Baustelle Heimat

Wenn ein Bauer stirbt, kommt das ganze Dorf in die Kirche. Alle nehmen Anteil. Wenn ein ganzer Bauernstand stirbt, ist das kein Anlass, für den man in Kirche geht. Dieses „Bauernsterben“ ist ja auch ein schleichender Prozess. Was geht das also die Kirche an?

Ich habe viel Kontakt zu älteren Menschen in der Gemeinde. Da sind viele, die noch auf einem Hof geboren und aufgewachsen sind. Aber diese Höfe sucht man heute vergebens, sie sind grösstenteils verschwunden. Wir machen heute kein Aufhebens davon. Diese Geschichte ist für uns abgehakt. Und doch sind das keine Geschichten von gestern. Das Bauernsterben geht weiter. In letzten 30 Jahren sind in der Schweiz 130.000 Bauernbetriebe verschwunden, und noch heute gehen jährlich rund 2.000 Betriebe ein. Die Ökonomen reden dann von Strukturbereinigung. Die es erleben, das sind Familien, es sind Lebensschicksale.

Bauernsterben, Handwerkersterben…
Nicht nur die Bauern verschwinden, es gibt auch ein „Handwerkersterben“. Auch daran haben wir uns gewöhnt, jetzt kaufen wir unsere Möbel halt im Laden. Fabriken haben die Rolle des alten Handwerks übernommen. Aber auch die Fabriken verschwinden eine nach der andern aus Ambach. Viele der älteren Ambacher, die ich als Pfarrer antreffe, haben noch in einer Spinnerei oder Weberei gearbeitet. Diese Fabriken sind alle verschwunden. Im Jakobstal steht noch eine Ruine als Erinnerung. Kürzlich hat die Glashütte ihre Tore geschlossen, eine Giesserei hat zugemacht. Die Swissair ist untergegangen. «Glas aus Ambach» – das war ein Erkennungszeichen. «Swissair und die Schweiz», das gehörte zur Identität. Kein Wunder haben viele verletzt reagiert. Die Teilnahmslosigkeit, mit der wir sonst den „Strukturwandel“ ertragen, wurde aufgebrochen.

Noch selten hat die menschliche Geschichte so schnell an ihrem Rad gedreht wie heute. Seit der Jungsteinzeit, also etwa 15.000 Jahre lang, lebten wir in einer landwirtschaftlich geprägten Kultur, in einer Agrar-Gesellschaft. Vor 200 Jahren begann etwas Neues, die Industrie-Gesellschaft. Seit einigen Jahrzehnten spricht man von Dienstleistungs-Gesellschaft. Und nun steht eine neue Revolution bevor, die Informations-Gesellschaft. Die Politiker erwarten von ihr eine völlige Umkrempelung aller Lebensbereiche. – Das Tempo, in dem die Geschichte ihre Seiten umblättert, bemisst sich zunächst nach Jahrtausenden, dann nach Jahrhunderten, dann Jahrzehnten, jetzt sind es Jahre. Das Tempo als solches wird zum Problem.

Begleitung im Wandel
Die agrarische Welt ist zu Ende. 15.000 Jahre lang hat sie uns ihre Sprache geliehen, um unsere tiefsten Überzeugungen und Ahnungen auszudrücken. Seit der Mensch in der Steinzeit sesshaft wurde und begann die Erde zu bebauen, hat das seine Kultur bestimmt. Die alte Religion der Jäger und Sammler wurde von einer Ackerbau-Religion abgelöst. In ihren Bildern haben die Menschen gelernt, sich selber zu verstehen, woher sie kommen, wer sie sind, was ihre Würde ausmacht. So konnten sie ihre Hoffnung ausdrücken und ihre Dankbarkeit.

Bilder des Vertrauens
Wir müssen eine neue Sprache finden, die ihre Bilder aus den Erfahrungen der heutigen Zeit schöpft. Bilder, die uns Vertrauen geben, Worte, unter denen wir uns verwandeln und uns selber besser begreifen. Sonst wird der Glaube kraftlos, und der Pfarrer hat nichts mehr mitzuteilen, wenn er ans Krankenbett tritt.

Die Bilder wandeln sich. Eines aber bleibt: Das ist die Wirklichkeit, welche von den Bildern gemeint ist. Und die Mitte der Wirklichkeit, das ist Jesus Christus. Wir kennen immerhin seinen Namen. In ihm erhält die Wirklichkeit ein Gesicht. Er kommt uns entgegen, vom Ursprung her. Wir können ihn anrufen, ihm alles anvertrauen. Er sagt uns seine Begleitung zu und bringt uns ans Ziel.

Christus spricht: „Ich bin das A und O, der Anfang und das Ende. Und ich will dem Dürstenden aus dem Quell des Lebens geben.“

Aus einem Gottesdienst 2002