Starke Gefühle in der Bibel

Nicht nur „Sexualität“ ist eine Leidenschaft. Es gibt viele grosse, leidenschaftliche Gefühle in der Bibel: Zorn, Scham, Reue, Liebe, Eifersucht, Kränkung, Rache. Da ist ein heftigstes Gerechtigkeits-Verlangen. Da sind Angst und Wut, Neid und Hass, Elend, Verzweiflung, Jubel, Freude, Dankbarkeit.

Die Bibel ist hochbrausend und voller Temperament, still im Gedenken, versunken in Schönheit. Sie ist gestillt durch Erfüllung und sehnsuchtsvoll gespannt in die Zukunft. Die Bibel handelt von Menschen. Und Gott selbst zeigt sich als Mensch. So gilt auch von ihm und von dem Reden über ihn der Satz: „Ich bin ein Mensch und nichts Menschliches ist mir fremd“.

Das wird ins Höchste gesteigert, da es um Schicksale ganzer Völker geht. Da sind geschichtliche Situationen, wie selten erlebt in Jahrhunderten. Da gibt es Recht und Unrecht, Krieg und Frieden, Völkermord und Deportation – und schon früh auch ökologische Zerstörung und das Leiden an den Folgen.

… und die Rede der Kirche?
Warum redet man nicht davon? Warum hört man nichts davon? Nicht nur „Sex“ ist tabuisiert, fast alle starken Gefühle in der Bibel sind tabuisiert, nicht von der Bibel, aber von ihren Lesern, von den Hörern in der Kirche, von der Gesellschaft, die das nicht hören will.

Ein «zorniger Gott» sei alttestamentlich, das passe nicht zum neutestamentlichen Bild, von daher stammt die Verengung der Rede auf die Liebe, den lieben Gott. Ein «eifersüchtiger Gott», der auf seine Allein-Verehrung drängt, sei archaisch, passe nicht zu einer Zeit der Toleranz zwischen allen Religionen. Gefühle überhaupt seien unangemessen, um von Gott zu sprechen.

Diese Gefühle stehen in der Bibel nie in einem luftleeren Raum. Sie sind sozial eingebettet, so wie auch die Feier von Freude und Leid sozial eingebettet war. Und die Äusserung von Freude und Leid konnte darum leicht in Unruhe umschlagen. Die Menschen wurden bewegt, etwas zu verändern. Darum berichtet schon der römische Geschichtsschreiber Tacitus, der etwa zurzeit Jesu lebte, dass solche öffentlichen Gefühls-Kundgebungen im Römischen Reich verboten waren.

Davon erzählen auch die Evangelien. Als Jesus in Jerusalem einzieht, jubeln die Jünger. Sie erhoffen sich eine neue Zeit, wo auch der Ohnmächtige Recht und der Arme zu essen bekommt. Die Oberen wollen den Jubel unterbinden, da sagt Christus: „Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien.“ (Lk 19,40). Und als er einzieht, preist er die „selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden“. (Mt 5,6)

In Freude und Leid – wir nehmen Gott immer wieder anders wahr. Wir brauchen einen Gott, der uns entspricht. So erscheint er auch in der Bibel. Nur eines ist er in der Bibel nicht: ein Gott ohne Gefühle.

 

Aus Notizen 2012
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Bild Louis Soutter, le culte (Abbildung gemeinfrei)