Arbeit im Innersten

Er erkennt: er trägt seinen bittersten Feind in sich selbst. Dort ist der Kampf noch nicht zu Ende. Und er begreift: Er muss hinabsteigen in sein tiefstes Inneres, wo er jene peinvollen Erinnerungen versteckt hält. Wenn er dort nicht zum Frieden kommt, bleibt er für immer gebunden an seine Geschichte. Sie hat sich ihm eingebrannt, immer wieder ist er verurteilt, sie zu wiederholen.

Ich möchte erzählen aus dem Leben eines Menschen, der viel erlebt hat von Unrecht und Gewalt und viel nachgedacht über den Frieden. Er hat dafür den Nobelpreis erhalten. Es ist Elie Wiesel, der in vielen Büchern von seinen Erlebnissen berichtet hat. Er war zwölf Jahre alt, als seine Familie zum ersten Mal deportiert wurde. Sie lebten damals in einem kleinen Dorf in Rumänien. Hitler-Deutschland hatte den 2. Weltkrieg entfesselt und begann, systematisch die Juden auszurotten. Mit 14 wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz getrieben.

Die Nacht
Nie werde ich jene Nacht vergessen“, so erzählt er, „die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.
Nie werde ich diesen Rauch vergessen. (…)
Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.
Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich für alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat.
Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten. (…) Nie werde ich vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.“ (S.56)

Das Trauma
Diese Erlebnisse haben ihn im Innersten verstört. Wie soll man das auch verarbeiten, was er und seine Familie erlebt haben? Gewalt und Verfolgung – vielleicht weniger schlimm als damals, aber schlimm genug – gibt es an vielen Orten dieser Welt, auch heute noch. Wie sollen Menschen damit fertig werden? Da hört das Nachdenken oft auf. Wir hören in den Nachrichten davon, wir fühlen uns hilflos, schweigen still und gehen weiter, wir haben keine Antwort. Elie Wiesel geht den Weg weiter. Er wird zum Zeugen für uns, kann erzählen, wie es ist an diesen Orten der Gewalt, wo der Hass entsteht und der Wunsch nach Vergeltung.

Das Ende des 2. Weltkrieges befreit ihn aus dem Konzentrationslager. Aber die Gewalt lässt ihn nicht los. Er ist jung, etwa 17 Jahre alt, und wird für die zionistische Bewegung rekrutiert. Diese kämpft für einen unabhängigen Staat Israel. Dabei setzt sie auch Gewalt und Terror ein. (Es ist das, was wir auch heute aus vielen Konfliktgebieten dieser Welt hören.) Wieder sieht sich Elie Wiesel mit Gewalt konfrontiert, aber jetzt steht er auf der anderen Seite!

Der Kampf
„Ich hatte schon einmal getötet. (…) Seit meiner Ankunft in Palästina, vor einigen Monaten hatte ich teilgenommen an zahlreichen Scharmützeln gegen die Polizei, an Dutzenden von Sabotageakten, an Überfallen auf Truppentransporte, die die grünen Pfade Galiläas oder die weissen Strassen der Wüste durchzogen. Häufig hatte es auf beiden Seiten Tote gegeben. Indessen war das Verhältnis immer zu unseren Gunsten ausgefallen, denn die Nacht war unsere Verbündete. Unsichtbar und unangreifbar konnten wir an den überraschendsten Stellen, in den unerwartetsten Augenblicken zuschlagen, ein Truppenlager vernichten, ein Dutzend Soldaten niedermachen und spurlos verschwinden. Zweck und Ziel der Bewegung war: die grösstmögliche Zahl Soldaten zu töten. So einfach war die Sache.“ (S. 180)

„So einfach war die Sache“ – Ist sie so einfach? Ist es so einfach, aus einem Opfer zu einem Täter zu werden? Ist es so einfach, zu vergessen, was man erlebt hat? Wie man sich fühlt, wenn man verfolgt wird? Ist es so einfach, jetzt selber zu töten und zu morden? Die jungen Menschen in der Bewegung zögern, aber sie werden für den Kampf geschult. Ein Ausbildner meint:

Keine Wahl
Ich weiss, es ist ungerecht, es ist unmenschlich, es ist grausam. Aber wir haben keine andere Wahl. Generationen hindurch haben wir besser, reiner sein wollen als unsere Verfolger. Ihr kennt das Ergebnis: Hitler und die Vernichtungslager. (…) Wir können mit niemandem rechnen, nur mit uns selbst. Wenn es Not tut, ungerecht und unmenschlich zu sein, um diejenigen zu verjagen, die ungerecht und unmenschlich gegen uns gewesen sind, werden wir es auch werden…“ (182)

Plötzlich sieht sich Elie Wiesel auf die andere Seite gestellt, aus einem Opfer ist er zum Täter geworden. Er schreibt (S. 183): „Das erste Mal, dass ich an einer Aktion teilnahm, hatte ich mich unmenschlich anstrengen müssen, um meinen Widerwillen zu unterdrücken. Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in dunkelgrauer Uniform, in SS-Uniform.“ (183)

Elie Wiesel erschrickt. Aus Opfern sind Täter geworden und aus Unschuldigen neue Opfer. Haben sie nichts aus der Geschichte gelernt? Und was ist mit ihm selbst, hat er sich nicht selber verloren auf diesem Weg? Hat er sich nicht denen angeglichen, die er am meisten hasste? „Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in … SS-Uniform.“

Wozu war all das Leiden gut?
Wozu war all das Leiden gut, wenn es jetzt einfach so weiter ging? Sollte es nicht aufrütteln und mithelfen, diesen Irrsinn zu stoppen? Verändert einen das Leiden nicht, sodass man sich verweigert und der Gewalt abschwört?

„Nein!“ sagt Elie Wiesel, „das Leiden schwemmt das Niedrigste, das Feigste im Menschen hoch. Es gibt im Leiden einen Markstein, hinter der man ein Tier wird. (…)
Die Heiligen, das sind diejenigen, die vor dem Ende der Geschichte sterben. Die anderen, diejenigen, die bis ans Ende ihres Schicksalsweges gehen, wagen nicht mehr, sich im Spiegel zu betrachten, aus Angst, er möge ihr inneres Abbild widerspiegeln: das Ebenbild eines Ungeheuers.“ (313)

Elie Wiesel hat beides erlebt, Gewalt und Gegengewalt. Aber es hat nichts gebracht. Gewalt bringt nie Frieden hervor, immer nur neue Gewalt. Sie erzeugt immer neue Opfer und neue Täter und hat nie genug. Friede wird so nie, und Gerechtigkeit hat keine Chance. Das Reich Gottes, ein Zustand, in dem Menschen in Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben – mit Gewalt lässt es sich nicht erzwingen.

Arbeit im Innersten
So erlebt es auch Elie Wiesel. Liebe wäre eine Antwort, wir warten auf das Stichwort. Es ist das, was der Glaube lehrt. Aber die Liebe kommt bei Elie Wiese zu spät. Er ist zwar noch jung, als er aus dem KZ befreit wird, und er lernt auch eine Frau kennen, die ihm Liebe schenkt. Aber er kann sie nicht annehmen.

Es ist als ob etwas zerbrochen wäre in seinem Innern. Er kann Liebe nicht annehmen. Er kann es nicht fühlen, nicht auf sich beziehen. Er erkennt: Er trägt seinen bittersten Feind in sich selbst. Dort ist der Kampf noch nicht zu Ende. Dort entsteht er immer wieder neu, der Krieg, der Hass, die Ablehnung, die Scham.

Und er begreift: Er muss die Friedensarbeit bei sich selbst anfangen. Er muss hinabsteigen in sein tiefstes Inneres, wo er jene peinvollen Erinnerungen versteckt hält. Er muss seinen tiefsten Verletzungen wieder begegnen, denn dort entsteht das immer wieder neu. Aus Angst wird Hass und aus Hass Aggression.

Wenn er dort nicht zum Frieden kommt, bleibt er für immer gebunden an seine Geschichte. Sie hat sich ihm wie eingebrannt, immer wieder ist er verurteilt, sie zu wiederholen. Mit immer anderen Menschen. Wer in sein Leben tritt, der wird erfasst von seinem Misstrauen. Er sieht ihn im Bild der alten Erfahrungen, und die alten Gefühle steigen wieder auf. Er kann es nicht ändern.

Er muss Frieden finden in sich selbst. Und das gilt in grossem Massstab auch für all die Orte in der Welt, wo Konflikte herrschen, wo Krieg und Verfolgung geschehen. Da werden ganze Generationen von Menschen traumatisiert. Sie werden unfähig zum Frieden, weil man ihnen den Konflikt ins Innerste einpflanzt. Und so wirkt er immer weiter fort. Friedensarbeit ist eine Arbeit für Generationen, aber sie muss bei jedem einzelnen beginnen, dass er Frieden findet in sich selbst.

 

Aus Notizen 2004
Zitate aus Elie Wiesel, „Die Nacht zu begraben, Elischa“, München 1961
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