Kanzel und Maulkorb

Wie wenig aus der Bibel gelangt an die Gemeinde! Die Bibel scheint ein öffentliches Buch, aber es sind sieben Siegel davor. Die Kirche hat eine Kanzel, aber auch einen selbst verordneten Maulkorb. Die Öffentlichkeit hat ein halbes Ohr für die christliche Tradition, aber noch viel mehr Abwehr gegen das, was von dorther kommt. Wir Menschen hören gern, was uns bestätigt. Aber wir schliessen die Ohren vor dem, was uns in Frage stellt.

Kaum ein Lied aus dem Gesangbuch wird ganz gesungen. „Da müsste man zu viel erklären“ heisst es bei jeder zweiten Strophe, wenn dort etwas gesagt wird von „Sünde“ oder „Tod“, von „Gericht“ oder gar vom Teufel. Klar, das Weltbild hat sich verändert. Anderes passt nicht in die politische Landschaft.

In einem Gottesdienst wird aus dem Brief des Jakobus gelesen. Nicht gelesen wird die Stelle über das Gericht an den Reichen. («Siehe, der Lohn der Arbeiter, den ihr ihnen vorenthalten habt, der schreit, und ihr Rufen ist gekommen vor die Ohren des Herrn.»). Gelesen wird aber der Rat: „Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.“

Auch der „Herrgott“ ist anstössig in seiner maskulinen Aussageform. Aber es ist nicht nur die „politische Korrektheit“, die heute den Zugang zur Bibel verstellt. An der Verkündigung des Christentums haben 2000 Jahre Empfindlichkeit gearbeitet, wie der Regen an einem Gebirge, so dass nur noch ein Stumpf sichtbar ist.

Gott sei Dank haben unsere Vorfahren mehr ertragen. Gott sei Dank haben sie die Bibel bewahrt vor all den wohlmeinenden Reinigungen und Verbesserungen. So kann man dort noch den ganzen Hiob lesen, mitsamt seiner Leidensgeschichte. Und Christus sieht man nicht nur die Kinder segnen. Man steht auch dabei, wenn er die Händler aus dem Tempel wirft. Zum Wohl aller Menschen, die sich mit ihrem ganzen Leben wiedererkennen wollen in ihrem Glauben. Die nichts anfangen können mit einem schmalbrüstigen Menschenbild, das von jeder Anfechtung gereinigt und von jedem heftigen Gefühl befreit ist.

Und Gott wird gezeigt in seiner ganzen Leidenschaft, als ein Verfechter von Recht und Leben. Ein starker Gott begegnet uns da, der den Dingen gewachsen ist. Ein Gott, wie wir ihn heute brauchen. Eine starke Verkündigung von Gott können wir nur wiedergewinnen, wenn wir auch die Sache wieder ernst nehmen, für die Gott eintritt in der Bibel.

 

Aus Notizen 2012

Warum werden gewissen Themen aus der Bibel heute aufgenommen, andere nicht? Beachten Sie dazu das Streiflicht «Das halbierte Evangelium» auf der Menu-Leiste dieses Blogs. Weitere Texte im Streiflicht «Der leidenschaftliche Gott».

Foto Patrick Case, pexels