Unterm Schnee

Ich habe Schnee geräumt, es gab schon lange nicht mehr so viel. Es ist ein gutes Gefühl: Alles liegt unter frischem Weiss.

Das erinnert mich an den Psalm: „Decke unsere Sünden zu.“ Das fand ich früher skandalös, fast korrupt.  Fehler muss man doch beheben, nicht zudecken… Jetzt ist es ein wohltuender Gedanke: Decke unsere Fehler zu! Unter dem Schnee stirbt das Alte ab, es ist ein gnädiges Sterben, im nächsten Frühjahr gibt es einen neuen Anfang. Der Winter ist wie ein Sieb: Was untergehen muss, geht unter, was wichtig ist, bleibt oder kommt wieder.

Die Büsche stehen tief gebückt unter dem Schnee. Beim Wischen stosse ich mit dem Besen an die Äste. Sie schütteln ihre Last ab und richten sich auf. – Was Kirche kann? – Nicht eine Last abnehmen, nicht heilen, aber mit dem Besen an dem Ast rütteln, dass er seine Last abwirft und sich aufrichtet.

Nicht alle Büsche habe ich geschüttelt. Nach zwei Tagen regnet es. Jetzt sind alle Büsche schneefrei, aber viele verharren in der gebückten Haltung. Sie haben sich an die Last gewöhnt, sie brauchen Zeit, bis sie sich aufrichten. Es braucht Geduld, wenn man ein halbes Leben lang gebückt ging.

Aufrecht leben geht nicht von heute auf morgen. Es gibt Rückschläge, es gibt imaginäre Lasten, die wie ein Phantomschmerz in amputierten Gliedern sitzen. Da schmerzt der Fuss, auch wenn er schon lange nicht mehr da ist. – Die alte Last ist weg. Richte dich auf!

Aus Notizen 2008