«Erbsünde» – soll man sich damit noch befassen?

Der Gedanke der «Erbsünde» – heute hat man schon vor dem Wort einen Horror -half damals, den Konflikt zu überwinden zwischen dem Glauben an einen guten Gott, der lebensnotwendig war, und der gegenteiligen Erfahrung eines Lebens, das einen mit Leid und Unrecht konfrontierte. Und es lag nicht am guten Willen, die Menschen hatten das Gefühl, in etwas verstrickt zu sein, was sie lähmte und Dinge tun liess, die sie nicht wollten. So erlebten sie sich selbst dabei, wie sie beim besten Willen das Falsche taten, was das Leben belastete und verstörte.

Es war, als ob man auf eine abschüssige Bahn geraten war, bei aller Anstrengung, den geraden Weg zu gehen. Es rutschte alles ab und es gewann an Fahrt. So antiquiert sich das alles anhört, ein Zeitgenosse kann das wohl nachvollziehen, wenn er an die Klimazerstörung denkt, an das Artensterben. Da ist etwas ins Rutschen geraten. Und von morgens bis abends, als Angehöriger der «westlichen Welt», erlebt man sich als Profiteur einer Weltwirtschaftsordnung, die zulasten von anderen Menschen und Kontinenten geht, und man kann nicht aussteigen.

 

Inhaltsverzeichnis

«Erbsünde» – soll man sich damit noch befassen?. 1

Das Weltbild wird revidiert 1

Die Krise der Spätantike. 3

Erbsünde im Atomzeitalter 4

Wie ein Tun ins Gegenteil umschlägt 4

Freiheit wird Unfreiheit wird Freiheit 5

Sich gleichzeitig machen mit Adam.. 6

Sich gleichzeitig machen mit Abraham.. 7

«Ende» oder Transformation. 8

Richtig leben im falschen. 9

Der Mensch und Gott 9

 

Das Weltbild wird revidiert

Ich habe gestern ein Büchlein aus dem Büchergestell gezogen. Der Text ist fast 2000 Jahre alt. Als ich drin lese, scheint er mir wie für heute gemacht. Er stammt aus der Spätzeit des römischen Reichs. Der Zentralstaat ist geschwächt, Sicherheit und Wohlstand werden fragil. Augustinus hatte eben noch eine optimistische Werbeschrift für das Christentum geschrieben. Fünf Jahr später unterzog er sie einer Revision, die die Lage nüchterner einschätzte. Es erinnert in manchem heutiger Welterfahrung.

„Über die wahre Religion“ heisst das Büchlein, das Aurelius Augustinus 390 schrieb und fünf Jahre später in den «Überprüfungen» unter dem Eindruck der Geschichte revidierte. Die Zahlen 390 und 395 stehen für verschiedene Erfahrungen. Zwei Weitsichten begegnen sich.

 

Der freie Mensch

Die Schrift aus dem Jahr 390 wirbt für das Christentum, indem es diese Religion als „Philosophie für das Volk“ vorstellt. Da wird der Mensch als frei und autonom gesehen. Der Mensch kann sich zwar verfehlen, zeigt sich ab gerade dadurch als freies Wesen. Der Begriff der «Sünde» setzt die menschliche Freiheit geradezu voraus.

Am Horizont zeichnen sich bereits die historischen Umwälzungen ab. Die äussere Welt scheint immer weniger gestaltbar für die menschliche Vernunft. Das Interesse verlagert sich auf das individuelle Glück, und sei es in einer untergehenden Welt. So verengt sich die platonische Tradition, die auch eine Staatslehre kannte, zu einer Glücks- und Seelenlehre, die den einzelnen im Über-Sinnlichen verankert (ohne Umweg über eine nicht mehr für möglich gehaltene Veränderung der Lebensumstände).

 

Der verstrickte Mensch

395, fünf Jahre nach Abfassung der Schrift, zerfällt das Römische Reich in zwei Hälften. Die Verkehrswege werden unsicher, Wohlstand und Sicherheit werden fragil. Der Zentralstaat ist geschwächt, lokale Grossgrundbesitzer reissen die staatliche Macht an sich und pressen die Untertanen aus. Es kommt zu Bauernunruhen.

Augustinus revidiert sein Büchlein in einer Nachschrift («Retractationes», Überprüfungen). Die Gegensätze lassen sich nicht mehr harmonisieren. Er beendet den Versuch einer Humanisierung des Christentums und wechselt vom Harmonie- zum Konflikt-Modell. Er unterstreicht jetzt im Gegenteil die Gegensätze, weil so leichter zu sehen ist, wo die Freiheit ansteht. Es ist ein Paradigmenwechsel nötig, der die Unfreiheit ernster nimmt, der Antwort gibt, wie das Leben auch in einer solchen Welt gelingen kann.

 

„Erbsünde“

In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff «Erbsünde» zu sehen. „Erbsünde“ meint nicht, dass ein Kind „in Sünde empfangen“ wird und Sexualität darum „böse“ sei (die asketische Ablehnung des Materiellen steckt schon in der platonischen Phase), Erbsünde steht für die Beobachtung, dass es Verstrickungen gibt, die wir nicht lösen können. Wir haben sie nicht individuell verschuldet und müssen sie doch mittragen. Wir können uns nicht mal davon distanzieren, weil uns „nichts angeht, was wir nicht verbrochen haben“. Das unberührte Land, in das wir uns zurückziehen könnten, gibt es nicht mehr. Die Staats-Verschuldung heute ist nur ein Beispiel für viele Probleme, die die Generationen vor sich herschieben und auf spätere Geschlechter übertragen. Dazu gehören weltwirtschaftliche Verwerfungen, die sich wie eine Verstrickung um die Menschen legen. Wer kann daraus aussteigen?

 

Erfahrungen unserer Zeit

Die Impulse, die das Gefüge vorwärtstreiben sind so mächtig, dass kein politscher Akteur sichtbar ist, der das sinnvoll modulieren könnte. Es folgt seiner Dynamik. Hier reisst es eine Wirtschaftszone in die Krise, dort führt es zur Abholzung von Regenwäldern. Es lässt als Resultante von vielen Interaktionen die Arten aussterben und die Temperaturen ansteigen. Die Permafrost-Böden tauen auf, die Hanglagen in den Bergen werden instabil. Meere werden leergefischt und Luft- und Meeresströmungen werden blockiert oder suchen sich neue Wege…

„Erbsünde“ ist ein Begriff im Diskurs um Schuld und Freiheit. Im weiteren Sinn, als Wort-Signal, ist es eine Absage an die Vorstellung, über die historisch vorhandenen Kollektiv-Subjekte Einfluss auf die Lebensbedingungen der aktuell lebenden Menschheit zu nehmen.

Die Krise der Spätantike

„Erbsünde“ ist die Erfahrung der Spät-Antike, dass die vom Menschen geschaffenen Strukturen sich verselbständigen und vom Menschen und seinem Handeln nicht mehr eingeholt werden können. Die Produkte des Menschen haben sich von diesem entfremdet, sind zu einer „zweiten Natur“ geworden, die mit Naturzwang auf die Urheber zurückschlagen. Sie sind nicht mehr erreichbar für die Gestaltung des Menschen. Kalt prallen die Intuitionen des Menschen an ihnen ab: dass es so etwas wie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geben müsse. Dass ein Leben gelingen soll. Dass Anfänge nicht abbrechen. Dass Verletztes verheilen kann. Dass ein langer Weg in ein „Ankommen“ mündet. …

In der Spätantike ziehen sich solche Lebenshoffnungen vom Raum gemeinsamer historischer Gestaltung zurück. Der einzelne stellt sich vor Gott. Er erklärt sich für „reichsunmittelbar“ und sucht für sich einen Weg zu Gott, „und wenn die Welt untergeht.“ Die Reich-Gottes-Verkündigung im Christentum verengt sich zu einer Erlösungs-Religion für Einzelseelen. Heute spricht man nicht mehr von „Seele“ und „Gott“. Man sucht und findet andere Begriffe und Wege, wie das „Ich“ mit dem Innersten der Wirklichkeit zur Übereinstimmung kommen soll, so dass es nicht verloren geht (oder gerade durch sein „Aufgehen in anderem“ bewahrt wird).

Die „Erbsünde“ ist ein sperriger Begriff. Sie behält in sich die Erinnerung an ein überindividuelles Schicksal. Diese Erinnerung sperrt sich gegen die Zersplitterung der gewachsenen kollektiven Handlungs-Subjekte in eine Wolke von Mensch-Atomen, die chaotisch durcheinander sausen. „Erbsünde“ ruft nach einem Erlöser, der auch diesem historischen Stand menschheitlicher Verlorenheit noch gewachsen ist – ein Handlungssubjekt, das nicht politisch zu formieren ist, sondern im Glauben gefunden wird, das die Konflikte versöhnen, die Gegensätze vermitteln kann, weil es aus dem Ursprung der Welt und der Wirklichkeit handelt.

Der Begriff «Erbsünde» mag veraltet sein, es lohnt sich aber, ihm nachzudenken, weil er Erfahrungen formulieren hilft, wie eine ganze Weltgesellschaft Gefahr läuft, ihr Wichtigstes zu zerstören, gerade indem es dem Guten nacheifert.

 

Literatur: Aurelius Augustinus: „De vera religione“ / „Über die wahre Religion“ mit seinen späteren Ergänzungen. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch, Reclam-Verlag, Stuttgart 1983.

 

Erbsünde im Atomzeitalter

Dass unsere Taten sich gegen uns selber kehren, das erleben wir heute in Klimawandel und Artensterben. In den 50er Jahren war es die Atom-Technologie. Der Theologe Rudolf Bultmann hat sich damit beschäftigt.

 

Bultmann fühlt sich der Geschichte „ausgeliefert“. Die grossen weltgeschichtlichen Ereignisse brächten dem Menschen seine Abhängigkeit und Hilflosigkeit zum Bewusstsein, so schreibt er in „Geschichte und Eschatologie“ von 1955. Die Geschichte werde als fremde Macht empfunden, was besonders bitter sei, da sie als Resultat menschlichen Handelns sich jetzt gegen seinen Urheber selber kehre.

Wie ein Tun ins Gegenteil umschlägt

Zehn Jahre früher haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno unter derselben Denkfigur, die sie „Dialektik der Aufklärung“ nannten, zu analysieren versucht, warum die Aufklärung im Faschismus und Totalitarismus in ihr Gegenteil umschlagen konnten. Bultmann hat in den 50er Jahren weniger den Totalitarismus im Auge als die Technik, an der sich dasselbe Umschlags-Phänomen zeige: „Ihre Erfolge treiben zu Folgen, vor denen oft ihre eigenen Meister erschrecken. Was zur Förderung des menschlichen Lebens geplant und ausgeführt war, droht in den Folgen zu einer Schädigung, ja sogar Vernichtung zu führen.“

Welche technische Errungenschaft dahinter steht, wird deutlich in einer Vorlesung von 1951, wo er die „schreckliche Vision“ beschreibt, „dass die moderne Technik, besonders die Atomphysik, die Zerstörung über unsere Erde bringen kann durch den Missbrauch menschlicher Wissenschaft und Technik.“ Sechs Jahre zuvor hatte der Abwurf einer Atombombe über Hiroshima und Nagasaki 152.000 Tote und 150.000 Verletzte gefordert, was den Schrecken dieser Waffe demonstrierte. Umso grösser der Schock der westlichen Welt als die Sowjets 1949 ebenfalls die A-Bombe bauten. Wegen der sowjetischen Doktrin der Weltrevolution und der amerikanischen Eindämmungspolitik war die zuvor bestehende Verbindung beider Mächte im Zweiten Weltkrieg auseinandergebrochen und hatte dem „Kalten Krieg“ Platz gemacht. Die Welt erstarrte in einem „Gleichgewicht des Schreckens“; Geschichte wurde immobil sie schien in einen Zustand geführt zu haben, der auch die Bewegungsfreiheit jener begrenzte, die über diese Waffe verfügten.

Wenn Bultmann mit Horkheimer und Adorno den Umschlag von Freiheit in Unfreiheit beschreibt, denkt er nicht wie jene an das Projekt der „Aufklärung“. Die theologische Tradition bietet dafür den Begriff der Erbsünde an, in der als Ursünde Freiheit in Unfreiheit verwandelt wurde, so dass der sündige Mensch die Folgen tragen und verantworten muss, obwohl ihre Heilung nicht mehr in seiner Macht steht, es sei denn, Gott heile ihn und er könne durch eine „Umkehr“ in sein Heil zurückkehren – durch ein „anderes Selbstverstehen“ im Glauben. Der Gewährsmann, der sich hier anbietet, ist Kierkegaard der im „Begriff Angst“ den locus der Erbsünde rekonstruiert und erklärt, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann: durch die Angst, die mit der Freiheit der Entscheidung gesetzt ist, so dass der Einzelne Sicherheit sucht, sich ans Endliche klammert und so durch ein Tun, das helfen soll, sich selbst verfehlt.

 

Paradoxes Ja

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bot neue Verstehens-Voraussetzungen, um die Wahrheit der Predigt Jesu „aufzuheben“ und für ein Verständnis der eigenen Zeit fruchtbar zu machen: Die apokalyptische Vision einer atomaren Zerstörung der Welt lässt die Politik als handelndes Verändern in der Geschichte erstarren. Zwischen „wahrem“ Leben und Leben in dieser Welt gab es offenbar keine Vermittlung. Die erstarrte Welt lässt sich nicht in eine wahre verbessern, sie lässt sich nur übersteigen in einer Hingabe an den weltüberlegenen Gott, der dem Gläubigen analoge Weltüberlegenheit vermittelt, so dass er erst in einem paradoxen Akt des „Trotzdem“ sein Leben in dieser Welt wieder bejahen und „verantworten“ kann.

 

Literatur: Bultmann, „Geschichte und Eschatologie“ von 1955  und „Jesus Christus und die Mythologie“ von 1951, zitiert nach Peter Winiger „Glaubenssprache angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen – ein Gespräch mit Bultmann und Moltmann“, Akzessarbeit, Zürich 1992

 

Freiheit wird Unfreiheit wird Freiheit

Wie hat es angefangen, schief zu laufen auf dieser Erde? Auch die Antike hat die Frage schon radikal gestellt. Auch die Antike kannte schon ökologische Zerstörungen in einem Ausmass, das die Menschen erschrecken liess –  ob wohl die Welt aus ihrer Schuld zerstört werden könnte?

 

Mythologische Antwort

Der römische Dichter Ovid erzählt von einem goldenen Zeitalter, wo jedes Wesen aus eigenem Antrieb Gesetz und Treue übte. Diese vollkommene Welt ist verloren, so dass wir die Forderung nach Gerechtigkeit nur noch in unserem Wissen, nicht mehr in der Erfahrung wiederfinden. Einen der Gründe für diese Entartung sieht er auch im menschlichen Verhalten. Das goldene Zeitalter degenerierte zum silbernen und dann zum eisernen Zeitalter. Hier „flohen Scham, Wahrheit und Treue“ von der Erde und es brach „jeglicher Frevel hervor“.

Auf der Erde wohnten damals Giganten. Als diese anfingen, den Himmel zu erstürmen und die Gefahr bestand, dass sie ihren Frevel dorthin tragen könnten, bis die Ordnung der Sterne durcheinandergeriete, stürzte sie „der allmächtige Vater“ hinunter. Ihr Blut benetzte die Erde. Daraus entstand ein neues Geschlecht von Menschen. „Doch auch dieses Geschlecht verachtete die Überirdischen, war grausam, gewalttätig und erfüllt von unstillbarer Mordlust – man sah, dass es aus Blut entsprossen war.“ Ovid erzählt, wie der Mensch zum Wolf entartet und wie Jupiter die Erde und alles Leben in einer Flut ertränkt. Nur Deukalion und Pyrrha entkommen – in ihnen macht das Leben einen neuen Anfang auf der Erde.

Ähnlich erzählt die Bibel von einer Welt, die im Ursprung vollkommen war. Darum tragen wir das Wissen, wie es sein soll, in uns. Auch die Bibel schildert eine „ontologische Daseinsminderung“. Das Gold des Ursprunges verblasst, so dass Unrecht, Krankheit, Tod auftreten. Auch hier trägt der Mensch eine Schuld an dieser Entwicklung („Sündenfall“), sie erzählt von Sintflut und Neuem Anfang in Noah und seiner Arche.

 

Ein Philosoph enträtselt den Mythos

Wie lässt sich die Schuld des Menschen verstehen? Was ist das Verhalten, das die Ur-Vollkommenheit zerstört? Das wäre so etwas wie der „Urknall“ der Menschwerdung, sein Ausgang aus der Unschuld des Naturwesens, der Beginn der Zivilisation. Die Paradiesgeschichte erzählt von der Versuchung Adams. Durch seine Schuld wurde er aus dem Paradies vertrieben und das Menschengeschlecht lebt seither in Not und Schmerz.

Sollte Adam der Einzige sein, der die Schuld beging und wir Menschen unschuldig gestraft? Sollte Adam der Einzige sein, der frei gewesen war, und wir Folgenden nur Erben seiner Schuld? – So legt es der Gedanke der „Erbsünde“ nahe.

Der Philosoph Sören Kierkegaard meint: So erzählt, nützt mir das nichts. Zwar kenne ich die Erfahrung von Unfreiheit, dass ich mich beim besten Willen verfehle. Aber ich habe auch eine Intuition von Freiheit, die ich wahrnehmen muss, wenn mein Leben gelingen soll.

 

Sich gleichzeitig machen mit Adam

Kierkegaard erzählt die Geschichte von Adam neu – so dass diese nicht in eine mythische Vorzeit gerät und wir nur noch Nachfolger sind, die hier ihre „condition humaine“ erfahren. Er macht sich „gleichzeitig mit Adam“. Er tritt in den Mythos ein. Er verwandelt ihn in eine Freiheitsgeschichte. Er fragt: Wie ist es denn zu verstehen, dass aus Freiheit Unfreiheit entsteht? Was ist damals geschehen im Paradies? Was geschieht hier auf dieser Erde immer wieder, so dass die Vertreibung sich immer neu wiederholen muss?

Was genau tue ich, dass ich immer wieder aus dem Paradies vertrieben werde? Was kenne ich an mir, was mich und mein Verhalten so verändert, dass es mir nicht mehr selber angehört, dass ich mir selber fremd werde? In welchen Situationen geschieht es, dass ich mich selber im Stich lasse und gegen besseres Wissen und Vertrauen handle, so dass ich das Falsche tue, obwohl ich das Richtige will?

 

Angst

Es ist die Angst! – Sie verwandelt mich. Sie übt jene Kraft der „Metamorphose“ aus, von der Ovid erzählt. Sie lässt das Gold in Silber und Eisen verrotten, sie weckt in mir den Wolf. Darum sieht man mir den Menschen nicht mehr an, als der ich gedacht war. Darum finde ich das Richtige nicht mehr in meinem Handeln, sondern nur noch in einem Wissen, das ich gegen alle Erfahrung in mir trage. Darum lebt das Ziel, das ich mir ersehne, nur in einem Hoffen, das ich kontrafaktisch gegen alle Erfahrung aufrechterhalten muss.

 

Sicherheit vs. Vertrauen

Aus Angst vor dieser Welt, in der ich mich vorfinde, will ich sie kontrollieren. Ich klammere mich an Dinge dieser Welt, die ich nicht verlieren will, und verfehle so mein Leben. Wenn ich zwanghaft etwas festhalte, kriege ich die Hände nie frei, die ich brauche, um zu handeln. Und was es auf dieser Welt gibt, zwischen Leben und Tod, das verlangt mein Handeln. Wenn ich aber Tod und Leben aus eigener Kraft bewältigen will, verzweifle ich und verfehle mein Leben. Ich muss es ins Vertrauen setzen, dass es gehalten ist aus jener Anfangs-Kraft, die alles ins Leben rief, und auch mein Leben. Wenn ich aber alles nur noch ins Vertrauen setze und denke, Gott wird es schon richten, verfehle ich mein Leben ebenfalls.

Kierkegaard rekonstruiert die „Erbsünde“ und erklärt, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann: durch die Angst, die mit der Freiheit der Entscheidung gesetzt ist. Aus Angst sucht der Einzelne Sicherheit und klammert sich ans Endliche. So verfehlt er sich selbst. Die „Synthese zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit“, die das Selbst ist, gelingt erst, wenn er sich als Glaubender aus der Unendlichkeit versteht und das Endliche loslässt. Dann wird er es wieder zur Verantwortung zurückerhalten, sodass er ein paradoxes „Dennoch“ zur Welt sprechen kann.

 

Sich gleichzeitig machen mit Abraham

Wie gelingt der Glaube? Wie kann ich vertrauen, gegen die Angst? Wie kann aus Unfreiheit wieder Freiheit werden? (In Bildern der Mythologie gesprochen wäre das wie eine Rückkehr ins verlorene Paradies.)

Kierkegaard rekonstruiert die Haltung, die Abraham zum „Vater des Glaubens“ macht. Abraham opfert seinen Sohn Isaak, erhält ihn aber zurück. Hat Abraham daran gezweifelt? Er machte eine „doppelte Bewegung“, und Kierkegaard merkt an, dass es ihm selber immer nur gelingen will, die eine Bewegung zu machen, aber nicht beide. Darum sieht er sich nur als Schüler des Glaubens.

Wie Abraham muss ich eine erste Bewegung machen und Isaak loslassen, ihn Gott übergeben im Sinn des Opfers, das er verlangt, im Sinn des Vertrauens, aus dem ich leben will. Dann muss ich aber eine zweite Bewegung machen und Gott mehr zutrauen, als ich fühle und sehe. Dass ich ihn übergebe und nicht zweifle, dass Gott das Opfer nicht will, dass ich ihn loslasse und dabei in keinem Moment verzweifle und vertraue, dass Gott ihn mir wieder geben wird.

Es ist ein riesiges Vertrauen. Das Verantworten wird nicht aufgehoben, es wird neu ermöglicht. Die Ethik verschwindet nicht in der Religion. Durch das in der Hingabe erlebte Vertrauen wird sie neu ermöglicht, wo sie an den Widerständen schon scheitern wollte. Ethik und Glaube bringen sich gegenseitig hervor. Vertrauen und Verantworten gehören zusammen. Es ist ein Ineinander: Nur wenn ich vertraue, kann ich verantworten. Wenn ich aber nicht Schritte mache in diesem Vertrauen, wenn ich es nicht im Handeln erprobe, stirbt es ab. So kann ich ohne handeln auch nicht glauben, ohne verantworten auch nicht vertrauen. So, erklärt Kierkegaard, kann aus Freiheit Unfreiheit werden. So kann aus Unfreiheit neue Freiheit entstehen, neue Verantwortung, wo das Leiden schon resignieren wollte.

 

Literatur:

Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Deutsch Düsseldorf 2005

Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst, deutsch Frankfurt am Main 1984

 

«Ende» oder Transformation

Das Konzept der „Erbsünde“ hat den Charme einer uralten Debatte an sich. Das allein reicht nicht, um sie wieder hervorzuholen. Aber wir haben einen neuen Zugang zu den alten Debatten. Sie werden verständlich gerade heute, angesichts der Engpässe der zivilisatorischen und globalen Entwicklung.

Das Konzept der Erbsünde kann beschreiben, wie man „unschuldig schuldig“ wird und dass es auch „objektive Schuld“ geben kann (obwohl „Schuld“ und „Sünde“ ursprünglich subjektive Kriterien sind, eine Frage der persönlichen moralischen Entscheidung). Es gibt Verstrickungen, die das Handeln-Können so lähmen und vorbestimmen, dass es notwendig in die falsche Richtung läuft und kein individuelles Aussteigen mehr möglich ist.

Kommt ein Ende erst, wenn die Verstrickung als Ganzes ausläuft, wenn der gordische Knoten einer falschen Entwicklung zerhauen wird? Ist keine Transformation des Systems denkbar? Und wenn doch, wann könnte diese wirksam werden? Reicht die Zeit? –

 

Richtig leben im falschen

Bereits heute brauchen wir eine Antwort. Wir müssen auch „im Falschen“ leben können, so lang es dauert. Wir sind misstrauisch gegen alle Versprechungen vom „Wahren“, nachdem diese der westlichen Welt totalitäre Systeme beschert haben (und nicht nur der westlichen Welt, diese hat auf den ganzen Globus ausgegriffen, weshalb Gegenkonzepte sich heute so oft gegen den „Westen“ richten).

Die kulturelle Antwort ist ein „softer“ Weg, er kostet nicht viele Ressourcen, kann aber gewaltige Kräfte entfalten. V.a. kann er die Lücke schliessen, die der heutige zivilisatorische Weg gerissen hat, wodurch er immer mehr von den sozial-kulturellen Grundlagen zerstört, von denen er lebt. So kann er kein Vertrauen erzeugen, obwohl das Wirtschaftsleben elementar davon abhängt. Es müssen nur die Sparer in Griechenland ihre Banken stürmen (weil sie kein Vertrauen mehr in sie haben), so geraten diese in Bankrott und die Wirtschaftskrise wird zur Eurokrise. Die sozialen und politischen Begleiterscheinungen dieser ökonomischen Krisen hat Europa und die Welt in den letzten Jahren erlebt.

Kredit kommt von credere, glauben, vertrauen. Es ist eine der wichtigsten moralisch-religiösen Ressourcen der Gesellschaft in ihrer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Existenz. Es betrifft nicht nur die Wirtschaft. Auch den Vertrauensverlust der Bevölkerung in ihre Eliten und Institutionen haben wir erlebt. Die Folgen sind Staatsverdrossenheit, Wahlabstinenz oder die Wahl von Jux- und Protestparteien. Wir sehen die Zersplitterung der Parlamente, die in Geiselhaft von extremen Kleinstparteien geraten, Bürgerwehren, Selbstorganisation in mafiösen Gruppen, Abspaltungstendenzen, „gated communities“, zerfallende Staaten.

 

Der Mensch und Gott

So habe ich das Konzept der Erbsünde kennengelernt von den Engpässen der ethischen Diskussion her. Es erscheint auch im Kontext der Theodizee-Debatte. Woher kommt das Leid, das Unheil, wenn Gott gut und allmächtig und vollkommen ist? Wenn die Spaltungen nicht mehr zu überwinden sind, wenn die Grenzen sich nicht mehr vermitteln lassen, wenn das Unheil nicht integriert werden kann, kommt es oft zur Aufspaltung Gottes (in Teufel, Mächte etc.). Eine Alternative dazu ist die „Erbsünde“. Der Mensch bringt den Umschlag von Freiheit in Unfreiheit und damit die Verstrickung.

 

Vermittlung und Versöhnung

Ich habe das Konzept der Erbsünde kennen und schätzen gelernt von den Engpässen der Autonomie her. Die Erbsünde lässt das Ineinander von Schuld und Unschuld begreifen: wie Freiheit in Zwang umschlägt, so dass man handelt, wie man nicht will, und nicht handelt, wie man will. Und man wird „beim besten Willen schuldig“, weil das Handeln sich in Institutionen und Gewohnheiten objektiviert und auf das Handeln zurückschlägt.

Das gilt für das Individuum in den Prägungen seines Charakters, in dem frühe Entscheidungen weiterleben und das zukünftige Leben bestimmen, weil die frühen Prägungen nur schwer zu verändern sind. Das gilt für die ganze Zivilisation, für den Entwicklungspfad, den die Menschheit genommen hat. Sie greift intensiv in die natürlichen Lebensgrundlagen ein und entfaltet sich extensiv über den Globus. Es ist ein Weg der technisch-instrumentellen Gestaltung aller Lebensbedingungen. Es ist ein Integrations-Weg, der alles erfasst und erfassen muss, obwohl dieser Weg zur Universalisierung mittels technischer Zivilisation an sich selber fast zerreisst, weil er immer neue ökologische und soziale Disparitäten erzeugt.

So entsteht die Frage nach einer anderen Form von Universalisierung, wie die „Ganzheit“ des Menschen gedacht, erfahren und gelebt werden kann. Gesucht ist ein Weg, der unterscheiden kann zwischen verschiedenen Formen der Vermittlung. Es gibt Grenzen, die man technologisch aufheben oder hinausschieben kann (beim Individuum z.B. durch medizinische Behandlung), es gibt Grenzen, die man akzeptieren muss (beim Individuum. z.B. den Tod) und wo eine kulturelle Antwort nötig ist: sich verstehen lernen aus einer nicht hergestellten „Ganzheit“ und diese symbolisch repräsentieren in Form von Gott, Glaube und Hoffnung. Das ist der Weg der vormodernen Kulturen, sie stellen einen Traditionsschatz bereit von Hilfsmitteln der religiösen Existenz: Gebet, Vergemeinschaftung im Glauben und diakonische Hilfe etc.

 

Verantworten und Vertrauen

Der letzte Abschnitt weckt vielleicht das Missverständnis, als ob man Bereiche abtrennen könnte, wo entweder die Ethik oder der Glaube zuständig wäre. Als Lebensvollzug können Vertrauen und Verantworten aber nicht auf bestimmte Provinzen des Daseins begrenzt werden. Vertrauen will immer vertrauen, verantworten immer verantworten.

Das Verhältnis besteht nicht darin, dass Glaube dort anfängt, wo Ethik aufhört. Wer glaubt, gibt nicht nur Tod und Leben in Gottes Hand, er übergibt im Gebet alles Gott und erhält es von ihm zur Gestaltung zurück. Aber er weiss sich jetzt aufgehoben in einem Ganzen, das er nicht herstellen muss (das würde ihn überfordern), wo ihm aber eine Aufgabe zukommt. Diese ist menschgemäss, er muss nicht an die Stelle Gottes treten und die Daseinsbedingungen verantworten wollen.

Verantworten, Ethik, endet in Überforderung und Resignation, wo die ersten Bedingungen des Daseins nicht ins Vertrauen gesetzt werden können. Und ein Vertrauen, das keine Folgen im Handeln hat, stirbt ab. So bedingen sich Vertrauen und Verantworten, Ethik und Glaube, gegenseitig. Man könnte es in die Maxime fassen: Handle, als ob es nur von dir abhinge, und vertraue dabei, als ob es nur von Gott abhinge.

 

Foto Francesco Ungaro, Pexels

Beachten Sie: Traumatisierte Freiheit – Erinnerung an die Erbsünde.