Die Scham oder der Körper

Der Körper bewahrt in sich die Erinnerung an die Verletzung und er verkrümmt sich so, dass diese nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigt. Damit verewigt er sie aber im Gegenteil. Das Kind hat sich totgestellt, es hat den Atem angehalten, die Glieder eingezogen. So spürt es nichts. Wenn immer etwas an seine schmerzhafte Erinnerung rührt, nimmt dieser Mensch unwillkürlich diese Haltung wieder ein, der Atem stockt, der Körper erstarrt, die Empfindungen werden nicht mehr verspürt. Das Kind fühlt sich wie tot.

Er heiligt das Verpönte
Der Körper gehört dazu, der Körper ist das andere Element im Sakrament. Jesus Christus als das Ursakrament ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Seine Herabkunft ist nicht nur theologisch, sondern auch praktisch wahrzunehmen. Und zwar die Herabkunft bis ans Kreuz, bis zu dem Ort der Scham und Schande draussen vor Jerusalem, dem unreinen Ort, wo er hingerichtet wurde, denn er wurde zu den Verbrechern gezählt. Ohne Kreuz kein Heil, ohne Herabkunft keine Auffahrt. Ohne Körper und Welt kein Himmel.

Scham und Schande sind geheiligt, es ist der Ort, wo Christus bei den verletzten Menschen ankommt und sie heilt. Es ist der Ort der Ankunft, wo das Heil geschieht.

Der Körper bewahrt in sich die Erinnerung an die Verletzung und er verkrümmt sich so, dass diese nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigt. Damit verewigt er sie aber im Gegenteil. Das Kind hat sich totgestellt, es hat den Atem angehalten, die Glieder eingezogen. So spürt es nichts. Wenn immer etwas an seine schmerzhafte Erinnerung rührt, nimmt dieser Mensch unwillkürlich diese Haltung wieder ein, der Atem stockt, der Körper erstarrt, die Empfindungen werden nicht mehr verspürt. – Das Kind fühlt sich wie tot.

Abschneiden der Lebendigkeit
Es hat für das Überleben die Lebendigkeit geopfert, sagt der Körperpsychologe Alexander Lowen. Damit aber auch die Spontaneität, das Verfügen über jene selbstverständlichen Verhaltensweisen, die es uns erlauben, uns zu bewegen, uns in ein Verhältnis mit uns selbst zu setzen und mit den Menschen rund herum.

Das Kind „verkrümmt sich“, habe ich gesagt. Das Wort bezeichnet in der theologischen Tradition die Erbsünde (incurbatum in se ipsum). Das hat nichts mit Sexualität zu tun, aus der oben geschilderten Erfahrung ist es eher eine in der Kindheit eingeübte Haltung, die für das Überleben alles andere opfert.

Die Kinderfresser-Religion
Das ist eine Art Kinderfresser-Religion, die dringend zu christianisieren ist. (Aus Angst ist der Mensch in sich verkrümmt, im Vertrauen auf das Evangelium kann er sich entfalten. Aber dieses Vertrauen, Glauben, verfällt immer wieder dem Zweifel. Der Weg durch den Köper hilft dem Glauben und dem Leben aus dem Glauben.)

In dieser Verkrampfung, in der das Kind sich totstellt, gerät auch die Sexualität in Feindschaft zum denkenden ängstlichen Ich. Es gehört zu den Empfindungen, die geopfert werden, die, wenn sie durchbrechen, Angst und Scham auslösen, weil die Deckung verlassen ist. Aber nur von Sexualität zu sprechen, verengt das Thema. Es ist das ganze Leben, das hier abgeschnitten wird.

 

Aus Notizen 2007
Das erwähnte Buch: Alexander Lowen, The betrayal of the body. Deutsch: Der Verrat am Körper. Bern und München 1980.

Mehr zu diesem Thema finden Sie in den Streiflichtern: «Auf der Suche nach dem wirkmächtigen Zeichen» und «Körper-Spiritualität». (Auf der Menu-Leiste des Blogs «Streiflichter» anklicken.)
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