„Im Jahr des Herrn“

„Im Jahr des Herrn“, so mass man früher die Zeit. Weil das Christentum die Welt erobert hatte und darum alles Christus gehörte? Nein, weil er mitgeht im Lauf der Zeit. Weil er mitleidet mit den Menschen.

Das begreife ich jetzt in der Passionszeit. In den Katastrophen, von denen berichtet wird, in Krieg, Gewalt und Lieblosigkeit. Er leidet mit. Es ist seine Passion, nicht als Allegorie, sondern wirklich. Das rückt alles ins Licht der Erzählung vom Leiden Gottes, wie er die Welt schafft, in die Welt kommt und hier seinen Weg geht. Es ist nicht mehr namenlos, es hat einen Rahmen, es hat eine Deutung, es hat ein Ende und das Ende ist nicht tragisch. Es heisst Erlösung.

Die Geschichte als Passion
Die Passion ist die Abbreviatur der Geschichte. So wissen wir, was wir zu erwarten haben: Begeisterung und Abfall, Anhängerschaft und Verlassenheit, Spott und Hohn, Tod und Leid. Ruhe unter dem Kreuz. Stille und Wahrnehmen des „andern“. Dann beginnt ein neues Verstehen aus dem „andern“. So werden mythologische Sprachformen wieder salonfähig: Anfang, Getragen-Sein, Begleitet-Sein, Weg, Mitte, Ziel.

Ich lese in dieser Zeit im Tagebuch vom 28. Dezember 2012. Die Zeitung titelte:
„Die Regierung fühlt sich ohnmächtig.“ Es ging um die Klima-Konferenz. Experten sagten, das Zwei-Grad-Ziel sei schon verfehlt. Wir gingen auf Erfahrungen zu, die für die menschliche Zivilisation bisher unbekannt seien. Die Idee drängte sich mir auf, unsere Zeit mit ihren Erfahrungen einzuschreiben in die Erzählung der Passion.

Die wirkliche Gegenwart Christi in der Passion dieser Zeit
Die Bibel kann das Finsterste erzählen, weil sie einen Heilsrahmen darum legt. So wird das Allerdunkelste aufgehoben. Der Weg geht im Leiden Christi durch die dunkelsten Folterkeller, die tiefste Verlassenheit dieser Welt. In ihm versöhnt Gott alles mit sich, bis er „alles in allem“ ist. So werden die denk- und lebensnotwenigen Intuitionen von Recht und Barmherzigkeit aufgenommen. Und Geschichte wird erzählt von dem her, was wir wissen, nicht von dem her, was wir sehen.

Das Kirchenjahr als Mysterien-Feier
Der Weg Jesu wird lesbar als Deutung der Weltgeschichte. Sie ordnet sich neu, Stationen werden erkennbar: Sind das nicht Merkmale des Karfreitags? Ereignisse wie am Karsamstag? Wird ein grosses Ostern kommen?

Das Kirchenjahr ist die Mysterien-Feier für unseren Weg. Wir spiegeln uns im Weg Christi, wir verstehen uns aus seinem Geschick. Wir finden Trost an seiner Begleitung in der Tiefe. Wir freuen uns mit in seiner Anteilhabe am Ganzen.

Der Weg verläuft in der Gebrochenheit dieser Welt, wo das Ganze nur stückweise erfahren wird. Aber doch erhaschen wir ein Stück. Wir feiern den Frieden mitten im Krieg. Wir bekräftigen unseren Glauben an Recht und Barmherzigkeit kontrafaktisch. Die Wirklichkeit ist letztlich nicht feindlich, sondern entspricht den tiefsten Intuitionen, die wir in uns tragen.

Der Lauf der Geschichte wird beeinflusst
„Im Jahr des Herrn“ – das deutet die Geschichte nicht nur, es beeinflusst sie auch. Die Darstellung, die Johannes in der Bibel gibt, fordert zur Entscheidung. Sie bleibt scheinbar in der Innerlichkeit des Glaubenslebens. Aber die Entscheidung hat Folgen für das Verhalten. So gilt es auch für das soziale Leben: Ein Mensch begegnet mir. – Sehe ich Jesus Christus im andern? Welten scheiden sich daran. Der Lauf der Geschichte wird beeinflusst: meine, seine, unsere Geschichte.

Aus Notizen 2012 und 2013