Das Ganze

„Was ist das?“ fragte ich unsere kleine Tochter, als sie einen Kreis auf ein Papier malte. „Alles“, sagte sie. – Schon kleine Kinder haben ein Bedürfnis nach Orientierung. Sie brauchen eine Karte von „allem“, wo sie sich verorten können. So auch die Erwachsenen. Mit dem Verlust der Traditionen sind solche Karten verloren gegangen. Die Wissenschaft kann den Ersatz nicht geben. Die physikalische Theorie von „allem“, wie sie in der Suche nach einer einheitlichen Beschreibung der Energieformen oder in der Theorie vom Urknall versucht wird, antwortet nicht auf die Fragen des Menschen in seiner individuellen und kollektiven Existenz.

Das Gebet
Mein Anlass, darüber nachzudenken, ist das Gebet. Da ist eine Lebenssituation, in der ich Orientierung suche. Im Gebet stelle ich mich vor Gott. Alles breite ich vor ihm aus, alles übergebe ich ihm, auch mich selbst. In dieser Betrachtung bekommt alles eine neue Ansicht. Es klärt sich. Die Motivation stellt sich ein, eine neue Haltung zu mir und zu meiner Situation. Danach kann ich auf alles zugehen, was vor mir liegt. Vertrauen und Zuversicht sind gestärkt. Probleme sind nicht aufgehoben, aber in einen Horizont gestellt, in dem sie aufgehoben werden.

Im Gebet wird „alles“ angesprochen, in einem Augenblick. All die Themen der alten Metaphysik, Gott – Mensch – Welt, tauchen auf. Sie werden in diesem Akt für mich „konstituiert“. Indem ich mich vor Gott stelle, fasse ich „alle Wirklichkeit“ in einem „Du“ zusammen. Es ist mein Vertrauen, das hier die Feder führt, nicht mein Denken, das ist nur am Rande beteiligt. Es ist die Not des Menschen, der handeln muss in diesem Augenblick. Es ist die „praktische Vernunft“, nicht die theoretische Spekulation, die vom Schreibtisch aus die Welt betrachtet.

Das Notrecht, zu denken
Ich bin kein Philosoph und kein akademischer Theologe. Es geht mir nicht um eine „Theorie von allem“, schon gar nicht um ein System. Mein Beten greift notrechtlich in diese Bezirke ein, die die Fachvertreter vor andern verschlossen haben und die der Zeitgeist scheinbar für alle Zeit „verabschiedet“ hat. Es ist der Mensch, der in seiner Not Gott anruft und damit eine ganze Welt voraussetzt, eine Welt, Gott und ein Ich – und eine Sprache, wo das alles laut werden kann, eine ganze religiöse Kultur.

Wenn man „alles“ in theoretische Begriffe fasst, erhält man eine Metaphysik. Wenn ich es in ein Gegenüber fasse, in ein „Du“, dem ich begegne, im Augenblick des Lebens, dann entsteht ein Gebet. Und aus diesem „alles“ werde ich gestärkt, getröstet, klarsehend wieder in das „Einzelne“ zurückkehren, das uns einzig für unser Leben gegeben ist.

Metaphysik-Kritik – worum ging es ihr?
Worum ging es denn in der Kritik an der Metaphysik? Und was ist die Aufgabe heute? Die Erinnerung kann beim Philosophen Immanuel Kant einsetzen, bei dem sich viele Traditionen kreuzen. Kant schrieb, die menschliche Vernunft werde von Fragen belästigt, die sie nicht abweisen könne, denn diese seien ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben. Die Vernunft könne diese Fragen aber nicht beantworten, da sie all ihr Vermögen übersteigen.

Ohne eine „Kritik“ des Erkenntnisvermögens, das falsche Wege entlarvt und richtige begründet, tappe man im Dunkeln. So sei die Metaphysik in der Geschichte ein Kampfplatz von endlosen Streitereien gewesen, zwischen der Despotie des Dogmatismus und der Anarchie von Skeptizismus und Indifferentismus.

Gegen Despotie und Indifferentismus
Was es zu vermeiden gilt, sind also Despotie auf der einen Seite und Skeptizismus und Indifferentismus auf der andern Seite. Die Abwehr richtet sich gegen die Tyrannei jener, die angeblich über die Wahrheit verfügen, aber auch gegen die andern, die in der Abwehr zu weit gehen und nichts mehr gelten lassen. Es sei überhaupt nicht möglich, so sagen sie, zu sicheren und verbindlichen Aussagen zu gelangen. So überliefern sie die Ordnung des menschlichen Lebens der Macht oder der Beliebigkeit. Und sie enttäuschen die Menschen in ihrem Orientierungsbedürfnis und stürzen sie in Verzweiflung, weil ohnehin alles relativ oder sinnlos sei.

Diese doppelte Gegnerschaft gegen Despotie und Indifferentismus zeigt den historischen Standort dieser Kritik. Und das macht die Position von Kant „modern“ in der Wahrnehmung der Probleme. Hier ist ein Standort, der unter Kirche, Staat und ideologischer Macht gelitten hat und jeder Möglichkeit einer Neuauflage den Boden entziehen will. Das ist das emanzipative und demokratisch-liberale Moment der Aufklärung.

Aufbau und Begründung
Hier ist aber auch die Erinnerung an Revolutionen, Kriege und Bürgerkriege, die in beispiellose Gewalt, Anarchie und Zynismus geführt hatten. Das war immer wieder der Ausgangspunkt für die Fragen der Metaphysik, wie etwa bei Platon, der nach einer Position für das Leben und Zusammenleben suchte. Diese Position ist kritisch begründet, so dass sie eine Übersteigerung von Macht und Anspruch kritisch zurückweisen kann. Sie ist aber auch kritisch begründet, so dass sie dem Gegenteil entgegentreten kann: Zynismus, Anarchie und Zerfall der Ordnung. Es bewahrt die Erinnerung an ein traumatisches Geschehen, das nicht mehr wiederkommen soll.

Heute gilt es, neben der Kritik an übersteigerten Geltungsbehauptungen auch die Begründung von Positionen wieder wahrzunehmen. Wer Häuser niederreisst, muss auch neue bauen.

 

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