Der Stein der Weisen

Die Jünger bitten Jesus um etwas. Bald ist er nicht mehr unter ihnen, und sie suchen eine Kraft, damit sie in ihrem Leben, damit sie in der Welt bestehen können. Gibt es da etwas, so etwas wie ein Rezept, einen Schlüssel, der uns in jeder Situation helfen kann?

Christus gibt keine direkte Antwort, er erzählt ihnen Geschichten. Es ist fast wie im Märchen. Da ist ein Mann – so könnte das Märchen lauten -, der endlich alt geworden ist. Und vor seinem Tod lässt er seine Kinder zu sich kommen und gibt jedem, was er braucht, damit er seinen Weg findet. Und weil es ein Märchen ist, gibt es hier wunderbare Dinge: Er gibt den Kindern etwas, das die Kraft hat, Bäume und Berge zu versetzen. Und dazu erzählt er ihnen eine Geschichte. Es sind also zwei Gaben, die er ihnen hinterlässt mit der Zusage, dass sie damit jedes Hindernis bewältigen werden, wenn sie diese Gaben nur recht in Ehren halten.

Die Gabe
Die eine Gabe ist zauberhaft. Es ist der Glaube, der so wunderbare Kraft haben soll, dass man damit Bäume und Berge versetzen kann. Diese Gabe hebt den Empfänger in die Höhe. Er bewegt die Welt wie mit Zauberkraft nach seinem Willen. Die andere Gabe riecht nach Alltag, da ist wenig Zauber, aber viel Arbeit und Schweiss.

Bei der ersten Gabe kann man den Kopf hoch tragen, aber hier heisst es, sich niederbücken. Christus erzählt von einem Knecht, der nach getaner Arbeit nach Hause kommt. Er sehnt sich nach Ruhe und Erholung, er möchte essen und trinken und lustig sein. Aber zuerst muss er den Herrn bedienen. Erst dann kann er an sich denken. Und er erhält nicht mal Dank dafür.

Soll das also der Stein der Weisen sein? Das eine Gabe, die ans Ziel führt? Das ein Testament, das ein Vater seinen Kindern hinterlassen kann, damit sie ihr Leben richtig führen? Und ist das womöglich noch eine Antwort, die auch heute anleiten kann zum richtigen Leben? Heute, wo wir bis ins Mark verunsichern durch all das, was wir Tag für Tag in der Zeitung lesen?

Wir wollen die Antwort ansehen, die Christus gibt. Wir denken, er sei der Mann im Märchen, und wir seine Kinder. Und er hinterlässt uns eine Gabe, mit denen auch wir unsern Weg finden können. Das ist seine Zusage, dass wir mit diesen Gaben, so klein und unscheinbar sie auch wirken mögen, ans Ziel finden, wenn wir sie nur recht in Ehren halten und das Erbe des Vaters nicht verschmähen.

Der Zauber
Wie im Märchen machen wir uns auf den Weg. Wir gehen „ins Leben hinaus“ und hoffen, unsern Weg zu finden. Und wenn eine Aufgabe an uns kommt, so nehmen wir flugs das Mittel zur Hand, das uns der Vater hinterlassen hat. Wir nehmen den Glauben zu Hilfe, er soll ja Zauberkraft haben. Und tatsächlich, mit dem Vertrauen des Glaubens geht alles besser.

Wer sich in allem, was ihm geschieht, getragen und gehalten weiss, der geht leichter in dieser Welt. Er geht unbefangener auf die Menschen zu. Er traut sich und anderen etwas Gutes zu. Es geht ihm alles besser von der Hand.

Und wir entdecken: Wer Vertrauen hat, der ist nicht einfach nur ein Optimist, der im Gegensatz zu einem Pessimisten eine fröhlichere Natur hat. Er ist nicht einfach nur naiv und blauäugig und macht sich über die wirkliche Welt noch Illusionen, weil er noch nicht erfahren hat, wie sehr das Leben verletzen kann, wie gemein und niederträchtig Menschen sich verhalten können.

Nicht naiv
Der Glaube ist nicht einfach nur eine Annahme über die Welt, er ist eine Haltung. Er steht der Welt nicht abstrakt gegenüber und versucht nicht, sie zu beschreiben. Der Glaube ist eine Haltung, die in alle Handlungen einfliesst, die wir machen. Darum verändert er unser Verhalten, er verändert die ganze Situation, in der wir uns bewegen.

Der junge Mann geht weiter. Wo immer eine Frage vor ihm auftaucht, nimmt er den Glauben hervor, und es ist wie ein Stein der Weisen, der das Eisen des Alltags in Gold verwandelt. Ein ganzes Dorf, das dem einen als feindlich und missgünstig erscheint, verwandelt sich für ihn zu einer Gemeinschaft von freundlichen und hilfsbereiten Menschen. So wie er ihnen begegnet, so antworten sie.

Aber auch diesem jungen Mann, der so voll Zuversicht in die Welt hinausgeht, bleibt nicht verborgen, dass nicht alles nur Sonnenschein ist. Es gibt Krankheit, Unrecht, Leid und Tod. Nicht in jeder Situation geht es so schnell, dass das Zutrauen belohnt wird. Es gibt Menschen, die Vertrauen missbrauchen. Manchmal wird Gutwilligkeit für Schwäche gehalten und Nachgiebigkeit ausgenützt. Es gibt Konflikte, die seit Jahren und oft seit Generationen andauern und die einen fast unlösbaren Knoten geschnürt haben. Und sie sind umgeben von einer Atmosphäre von Angst und Gewalt.

Da wird das Vertrauen auf die Probe gestellt: ob wir wirklich darauf vertrauen, dass wir von Gott gehalten und geführt werden. Ob wir uns wirklich darauf verlassen wollen oder ob wir andere Wege suchen. Wenn man uns mit Gewalt kommt, greifen wir eben auch zur Gewalt! Wenn man uns betrügt, dann fühlen auch wir uns nicht mehr an Treu und Glauben gebunden! Die Folge nach aussen ist leicht sichtbar: Treu und Glauben gehen überhaupt verloren, es kommt eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang. Die Folge nach innen ist unsichtbar aber nicht weniger schlimm: Die Hoffnung geht verloren, Resignation macht sich breit. Das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein greift um sich. Das Leben wird lieblos. Und man beginnt zu leiden unter der Lieblosigkeit. Letztlich ist es Verzweiflung, das Gegenteil von Glauben.

Der Knecht
In dieser Situation bitten die Jünger Christus: „Mehre uns den Glauben!“ Wir wollen das Vertrauen nicht verlieren – so könnte man das übersetzen -, hilf uns! Wenn die Menschen verzweifeln, dann wendet sich alles zum Schlechten und Unrecht und Gewalt greifen um sich. Unrecht und Gewalt – das ist Unglaube in anderer Form!

Und jetzt erzählt Christus die zweite Geschichte: „Stellt euch vor“, sagt er, „ihr habt einen Knecht. Wenn der die Arbeit auf dem Feld getan hat und nach Hause kommt, erlaubt ihr ihm, dass er einfach hinsitzen und essen kann? Ihr befehlt ihm, er solle euch bei Tisch aufwarten, erst danach kann er für sich selber sorgen. So sollt auch ihr sagen, wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen war: Wir sind unnütze Knechte, wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren.“

Der Glaube kann nicht immer auf sofortige Erfüllung hoffen. Darum gibt es die Hoffnung. Aber auch die Hoffnung ist nicht immer gleich am Ziel. Sie muss Enttäuschungen hinnehmen und Hindernisse überwinden. Die Hoffnung geht einen Weg. Darum hat sie zwei Beine. Damit Hoffnung bestehen bleibt, braucht es zwei Sachen: Wir müssen auf Gott vertrauen, dass wir von ihm gehalten und geführt werden, und wir müssen in diesem Vertrauen auch konkrete Schritte machen, uns nach dem richtigen Weg erkundigen und den auch wirklich gehen.

Zwei Beine
Ein Glaube, der die Hände in den Schoss legt, geht zugrunde. Auf die Länge können wir nicht vertrauensvoll unsern Weg gehen und dabei wissen, dass Gott uns hält und führt, wenn wir uns gar nicht führen lassen, wenn wir nicht unsere Kräfte brauchen und das Richtige, das wir erkannt haben, auch tun. Ein solcher Glaube ist nicht lebensfähig, er verfällt in Resignation. Er fällt in Verzweiflung.

Glaube ohne Verantwortung ist nicht möglich. Aber auch das Umgekehrte ist nicht möglich: Verantwortung ohne Glauben. Ein Aktivismus, der nicht vom Glauben getragen wird, verliert die Kraft. Die Aufgaben sind ja riesengross. Wer die Zeitung liest, fühlt eine riesige Ohnmacht. An allen Orten bricht etwas ein, hier sollte man tätig sein und dort, es braucht Engagement an allen Orten.

Da sind nicht nur die neuen Probleme von Krieg und Terror, Menschen, die allen Halt verlieren und Amok laufen, Arbeitsplätze, die zu Tausenden verloren gehen. Da gibt es auch die alten ungelösten Probleme. Da ist die Klima-Erwärmung, da sind die negativen Folgen unserer technischen Zivilisation. Da sterben Arten aus, dort wird Wasser, Luft und Boden vergiftet. Wir Menschen stehen schnell an unseren Grenzen. Das gilt für uns als einzelne aber auch für die Menschheit als Ganzes.

An der Grenze
Das ist vielleicht ein Gefühl, das heute viele Menschen teilen: dass wir an einer Grenze stehen. So wie bisher, geht es nicht weiter. Auf der anderen Seite hat das auch etwas seltsam Faszinierendes: an der Grenze zu stehen. Es gibt Menschen, die diese Grenze suchen, die Extrem-Sportarten betreiben, die ihr Leben riskieren, weil sie an der Grenze etwas erfahren, was sie sonst nirgends erleben können.

An der Grenze wird das Ganze sichtbar. Wo unsere Macht aufhört, dort begegnen wir jener Kraft, die alles zusammenhält. An der Grenze stehen, das kann auch eine religiöse Erfahrung sein, weil uns bewusst wird, dass nicht wir es sind, die diese Welt gemacht haben und aufrechterhalten. Da ist eine Kraft, die alles hervorgebracht hat und in der auch wir gehalten sind, mit unserm ganzen Leben!

Und erst, wenn wir diese Kraft und dieses Vertrauen wieder gefunden haben, dass wir gehalten und geführt werden mit unserm ganzen Leben, erst dann finden wir die Kraft wieder, die Probleme anzupacken. Dass die Welt Bestand hat und nicht zugrunde geht – das ist keine Aufgabe, die wir lösen können. Wenn wir in der Angst verharren, dass die Welt zugrunde geht, lähmt uns das. Wenn wir uns aber erinnern, dass die Welt gehalten wird aus jener Kraft, die sie ins Dasein gerufen hat, dann überwinden wir die Lähmung. Und wir können die Aufgaben wieder anpacken, die uns Menschen aufgegeben sind. Das ist nicht, die Welt zu erlösen, aber das sind die Aufgaben, die tagtäglich vor unseren Füssen liegen. So wird das Kleine auch ein Beitrag zu dem Grossen.

 

Nach einem Gottesdienst von 2001
(Die Geschichte vom unnützen Knecht wird erzählt in Lk 17, 5-10)
Foto: gepflästerte Strasse