Zunehmende Verdüsterung

Als die Zeit sich verdüsterte revidierte er sein Weltbild. Sein bisheriger Optimismus widersprach so vielem, was die Zeit vor Augen stellte. Nicht nur am einzelnen Menschen zweifelte er, die ganze Menschheit schien einem Abgrund zuzulaufen.

Er lebte in der Antike und nach dem Stil der Zeit, machte er es am «ersten Menschen» fest. Schon Adam im Paradies habe in den falschen Weg abgebogen. Und das habe er allen folgenden Menschen «vererbt». Darum sprach er von «Erbsünde», der Autor heisst Aurelius Augustinus.

Beim Wort «Erbsünde» zucken wir heute zusammen, wir denken an die körperfeindliche Sexualmoral der Kirche, die die Menschen verstört. Das Verdikt der Körperfeindlichkeit bleibt, die gab es aber schon vor und neben Augustinus. Und der Clou des Erbsünde-Gedankens ist nicht die Fortpflanzung (Augustinus suchte einen Mechanismus, der erklärt, wie ein falscher Weg sich von einer Generation auf die nächste überträgt.)

Wie kann aus Freiheit Unfreiheit entstehen?
Der Clou ist die Frage, wie aus Freiheit Unfreiheit entsteht und warum sich freie Wesen zwanghaft auf einem falschen Weg bewegen. Diese Fragen stellen wir uns auch heute, in einer Zivilisation, die zwanghaft ihre eigenen Lebensgrundlagen untergräbt. Wie kamen wir als freie Menschen in eine solche Situation, die die Freiheit aufhebt?

Wie kam es, dass ausgerechnet die Moderne, die mit einem Freiheitsprojekt gestartet ist, in einer Welt endet, die mit Klimazerstörung und Artensterben in Naturzwang zurückfällt? Wie kam es, dass das Zeitalter, das den Menschen im Namen trägt, «Anthropozän», nicht für Freiheit und Entfaltung steht, sondern für einen drohenden Kollaps von Klima, Meer und Artenvielfalt?

Heute verstehen wir Augustinus und seine Zeit vielleicht besser. Es war eine Zeit zunehmender Verdüsterung, er revidierte seinen Optimismus. Was war es denn am Menschen, das ihn in diese Richtung drängte? Wie konnte Freiheit so entarten, dass sie in Unfreiheit umschlug?

Der Gedanke der «Erbsünde» half damals, den Konflikt zu überwinden zwischen dem Glauben an einen guten Gott, der lebensnotwendig war, und der gegenteiligen Erfahrung eines Lebens in Unfrieden und Schicksals-Schlägen. Und es lag nicht am guten Willen, die Menschen hatten das Gefühl, in etwas verstrickt zu sein, was sie lähmte und Dinge tun liess, die sie nicht wollten. So erlebten sie sich selbst, dass sie beim besten Willen das Falsche taten, was das Leben belastete und verstörte.

Vielleicht dass der Erbsünde-Gedanken doch noch etwas an sich hat, was heute zur Verständigung beitragen kann? Freiheit kann in Unfreiheit umschlagen, gibt es auch einen Weg aus Unfreiheit, der in Freiheit führt?

 

Foto von Rene Asmussen, Pexels

Beachten sie zu diesem Thema das Streiflicht «Erbsünde» – soll man sich damit noch befassen?