Klage der Menschen, die nach uns kommen

Wer ist schuld am Artensterben, an der Klimakrise? Sicher nicht die Generation, die jetzt geboren wird. Sind wir es also, die Älteren? Oder sind es unsere Vorfahren?

Die Bibel kennt ein Sprichwort: “Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Gemeint ist: Die Väter haben Fehler gemacht, aber wir müssen es ausbaden. Die Vorfahren sind einen falschen Weg gegangen, und wir Nachkommen müssen die Folgen tragen.

Wir kennen diese Redensart nicht, die Sache aber schon. Wir können uns die Zeit nicht aussuchen, in der wir leben. Und was das Leben heute bestimmt, das ist in der Zeit vor uns vorbereitet worden. Da ist viel Gutes, auf dem wir aufbauen können. Ohne das ginge es gar nicht, ohne diese ungeheure Arbeit der Vorfahren, die Land und Gesellschaft aufgebaut haben. Aber es gibt auch Dinge, die wir ausbaden müssen, ohne dass wir sie angerichtet haben. Darum beklagten sich die Menschen im alten Israel: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“

Wie übergeben wir das Land?
Auch die Menschen, die nach uns kommen, werden wohl Grund haben, in diese Klage einzustimmen. Wie übergeben wir ihnen das Land, das wir erhalten haben? Wie geben wir die Natur an unsere Kinder weiter? Haben wir die Landschaft nicht zersiedelt, die Naturschätze ausgebeutet? Erzählen die Nachrichten nicht jeden Tag davon?

Die Generationen kommen und gehen, sie geben sich den Stab in die Hand wie bei einem Stafettenlauf. Wir kriegen von unseren Vorfahren Gutes und Schlechtes. Und wir geben unseren Kindern Gutes und Schlechtes. Wir können nicht bei der Klage stehen bleiben, wo wir uns als Opfer fühlen. Wir können alte Rechnungen nicht endlos offen halten, auch wenn uns etwas sehr gekränkt hat im Leben. Und wir brauchen auch für uns die Vergebung der Kinder und Nachkommen für das, was wir getan oder nicht haben in unserem Leben.

Der Prophet Ezechiel sagt darum seinem Volk in der Bibel: „Bei euch geht ein Sprichwort um: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dieses Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne. Ich will euch richten einen jeden nach seinem eigenen Weg, spricht Gott der Herr. Darum kehrt um, so werdet ihr leben!“ (Ez 18, 1ff)

Wo beginnt die Schuld?
Die moralische Zurechnung wird hier individualisiert. Das ändert aber nichts daran, dass Kinder und Enkel manchmal ausbaden müssen, was Eltern und Grosseltern angerichtet haben. Oft geht das aber weit zurück, die Anklage kann bei Eltern und Grosseltern nicht Halt machen. Im Fall von Artensterben und Klimakatastrophe ist es der ganze zivilisatorische Entwicklungspfad, der schon in grauer Vorzeit eingeschlagen wurde.

Manche identifizieren diesen Punkt mit der Menschwerdung selber, mit dem Austritt aus dem „Paradies“ des instinktgeleiteten Verhaltens, durch das der Mensch eingebettet war in ein natürliches Gleichgewicht. Oder mit der „neolithischen Revolution“, als der Mensch die genügsame Existenz als Sammler und Jäger aufgegeben hat; oder mit der Industrialisierung, als alle Zahlen durch die Maschinen-Produktion explodierten und die Wirtschaft an ökologische Grenzen stiess; oder mit der Aufklärung, die eine Feindschaft gesetzt habe zwischen Geist und Natur…

Dass wir „ausbaden“ müssen, was unsere Vorfahren verschuldet haben, gibt es nicht nur in der äusseren Natur, sondern auch im Inneren. Es gibt traumatische Erfahrungen, die „vererbt“ werden. Es gibt Geschicke, die von einer Generation an die andere weiter gereicht werden, wie Ins-Wasser-Gehen, Trunkenheit, Spielsucht, Gewalttätigkeit, Missbrauch etc. Hier stehen wir in der Reihe, im Stafettenlauf der Generationen.

Jede Generation nimmt aber nicht nur passiv auf, sie arbeitet auch daran, sie ist kreativ, schon in der frühsten Kindheit, damit sich solche Erblasten auswachsen sollen. Und das ist ja auch die Zusage im Alten Testament: Der Fluch geht bis ins vierte und fünfte Glied. Die Gnade aber geht bis ins tausendste Glied. (2. Mose 20,5)

Die Kette der Generationen
Jede Generation ist darum nicht nur „Opfer“. Sie gibt auch weiter, was sie aufgenommen hat. Und es tut verdammt weh, zu sehen, wie man unverarbeitete Konflikte an seine Kinder weitergibt, wie sie vom selben Virus infiziert werden. Kinder kommen mit einem gewaltigen Überschuss von Vertrauen auf uns zu und man möchte sich lieber den Arm ausreissen, als dieses Vertrauen zu enttäuschen. Aber wir haben nicht alles in der Hand. Und die Kinder erleben uns auch, wenn wir an einer Grenze stehen.
Liebe und Vergebung und die ungeheure Bereitschaft zu vertrauen richten viel aus. Sie werden uns nicht für immer verdammen. Aber weh tut es schon. Und alles ist deswegen nicht ungeschehen gemacht, wenn etwa ein Kind eine Charakter-Disposition übernimmt, an der wir selber schon leiden. Soll es unsern Weg wiederholen müssen?

So erleben wir es bei den „kleinen Themen“ unseres seelischen Wohlbefindens, aber auch bei den grossen Themen: wie wir mit der Natur umgehen. Wir sind verstrickt in die Systeme der Weltwirtschaft mit ihren ungleichen Chancen.

Ethik und Erlösung
Hier ist die Auskunft, dass Gott nur den individuellen Schuldanteil anrechnen werde, noch keine Hilfe. Darum hat der Schuldbegriff in den 1000 Jahren, in denen die Bibel entsandt, ja auch eine Entwicklung durchgemacht. Was in der Kirchengeschichte später „Erbsünde“ genannt wurde, begegnet im Alten Testament als Verstrickung. Der Mensch ist wie ein „verzogener Pfeilbogen“, beklagt sich Gott bei einem Propheten. Man kann noch so genau mit ihm zielen, man trifft nicht ins Schwarze. Das Volk ist „hart von Nacken“. Es lässt sich schwer lenken wie ein Ochse am Pflug, der nur schwerfällig auf den Stichel reagiert.

Wir sind verstrickt in Zusammenhänge, durch die wir uns verfehlen, auch wenn wir das gar nicht wollen. Wir können nicht individuell aus der Weltwirtschaft aussteigen, den Staat und die Gesellschaft nicht verlassen, auch wenn das einzelne immer wieder versuchen und sich selbst als „Republik“ ausrufen. Bei den besten Motiven können wir uns doch verfehlen. Wir können „objektiv schuldig“ werden, auch wenn wir „subjektiv unschuldig“ sind. Wer in Europa oder in den USA geboren ist, profitiert einfach von den Ungleichgewichten auf dieser Erde, ob er will oder nicht.

Diese Einsicht führt in der Bibel schliesslich zum Konzept der Erlösung. Ethik allein richtet es nicht. Wir Menschen, die ganze Menschheit, sind nicht in der Lage, die Bedingungen unserer Existenz selber zu kontrollieren und die Welt, in der wir uns vorfinden, nach unserem Belieben zu gestalten. Es übersteigt den Rahmen jeder möglichen Verantwortung. Auch wenn wir die Folgen unseres Verhalten trotzdem tragen. Es gibt eine Asymmetrie der Verantwortung, da wir schädigen, was wir nicht reparieren können. Und es gibt eine Asymmetrie der Lösung, da nicht wir es sind, die sie in der Hand tragen (wir können aber mitwirken!). Es ist Gott, der die Welt geschaffen hat, der auch ihre Zukunft in Händen trägt.

Gott als Lückenbüsser?
Und es ist nicht eine Frage an die Wissenschaft, ob sie Gott „beweisen“ kann. Es ist eine Frage an unser Vertrauen, ob wir uns getragen wissen können, trotz unserer Schuld, ob wir Hoffnung haben können, trotz der Folgen unserer Verfehlung, die wir sehen. Ob wir also unser Dasein in der Welt und unsere Orientierung so ausrichten können, dass das Vertrauen wieder eine Chance erhält und nicht in den Höllenkreisen der Angst und des Sicherheitsdenkens versinkt.

Ja, wir tragen eine Verantwortung für die Zerstörung der Erde, vielleicht seit der „Menschwerdung“, seit der „Vertreibung aus dem Paradies“. Jeder hat eine Verantwortung und jeder steht in der Reihe der Generationen, wo er nimmt und weitergibt, wo er leidet und verursacht. Moral allein richtet es nicht, obwohl sie wichtig ist, für das Verhalten, dass wir richtige Wege einschlagen und dass jeder einzelne dazu beiträgt.

Und doch ist Moral allein nicht in der Lage, diesen Berg zu versetzen, der da im Wege steht. Was Berge versetzen kann ist der Glaube. Wenn das Vertrauen sich nicht erneuern kann, übernimmt die Angst das Szepter. Und ihr Rezept ist die Kontrolle. Wie weit das im Internet-Zeitalter gehen kann, zeigt das Beispiel China, wo jeder einzelne in seinem Verhalten kontrolliert und bewertet wird und durch ein Punktesystem auch gleich sanktioniert.

Hoffnung
Wenn die Hoffnung verloren geht versinkt alles in Hass und Verbitterung. Wenn nicht mehr verstanden wird, was früheren Generationen mit „Liebe“ meinten, dann ist der Krieg aller gegen alle nicht weit. Das beginnt schon in der Familie, wo das Vertrauen verloren geht. Es geht weiter in Gesellschaft und Wirtschaft, wo man sich nicht mehr an „Treu und Glauben“ gebunden fühlt. Es untergräbt den Staat, der zerfällt oder von reichen Cliquen ausgenommen wird. Das alles kann man heute schon in grossem Stil beobachten.

Es ist nicht naiv, wenn Paulus seine Hoffnung auf drei Wege setzt, die so schwach wirken in dieser Welt. Sie haben eine ungeheure Kraft. Er lebte selbst in einer Zeit weltweiter Spannungen und Konflikte. Er ist Realist, wenn er sagt: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei, am grössten unter ihnen aber ist die Liebe.“