dort erhält sie das Design, dort wird sie vermarktet. Kürzlich ist eine Fabrik abgebrannt, wo Textilarbeiterinnen fast wie Sklavinnen arbeiteten, unter Bedingungen, die die Fabrik- und Gesundheits-Gesetze in den Abnehmerländern schon im 19. JH verboten haben. Die Struktur verbiegt unseren Willen, „uno actu“ sind wir „subjektiv unschuldig“ und „objektiv schuldig“.

„Die Sünde Adams“ – so konnte man früher sagen, wenn man das Gute wollte, aber das Schlechte bewirkte. Schon der Stammvater des Menschengeschlechts hat uns auf einen falschen Pfad gebracht. „Der Mensch ist wie ein verbogener Pfeilbogen“, klagt Gott bei einem Propheten im Alten Testament. Man kann noch so genau mit ihm zielen, man trifft nicht ins Schwarze. (Hosea 7,16)

 

Wiederholungs-Zwang

Wir sind nicht nur Einzelmenschen, sondern Teil unserer Gattung, so hört man das Argument heute. Schon in der Urzeit der Menschwerdung wurde ein Schalter umgelegt, sodass wir seither auf einem Entwicklungsweg laufen, der in die Irre führt.

Dieser Gedanke ist heute wieder vertraut, da die Oeko-Bewegung nicht nur einzelne Projekte anprangert, wie Einkaufszentren am Stadtrand, oder Technologien, wie die Kernkraft, oder Folgen der Globalisierung, wie das Leerfischen der Meere. Sie setzt mit ihrer Kritik viel früher an und kritisiert den Entwicklungsweg dieser Zivilisation, die sich gegen die Natur wendet und darum die Konflikte mit der Umwelt schon in ihren Genen trägt. Darum muss jede einzelne Tat diese „Ursünde“ wiederholen, weil Zivilisation auf diesem Weg gar nicht anders konzipiert werden kann.

Der Erbsünde-Gedanken ist heute also verbreitet, wenn die Tradition auch nicht mehr bekannt ist. Bringt es etwas, diese Tradition wieder aufzuhellen? Können Religion und Ethik hier einen Beitrag leisten? Schon zur Zeit Kierkegaards war die Zeit dieser Debatte vorbei. Er hat sie als Unzeitiger wieder aufgenommen. Er war interessiert am Zwang, der sich mitten in der Freiheit erhebt und wollte ergründen, wie es dazu kommt. Er fand Angst. Und so hat er den Gedanken rekonstruiert.

Es ist die Angst, die uns vor dem Richtigen zurückschrecken lässt. (Ich versuche, es in eigenen Worten wiederzugeben.) Sie verkörpert sich schon bald in Strukturen, so dass sie uns wie von aussen begegnet und wir sie gar nicht mehr als „unsere Angst“ erkennen. Seit frühester Kindheit üben wir uns in Angst-Abwehr. Das wird verankert in reaktiven Mechanismen des Verhaltens. Taucht ein Reiz auf, der uns an eine starke Verletzung erinnert, so wird das Entscheidungs-Verhalten aus- und das reaktive Verhalten ein-geschaltet.

Das Tun, das wir tun, ist nicht mehr unser Tun und es ist es doch: Denn wir haben es getan, es ist unsere Handlung und die Folgen müssen wir uns zurechnen. Aber es ist nicht das, was wir vor Augen hatten, was wir tun wollten. Oft genug ist es das Gegenteil davon. So stossen wir die Menschen ab, auf die wir zugehen wollten, etc.

Wir ängstigen uns bald vor unserer eigenen Angst und was sie zustande bringt. Wir misstrauen unserem Charakter. Eine Zeitlang versuchen wir, auf diesen einzuwirken. Er zeigt sich ziemlich resistent gegen Einsichten, Aha-Erlebnisse, Therapien. Auch die «neuen Erfahrungen», von denen wir viel erwarten: dass sie die Angst falsifizieren könnten, dass sie uns zum Vertrauen befähigen sollten, weil wir erfahren, dass das befürchtete Schlimme nicht eintritt – auch diese Wege der Selbst-Vervollkommnung haben ihre Grenze, und sei es nur die begrenzte Lebenszeit, die keine endlosen Verbesserungs-Schlaufen zulässt. Irgendwann ist das Leben gelebt. Und das war es dann. Und es wird nur noch schlimmer. Wenn ein gehemmtes Kind noch als „schüchtern“ angesprochen wird, im Alter ist es ein „sturer Bock“. Ist der Junge noch „scheu“, so wird seine Zurückhaltung später als „Arroganz“ begriffen. Und man gibt ihm die Antwort, die ein solcher Kerl verdient.

 

Freiheit

Kierkegaard war interessiert an Freiheit. Er wollte den Zwang aufheben. Denke ich mich als Nachfolger von Adam, so überwiegt das „Erbe“ im Begriffspaar Erb-Sünde. Ich bin bedingt in meinem Tun und unfrei. Dafür trage ich auch keine Verantwortung, da ich ja aus Zwang in diese Lage kam. Denke ich mich „gleichzeitig“ mit Adam, wird der Mythos also aufgehoben, dass durch den ersten Menschen ein Defekt ins Handeln-Können all seiner Nachfolger kam, dann bin ich frei. Ich muss dann aber auch die volle Verantwortung für mein Tun übernehmen. Jetzt überwiegt die „Sünde“ im Begriffspaar Erb-Sünde.

 

Die Menschheitsgeschichte könnte auch einen anderen Verlauf nehmen. Tut sie das? Kann der Begriff Angst etwas beitragen zur Aufhellung der heutigen Verstrickungs-Erlebnisse? Können wir, wenn wir die Angst um unser Fortkommen ablegen, diese Weltwirtschaft verändern? Können wir andern eine Chance geben? Vielleicht schon bei der nächsten Verhandlungsrunde im internationalen Handel?

 

Aus Notizen 2014

 

 

Katastrophenerfahrungen in der Bibel

Die Aufklärung hat die Menschen im 18. JH mit ihren Projekten begeistert, ihr Umschlag in die Schrecken der Revolutionszeit hat die Hoffnung traumatisiert. Immer wieder finden sich solche Umschlags-Phänomene nach historischen Gross-Ereignissen. Auch die Bibel erzählt von grossen Ereignissen. Zwei Katastrophen stehen in der Mitte des ersten und zweiten Testamentes. Sie prägen die Auffassung davon, was Wirklichkeit sei und wie die Hoffnungen der Menschen darin zur Geltung kommen. Psalm 89 bringt die Frage im Gebet vor Gott.

 

Die Katastrophe des Exils

In der Frühe, im Dunkeln vor dem Tag, höre ich Psalmen. Heute Psalm 89.

«Ich will singen von der Gnade des Herrn ewiglich und seine Treue verkünden mit meinem Munde…»

 

Das klingt nach einem ruhigen Psalm, der Gott lobt. Aber die Erfahrung lässt aufhorchen. Hier wird das Thema angegeben: Gnade, und das heisst wohl auch, sie wird problematisiert.

»Ich habe einen Bund geschlossen mit meinem Auserwählten, ich habe David, meinem Knechte, geschworen: Ich will deinem Geschlecht festen Grund geben auf ewig…»

 

Die Verheissung

Das ist die Davidsverheissung, eine der vielen Zusagen, die das Volk in seiner Geschichte erhalten hat und auf die es sich im Gebet beruft: Volksverheissung, Landverheissung, Davids-Verheissung, Bundes-Schluss…

«Wenn aber seine Söhne mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, wenn sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden und meine Treue nicht brechen.»

Die Könige auf dem Davids-Thron werden erwähnt, die vom Bund abgewichen sind und bestraft wurden, die Königsbücher berichten davon. So ist das Nordreich untergegangen. Aber die Herrschaft in der Davids-Stadt besteht weiter.

«Ich will meinen Bund nicht entheiligen und nicht ändern, was aus meinem Munde gegangen ist. Eines habe ich geschworen bei meiner Heiligkeit und will David nicht belügen: »Sein Geschlecht soll ewig bestehen und sein Thron vor mir wie die Sonne…»

Über viele Zeilen geht es weiter, das Gotteslob. Am frühen Morgen bin ich darüber eingeschlafen. Aber plötzlich war ich hellwach:

«Aber nun hast du verstossen und verworfen und zürnst mit deinem Gesalbten!»

Also doch! Die Gnade, die auf ewig geschworen wurde, scheint vorbei. Der Bund, der nie brechen sollte, scheint aufgehoben.

«Du hast zerbrochen den Bund mit deinem Knecht und seine Krone entweiht in den Staub.»

Der Psalm ist ein grosses Nachdenken nach der Katastrophe des Südreichs, als auch Juda zerstört wurde und seine Bewohner ins Exil geführt.

«Du hast eingerissen alle seine Mauern und hast zerstört seine Festungen. (…) Du hast seinem Glanz ein Ende gemacht und seinen Thron zu Boden geworfen. Du hast die Tage seiner Jugend verkürzt und ihn bedeckt mit Schande. Wie lange, Herr, willst du dich verbergen und deinen Grimm wie Feuer brennen lassen? (…) Herr, wo ist deine Gnade von einst, die du David geschworen hast in deiner Treue?»

Da ist sie jetzt, die Gnade, die der erste Vers anstimmt und die der Betende besingen will. Aber alles, was er erlebt, was dem Volk widerfährt, läuft auf das Gegenteil hinaus. Jerusalem fällt, der Tempel wird zerstört, auch das Südreich Juda geht unter. Eine Wirklichkeit im Gegensatz zu allen Verheissungen! Die Geschichte scheint kein Ort mehr, die die Verheissung fassen kann, diese Wirklichkeit kein Ort, wo es eingelöst werden kann.

«Wo sind, o Herr, deine früheren Gnadenerweise, die du dem David in deiner Treue zugeschworen hast? Gedenke, o Herr, an die Schmach, die deinen Knechten angetan wird, die ich in meinem Gewand trage von all den vielen Völkern, mit der deine Feinde dich, Herr, schmähen, mit der sie schmähen die Fussstapfen deines Gesalbten! Gepriesen sei der Herr ewiglich! Amen, ja, Amen!»

 

Der Riss in der Wirklichkeit …

Es geht ein Riss durch die Wirklichkeit, wie der Beter sie erfährt. Die geschichtliche Erfahrung und das Vertrauen auf Gott, fallen auseinander. Und sie lassen sich nicht mehr wie in den Königsbüchern vermitteln durch das Konzept von Abfallen von Gott und Strafe. Die tiefsten Verheissungen, die tiefsten Erfahrungen von Geborgenheit in der Welt sind erschüttert.

Gott scheint seine Treue aufgehoben zu haben, seine Schwüre vergessen. Das schien so fest wie die Berge, so zuverlässig, wie die Sonne aufgeht. «Ich will ihm seinen Thron erhalten, solange der Himmel währt.» Die Davids-Verheissung scheint gebrochen. Trotzdem lobt der Betende Gott. Er muss die Erfahrung festhalten. Und er will die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt.

Die Wirklichkeit, wie er sie erfährt, kann er nicht belügen. Dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, ein Lebensrecht für alle Menschen, das ist eine Intuition, ohne die er auch nicht leben kann. So endet der ganze lange Psalm, die bittere Erforschung der Geschichte, der heiligen Überlieferungen, der Hoffnungen, die von einer Generation auf die andere übertagen wurden, nicht in Anklage, nicht in Selbstverfluchung, sie endet in einem Lob Gottes. «Gepriesen sei der Herr ewiglich! So sei es, ja so sei es!»

 

… und seine Vermittlung

Er muss die Erfahrung festhalten. Und er muss die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt. Beides braucht es zum Leben. Die Lösung ist ein kontrafaktisches Festhalten an den Verheissungen – noch ist das Ende der Geschichte nicht da, dass sie sich nicht doch als wahr erweisen könnten! Es ist – gegen alle schreckliche Erfahrung – ein Vertrauen in einen Daseinsgrund, der sich jetzt zwar schrecklich zeigt, weil alles, worauf man hoffte, wovon man lebte, verloren ist. Aber Gott ist da, auch wenn er nicht zu sehen ist, er ist gegenwärtig, auch wenn man nichts von ihm fühlt, er trägt alles und er wird auch unser Leben wieder tragen, wenn wir nur das Vertrauen nicht fahren lassen. – Und ich brauche ihn jetzt!

 

Die Katastrophe der Kreuzigung

Es ist ein Vertrauen, das kontrafaktisch gefunden wird, ohne Anhalt an der sinnlichen Erfahrung. Es ist ein Glaube, wie er am Karfreitag unter dem Kreuz gefunden wird. Da ist alles, was Menschen vermögen, am Ende. Aber unter dem Kreuz, wenn Gewalt und Unrecht sich ausgetobt haben, in der Stille, wenn das Tun des Menschen verhallt, ist das andere spürbar: das, was allem Leben vorausgeht, was es trägt, was es möglich macht, früher und auch in Zukunft. Und es ist auch jetzt da, man muss nur hindurchsehen durch den Schleier der schlechten Erfahrung, man muss nur auf Gott sehen, der alles trägt und dem wir unser Leben anvertrauen, was immer auch wird, denn bei ihm sind wir aufgehoben über alles hinaus, was die Welt geben oder absprechen kann.

 

Traumatisierung und Vermittlung

Der Versuch, ein eigenständiges und eigenstaatliches Leben zu führen, wird wieder und wieder enttäuscht. Jetzt scheint er den letzten Schlag erhalten zu haben. Das Freiheitsstreben wird traumatisiert.

Was es sich ersehnt, was es an Hindernissen erfährt, das wird vermittelt im Glauben an Gott. Das geschieht kontrafaktisch, gegen alle Erfahrung. Führer ist die Intuition, dass es letztlich zusammenstimmt: das Sehnen und Erreichen, das Aufstehen und Ankommen, das Wollen und Vollbringen, die Werte und die Welt, wie sie sich darstellt.

Letztlich wird die Welt sein, wie sie von Gott gedacht ist.[4] Sein und Sollen sind versöhnt, was die Bibel mythologisch ausdrückt in den zwei Bäumen von Erkenntnis und ewigem Leben. Seit Adam hat der Mensch nur vom einen Baum gegessen, er weiss, was er soll. Aber dank der Erlösung in Jesus Christus, nach christlichem Glauben, hat er Zugang zum andern Baum. Der steht in dem andern Garten am Ende der Geschichte, da sind Früchte des ewigen Lebens. Und wenn der Mensch davon isst, kann er was er soll.

Was ihn hinderte, das ist im ersten Testament beschrieben worden als «Hartnäckigkeit» [5] in einer Erfahrungsgeschichte, die zunehmend skeptisch beurteilte, dass der Mensch erfüllen kann, was er soll. Paulus sprach vom Widerspruch von Geist und Fleisch. In der Taufe haben wir schon Anteil an der neuen Welt. Doch leben wir noch in der sinnlichen Welt, wo das Fleisch dem Geist widerstrebt. So hindern wir uns selbst. Und wir können uns selber zuschauen, wie wir tun, was wir nicht wollen, und was wir sollen, lassen wir.

 

Erbsünde und Endversöhnung

Augustinus hat das im Konzept der «Erbsünde» formuliert. So ist es vielleicht verständlich, hinter dem Konzept der Erbsünde diese Erfahrungsgeschichte zu sehen: wie Menschen wollen und nicht können; wie ganze Völker aufbrechen, und Gott scheint mit ihnen, aber sie kommen nicht ans Ziel; wie Menschen beten und auf Gott vertrauen, aber sie verstossen selber gegen das, was sie erbeten. Die «Erbsünde» sagt nicht einfach die Unmöglichkeit aus. Das ist nur eine Erfahrung, die sie aufnimmt. Sie hält aber auch an der Intuition fest, dass es gelingen soll, dass Welt und Werte nicht immer unversöhnlich auseinanderfallen. Um es mit biblischen Bildern zu sagen: Am Ende wird Gott alle Tränen abwischen. Er tröstet die Traurigen, ermutigt die Verzweifelten, richtet die Gedemütigten auf. Er macht das Krumme gerade und bringt alle Verlorenen zurück.

 

 

Rückblick

Ende oder Transformation

Das Konzept der „Erbsünde“ hat den Charme einer uralten Debatte. Das allein reicht nicht, um sie wieder hervorzuholen. Aber wir haben einen neuen Zugang zu den alten Debatten. Sie werden verständlich gerade heute, angesichts der Engpässe der zivilisatorischen und globalen Entwicklung.

Das Konzept der Erbsünde kann beschreiben, wie man „unschuldig schuldig“ wird und dass es auch „objektive Schuld“ geben kann (obwohl „Schuld“ und „Sünde“ ursprünglich subjektive Kriterien sind, eine Frage der persönlichen moralischen Entscheidung). Es gibt Verstrickungen, die das Handeln-Können so lähmen und vorbestimmen, dass es notwendig in die falsche Richtung läuft und kein individuelles Aussteigen mehr möglich ist.

Endet diese Dynamik erst, wenn die Verstrickung als Ganzes ausläuft, wenn der gordische Knoten einer falschen Entwicklung zerhauen wird? Ist keine Transformation des Systems denkbar? Und wenn doch, wann könnte diese wirksam werden? Reicht die Zeit?

 

Richtig leben im falschen

Bereits heute brauchen wir eine Antwort. Wir müssen auch „im Falschen“ leben können, so lang es dauert. Wir sind misstrauisch gegen alle Versprechungen vom „Wahren“, nachdem diese der westlichen Welt totalitäre Systeme beschert haben (und nicht nur der westlichen Welt, diese hat auf den ganzen Globus ausgegriffen, weshalb Gegenkonzepte sich heute so oft gegen den „Westen“ richten).

Die kulturelle Antwort ist ein „softer“ Weg, er kostet nicht viele Ressourcen, kann aber gewaltige Kräfte entfalten. V.a. kann er die Lücke schliessen, die der heutige zivilisatorische Weg gerissen hat, wodurch er immer mehr von den sozial-kulturellen Grundlagen zerstört, von denen er lebt. So kann er kein Vertrauen erzeugen, obwohl das Wirtschaftsleben elementar davon abhängt. Es müssen nur die Sparer in Griechenland ihre Banken stürmen (weil sie kein Vertrauen mehr in sie haben), so geraten diese in Bankrott und die Wirtschaftskrise wird zur Eurokrise. Die sozialen und politischen Begleiterscheinungen dieser ökonomischen Krisen hat Europa und die Welt in den letzten Jahren erlebt.

Kredit kommt von credere, glauben, vertrauen. Es ist eine der wichtigsten moralisch-religiösen Ressourcen der Gesellschaft in ihrer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Existenz. Es betrifft nicht nur die Wirtschaft. Auch den Vertrauensverlust der Bevölkerung in ihre Eliten und Institutionen haben wir erlebt. Die Folgen sind Staatsverdrossenheit, Wahlabstinenz oder die Wahl von Jux- und Protestparteien. Wir sehen die Zersplitterung der Parlamente, die in Geiselhaft von extremen Kleinstparteien geraten, Bürgerwehren, Selbstorganisation in mafiösen Gruppen, Abspaltungstendenzen, „gated communities“, zerfallende Staaten.

 

Der Mensch und Gott

So habe ich das Konzept der Erbsünde kennengelernt von den Engpässen der ethischen Diskussion her. Es erscheint auch im Kontext der Theodizee-Debatte. Woher kommt das Leid, das Unheil, wenn Gott gut und allmächtig und vollkommen ist? Wenn die Spaltungen nicht mehr zu überwinden sind, wenn die Grenzen sich nicht mehr vermitteln lassen, wenn das Unheil nicht integriert werden kann, kommt es oft zur Aufspaltung Gottes (in Teufel, Mächte etc.). Eine Alternative dazu ist die „Erbsünde“. Der Mensch bringt den Umschlag von Freiheit in Unfreiheit und damit die Verstrickung.

 

Vermittlung und Versöhnung

Ich habe das Konzept der Erbsünde kennen und schätzen gelernt von den Engpässen der Autonomie her. Die Erbsünde lässt das Ineinander von Schuld und Unschuld begreifen: wie Freiheit in Zwang umschlägt, so dass man handelt, wie man nicht will, und nicht handelt, wie man will. Und man wird „beim besten Willen schuldig“, weil das Handeln sich in Institutionen und Gewohnheiten objektiviert und auf das Handeln zurückschlägt.

 

Das gilt für das Individuum in den Prägungen seines Charakters, in dem frühe Entscheidungen weiterleben und das zukünftige Leben bestimmen, weil die frühen Prägungen nur schwer zu verändern sind. Das gilt für die ganze Zivilisation, für den Entwicklungspfad, den die Menschheit genommen hat. Sie greift intensiv in die natürlichen Lebensgrundlagen ein und entfaltet sich extensiv über den Globus. Es ist ein Weg der technisch-instrumentellen Gestaltung aller Lebensbedingungen. Es ist ein Integrations-Weg, der alles erfasst und erfassen muss, obwohl dieser Weg zur Universalisierung mittels technischer Zivilisation an sich selber fast zerreisst, weil er immer neue ökologische und soziale Disparitäten erzeugt.

 

So entsteht die Frage nach einer anderen Form von Universalisierung, wie die „Ganzheit“ des Menschen gedacht, erfahren und gelebt werden kann. Gesucht ist ein Weg, der unterscheiden kann zwischen verschiedenen Formen der Vermittlung. Es gibt Grenzen, die man technologisch aufheben oder hinausschieben kann (beim Individuum z.B. durch medizinische Behandlung), es gibt Grenzen, die man akzeptieren muss (beim Individuum. z.B. den Tod) und wo eine kulturelle Antwort nötig ist: sich verstehen lernen aus einer nicht hergestellten „Ganzheit“ und diese symbolisch repräsentieren in Form von Gott, Glaube und Hoffnung. Das ist der Weg der vormodernen Kulturen, sie stellen einen Traditionsschatz bereit von Hilfsmitteln der religiösen Existenz: Gebet, Vergemeinschaftung im Glauben und diakonische Hilfe etc.

 

Verantworten und Vertrauen

Der letzte Abschnitt weckt vielleicht das Missverständnis, als ob man Bereiche abtrennen könnte, wo entweder die Ethik oder der Glaube zuständig wäre. Als Lebensvollzug können Vertrauen und Verantworten aber nicht auf bestimmte Provinzen des Daseins begrenzt werden. Vertrauen will immer vertrauen, verantworten immer verantworten.

Das Verhältnis besteht nicht darin, dass Glaube dort anfängt, wo Ethik aufhört. Wer glaubt, gibt nicht nur Tod und Leben in Gottes Hand, er übergibt im Gebet alles Gott und erhält es von ihm zur Gestaltung zurück. Aber er weiss sich jetzt aufgehoben in einem Ganzen, das er nicht herstellen muss (das würde ihn überfordern), wo ihm aber eine Aufgabe zukommt. Diese ist menschgemäss, er muss nicht an die Stelle Gottes treten und die Daseinsbedingungen verantworten wollen.

Verantworten, Ethik, endet in Überforderung und Resignation, wo die ersten Bedingungen des Daseins nicht ins Vertrauen gesetzt werden können. Und ein Vertrauen, das keine Folgen im Handeln hat, stirbt ab. So bedingen sich Vertrauen und Verantworten, Ethik und Glaube, gegenseitig. Man könnte es in die Maxime fassen: Handle, als ob es nur von dir abhinge, und vertraue dabei, als ob es nur von Gott abhinge.

 

Zum Schluss

Erbsünde und Freiheit? Das scheint wie die Faust aufs Auge. Beschreibt die Erbsünde nicht die «völlige Verderbnis der menschlichen Natur»? Wo Freiheit verneint wird, ist sie oft verborgen, in einer entstellten Gestalt, in Form von enttäuschten Hoffnungen, als Nachdenken, woher die Unfreiheit denn stammt und wie sie zu heilen wäre. Erbsünde, das die Vermutung dieser Texte, ist die Suche nach Freiheit unter der Bedingung von gegenteiligen Erfahrungen.

So wird das Dogma der «Erbsünde» heute kaum noch diskutiert, die Frage ist aber aktuell, wie Freiheit möglich sein soll in einer Welt, wo menschliches Handeln mehr und mehr auf sich selbst zurückschlägt, wo die vergangenen Taten, die aus Freiheit entsprangen, wie Naturzwang zurückkehren und den Menschen gängeln und Alternativen abschneiden. In der Klimakrise ist das ein allgemeines Lebensgefühl geworden.

 

Die Frage nach dem rechten Leben

Wie Handeln möglich sei, was ein gutes, richtiges Leben sei, diese Frage begegnet in den ältesten Kulturen. Es ist eine zentrale Frage der heiligen Bücher. In antiken Mythen wird die Ursprungswelt als gut dargestellt, die Uebel werden dem Menschen angelastet. Die Sintflut-Erzählung, wonach Gott die Welt wegen ihrer Verderbtheit untergehen lässt, findet sich in verschiedenen Kulturen. In der Bibel wird der Mythos vom Sündenfall vorangestellt, die Erzählung, wie es Gott «reute», dass er die Welt geschaffen hatte [6] und wie er mit Noah einen neuen Anfang machte.

Die folgenden Bücher der Bibel berichten von der Geschichte des Volkes, von dem Weg, von den Hoffnungen und Rückschlägen. Immer wieder mischt sich die Reflexion der Propheten in die Berichte. Woran liegt es, wenn ein Vorhaben gelingt oder misslingt, wenn Fortschritte oder Rückschläge erfolgen?

In der Bibel, die Stimmen aus vielen Jahrhunderten vereint, wird die Frage zunehmend skeptisch beurteilt. Beim Propheten Hosea beklagt sich Gott über den Menschen, er sei wie ein verzogener Bogen. Man treffe damit nicht ins Ziel, auch wenn man noch so genau ziele. [7] Im ersten Testament lässt sich über die vielen Jahrhunderte seiner Entstehung eine «Schuldvertiefung» beobachten. Wird am Anfang ein Tun geboten, im Sinn einer Lebensregel, wächst bald die Einsicht: der Mensch kann nicht, wie er soll. Der Pfeilbogen ist verzogen.

Die Gebote werden jetzt negativ formuliert: «Du sollst nicht…!» heisst es im Dekalog, der diese Erfahrung in einer für Jahrhunderte geschichtswirksamen Form festhielt. [8] Etwas nicht zu tun, das kann man gebieten, das steht dem Willen frei. Aber etwas zu tun, das kann man nicht einfach anordnen. Die Bedingungen stehen dem einzelnen nicht immer zu Gebot. Eine autoritative Festlegung würde den einzelnen in tausend Konflikte und Versagens-Ängste stürzen und eine Psyche heranbilden ohne Vertrauen auf Autonomie und Selbstwirksamkeit.

Die christliche Lehre nimmt mit dem ersten Testament die Erfahrung der Schuldvertiefung auf: der Mensch kann nicht wie er soll. Neben die Ethik tritt die Verheissung einer Erlösung. Schon das erste Testament sprach von einer «neuen Schöpfung», wo Gott dem Menschen «die Gebote ins Herz schreibt», damit er kann, wie er soll.

Aber steht dem Menschen die Welt nicht offen? Ist sie nicht eine Bühne für sein Tun? Die Welt der Bibel und die Antike haben gleichermassen Erfahrungen gemacht, die den Glauben ans Wirken und Handeln erschüttert und den Sinn für Freiheit traumatisiert haben. Israel wurde durch seine Lage im «fruchtbaren Halbmond» immer wieder von benachbarten Grossmächten überrollt. Das salomonische Reich zerfiel, die Nachfolgestaaten im Norden und Süden, Israel und Juda, wurden zerstört, die Bevölkerung ins Exil getrieben. Das römische Reich, das erst wie ein Erbe aller vorangehenden Grossreiche auftrat und alle Territorien in sein Reich aufnahm, zerfiel in der Spätantike. Das Echo, das dieser unerhörte Vorgang auslöste, ist auch bei Augustinus zu sehen, der sein optimistisches Weltbild revidierte. Der Kirchenvater Hieronymus fragte: «Wenn Rom zerfällt, wer kann da noch sicher sein?»

 

Die Moderne hat ähnliche Erfahrungen gemacht, in denen das Freiheitsstreben erschüttert und traumatisiert wurde: die Aufklärung war das Freiheitsprojekt der Moderne und die Französische Revolution der erste Versuch, dieses in die Praxis umzusetzen. Viele Menschen in ganz Europa blickten hoffnungsvoll auf dieses Experiment. Umso grösser war die Erschütterung, als die Revolution in Terror umschlug und das Wechselbad der Staatsformen, die sich in rascher Folge ablösten, erst in der Diktatur eines «Empereurs» zu einer gewissen Ruhe fand. Er bezog die Schlösser des gestürzten Adels und übertraf die Monarchie mit seinem «Empire», das er über ganz Europa ausbreitete. Um seine Herrschaft zu stabilisieren, war er auf militärische Erfolge angewiesen. So übertrug sich nicht nur die Unruhe der Revolution auf das übrige Europa, sondern auch der Lärm von gewonnen und verlorenen Schlachten. Und das Militär wurde zu einem Garanten innerer Herrschaft gegenüber weitergehenden revolutionären Bestrebungen. [9]

Damit war nicht nur die erhoffte Freiheit in ein neues Untertanenverhältnis umgeschlagen, die Vernunft, der man zugetraut hatte, die menschlichen Verhältnisse rational zu regeln, hatte in Terror und Bürgerkrieg eine unbekannte Fratze gezeigt und Gräuel von Gewalt, Revanche und Sadismus zutage gebracht. Freiheit war in Unfreiheit umgeschlagen.

Eine ähnliche Erfahrung machen die Menschen heute im Klimawandel, wo das Tun des Menschen auf sich selbst zurückwirkt, wo die Freiheit als Naturzwang zurückkehrt. So gibt es vielleicht ein Interesse an dem alten Thema «Erbsünde», das nicht nur ein Unding aus der christlichen Sündenlehre ist, mit dem niemand zu tun haben will.

 

Eine Freiheitsgeschichte

In der «Erbsünde» steckt die menschliche Freiheitsgeschichte, die Hoffnung, die damit verbunden war. Darin stecken aber auch die Enttäuschungen und – schlimmer noch – die Traumatisierungen, wenn schmerzlich ersehnte Freiheitsprojekte in Zwang umschlugen, wenn Menschen malträtiert und beiseitegeschafft wurden. Darin steckt das Erschrecken, die Angst des Menschen vor sich selbst, wenn die Vernunft ein dunkles Gesicht zeigte: den Gewaltcharakter, den sie annimmt, wenn Dinge und Menschen sich nicht fügen, wenn sie sich widerständig zeigen. Es ist nicht nur die «Bosheit», die sich im Widerstand zeigt. Der Pfeilbogen ist verzogen. Der Mensch kann nicht einfach, wie er soll.

Im Konzept der «Erbsünde» steckt ein jahrtausendealtes Nachdenken über menschliches Handeln und wie es gelingen kann, trotz aller Widerstände, die von aussen kommen, die aber auch aus dem Menschen selber stammen. So versucht die «Erbsünde», die Freiheit zu retten, indem sie diese mit dem Gegenteil vermittelt, der absoluten Abhängigkeit im Vertrauen auf die Güter des Lebens und die Bedingungen des Daseins, die dem menschlichen Tun vorausliegen. Vertrauen wird so zu einer Kraft, es ist keine leere Formel. Es begrenzt die Autonomie nicht, sondern macht sie möglich, auch dort, wo diese an einer absoluten Grenze ansteht.

 

Befreiung

Im Glauben sind auch Tod und Leben keine letzten Hindernisse, sie sind aufgehoben bei Gott in einem Symbol, wo Sein und Sollen zusammenfinden. «Glauben» als religiöse Praxis ist ein aktives Vertrauen auf das Zusammenstimmen der Gegensätze, auch in den Erfahrungen, die einen Riss durch die Welt zu treiben scheinen. Es ermutigt das Tun, ermöglicht Verantwortung, trägt die Intuition eines autonomen Lebens. Es verhindert dieses nicht, sondern ermöglich es und befreit es aus seinen lähmenden Gegenerfahrungen.

 

Anhang

Erbsünde in einem reformierten Bekenntnistext

Um die optimistische oder pessimistische Beurteilung der Welt und des Menschen wurden auch in der Kirche seit der Antike weltanschauliche Kämpfe ausgefochten. Ist dem Menschen von der Schöpfung her noch eine Freiheit des Willens geblieben oder ist diese völlig korrumpier? Kann er das Heil nur durch Gnade und Erlösung erlangen oder gibt es eine gewisse Mitwirkung daran? Der reformatorischen Lösung «sola fide, sola gratia» wurde verdächtigt, den Ernst der ethischen Forderung zu untergraben.

Im Streit um das richtige Verständnis des christlichen Glaubens wurde dieser oft in Bekenntnistexten ausformuliert. Grosse Verbreitung in reformierten Kirchen fand der Heidelberger Katechismus, der 1563 in Heidelberg gedruckt wurde. Hier finden sich (in Frage und Antwort) eindrückliche Texte zur Erbsünde:

 

Der erste Teil
Von des Menschen Elend
Woher erkennst du dein Elend?
Aus dem Gesetz Gottes.

Was fordert denn Gottes Gesetz von uns?
Dies lehrt uns Christus mit folgenden Worten:

 

»Du sollst den HERRN, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen,
von ganzer Seele
und von ganzem Gemüt.
Dies ist das höchste und größte Gebot.
Das andere aber ist dem gleich:
Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst.
In diesen beiden Geboten
hängt das ganze Gesetz und die Propheten.«

 

Kannst du das alles vollkommen halten?
Nein, denn ich bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen.

 

Hat denn Gott den Menschen so böse und verkehrt erschaffen?
Nein. Gott hat den Menschen gut und nach seinem Ebenbild erschaffen, das bedeutet: wahrhaft gerecht und heilig, damit er Gott, seinen Schöpfer, recht erkenne, von Herzen liebe und in ewiger Seligkeit mit ihm lebe, ihn zu loben und zu preisen.

 

Woher kommt denn diese böse und verkehrte Art des Menschen?
Aus dem Fall und Ungehorsam unserer ersten Eltern Adam und Eva im Paradies.
Da ist unsere Natur so vergiftet worden, dass wir alle von Anfang an Sünder sind.

 

Sind wir aber so böse und verkehrt, dass wir ganz und gar unfähig sind zu irgendeinem Guten und geneigt zu allem Bösen?
Ja, es sei denn, dass wir durch den Geist Gottes wiedergeboren werden.

 

Tut denn Gott dem Menschen nicht Unrecht, wenn er in seinem Gesetz etwas fordert, was der Mensch nicht tun kann?
Nein, sondern Gott hat den Menschen so erschaffen, dass er es tun konnte. Der Mensch aber, vom Teufel angestiftet, hat sich und alle seine Nachkommen durch mutwilligen Ungehorsam der Gabe Gottes beraubt.

 

Will Gott diesen Ungehorsam ungestraft lassen?
Nein, sondern er zürnt schrecklich über die sündige Art des Menschen und seine sündigen Taten. Beides will er nach seinem gerechten Urteil schon jetzt und ewig strafen, wie er gesprochen hat:

 

»Verflucht sei jeder,
der nicht bleibt bei alledem,
was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes,
dass er’s tue!«

 

Ist denn Gott nicht auch barmherzig?
Gott ist wohl barmherzig, er ist aber auch gerecht. Deshalb fordert seine Gerechtigkeit, dass die Sünde, die Gottes Ehre und Hoheit antastet, mit der höchsten, nämlich der ewigen Strafe an Leib und Seele gestraft wird.

Quelle: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/heidelberger_katechismus.pdf

 

 

 

 

 

Erbsünde? Das scheint eine alte Debatte, aber die Symptome,
wie sich das anfühlt, das wird heute weit geteilt.
Das ist das Lebensgefühl in der Klimakrise,
wo menschliches Handeln sich vom Willen des Menschen emanzipiert und auf ihn zurückschlägt.

 

Es ist ein fremdes Werk, er kann sich darin nicht
wiedererkennen. Was als Freiheit begann,
die Geschichte der menschlichen Zivilisation,
schlägt in Naturzwang um und begegnet uns
in Form von Überschwemmungen, von Dürren,
von Stürmen und Tornados, die in wenigen Minuten
ganze Häuserzeilen ausradieren.

 

 

Peter Winiger, Grampenweg 33, CH-8180 Bülach – info@vongotterzaehlen.ch
www.vongotterzaehlen.ch

 

[1] Die Erzählung von «Dorian Gray» gibt eine moderne Ausgestaltung dieser religiösen Tradition.

[2] Als Beispiel Jeremia 31,31ff: «Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund schliessen werde; nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss an dem Tag, da ich sie bei der Hand ergriff, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen; denn sie haben meinen Bund gebrochen, obwohl ich doch ihr Eheherr war, spricht der Herr. Sondern das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel nach jenen Tagen schliessen werde, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Innerstes hineinlegen und es auf ihre Herzen schreiben, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein.»

[3] Das kontaminierte Kühlwasser wurde in Tanks aufgefangen und muss jetzt ins Meer abgelassen werden, was den Protest der Anrainerstaaten auslöst.

[4] Am siebten Tag heisst es im Schöpfungsbericht: Und Gott sah alles an, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut!» (Gen 1,31)

[5] «Schwer von Nacken» – Gott beklagt sich beim Propheten, die Menschen seien schwer zu lenken wie zwei Ochsen, die den Pflug ziehen.

[6] Genesis 6,5 Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit gross war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, 6 da reute es den Herrn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, 7 und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde.»

[7] Hosea 7,16

[8] Aus dem Dekalog: „Du sollst nicht töten.“ „Du sollst nicht die Ehe brechen.“ „Du sollst nicht stehlen.“ etc. (Ex 20, 2-17, Dtn 5, 6-21). Positiv formuliert ist das Sabbatgebot. Den Sabbat halten heisst, Gott die Ehre geben, er trägt und erlöst die Welt, er versöhnt die Brüche, er vermittelt Sein und Sollen. Das Ehren der Eltern hat eine Verheissung bei sich: «Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!“

[9] Vgl. den Aufstand der Pariser Kommune von 1871.

Mein Lehrmeister ist gestorben. Auch wenn man es sich heute verbieten möchte, etwas anderes zu denken als diesen Krieg und die Katastrophe, die alle elektrisieren, private Ereignisse gib es auch. Ich habe ihn gestern angerufen ins Heim und erfahren, dass er gestorben sei. Ich war vorbereitet, aber es trifft mich doch. Er ist mein ehemaliger Lehrmeister, er war schon 94 Jahre alt, aber er hat auf mein Leben bleibend eingewirkt. Er war wie ein zweiter Vater für mich. Weiterlesen

Als die Zeit sich verdüsterte revidierte er sein Weltbild. Sein bisheriger Optimismus widersprach so vielem, was die Zeit vor Augen stellte. Nicht nur am einzelnen Menschen zweifelte er, die ganze Menschheit schien einem Abgrund zuzulaufen. Weiterlesen