Kain und Abel 2022

Wir haben den Film «Der Unschuldige» gesehen (l’Innocent von Louis Garrel). Es ist ein Beitrag zu Schuld und Unschuld, Täter und Opfer – Zuschreibungen, die heute in Politik und Gesellschaft ungeheure Wirkung entfalten. Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Gibt es einen Weg hinaus?

Abel – oder Kain?
Der jugendliche Held heisst Abel. Die Geschichte erinnert an Kain und Abel. Sein dunkles Gegenüber ist aber nicht der Bruder, es ist ein Krimineller, der für Raub fünf Jahre im Gefängnis sitzt und in den sich seine Mutter bei ihren Theaterprojekten im Gefängnis verliebt. Oder das dunkle Gegenüber sitzt in ihm selbst: er hat ein schlechtes Gewissen, weil seine Frau bei einem Autounfall gestorben ist, wo er am Steuer sass.

Mehrfach sieht man ihn im Film am Grab. Er trifft dort die beste Freundin seiner Frau, es wird eine Liebesgeschichte, die den Film vorwärts trägt. So geht es um neues Leben, um Heraustreten aus einem Trauma, das einen ganz erstarren und verstummen lässt. Der Film scheint gewalttätig, verglichen mit einem Liebesfilm, nicht mit einem Kriminalfilm, es geht aber nicht um Gewalt, es geht um Physis, um Körperlichkeit, um Emotionen. Diese bewirken die Befreiung.

Er kommt in Kontakt zu seinen vergrabenen Gefühlen. Dabei hilft ihm das Theaterspielen. Er schliesst damit an die Geschichte seiner Mutter an, die die Gefangenen betreut mit Theater-Workshops. Er selber spielt im Film auch Theater, weil sie für einen Coup den Chauffeur eines Lastwagens ablenken müssen, während seine Kumpane, den LKW leerräumen und die Fracht von mehreren Kisten Kaviar in Sicherheit bringen.

Wiederholungszwang
Der Film zwinkert mit den Augen, er spielt mit den Formen der Gaunerkomödie. Dazu gehören die Liebesgeschichte und die Erfahrung, die der Autor vielleicht selber mit der therapeutischen Kraft von Spielen und Ausagieren gemacht hat. Wie man sich aus Wiederholungs-Zwängen befreit, das wird nicht nur an der Erfahrung von traumatisierten Menschen gezeigt, die sich immer wieder in Erinnerungen drehen und alte Geschichten neu aufführen mit immer neuem Personal – ein höllisches Theater der Symptome.

Der Wiederholungs-Zwang zeigt sich auch darin, dass er das Leben seiner Mutter wiederholt. Wie sie ins Gefängnis geht, tut er es, wie sie Theater spielt, tut er es, wie sie im Gefängnis heiratet, tut er es. Er ist von der Polizei erwischt worden, obwohl nur Mitläufer, und sie kommt ihn besuchen. Die Szene der Eheschliessung im Gefängnis wiederholt bis in die Einzelheiten die Trauung seiner Mutter, die dort den Gefangenen heiratete. Es gibt Geschichten, die durch alle Generationen gehen. Da ist kein Friede abzusehen.

Befreiung
Aber jetzt ist Heilung angesagt. Er wird hinausgehen und ein neues Leben wird beginnen, das die höllischen Wiederholungs-Zwänge traumatischer Verletzung hinter sich lässt. Der Fluch liegt nicht mehr über Kain, der sich schuldig fühlt. Vergebung ist über ihm ausgesprochen. Kain und Abel, die hier in einer Person vereint sind, dürfen sich versöhnen.

So wird die Geschichte der Bibel aufgenommen und weitergesponnen, wie es auch die Bibel tut. Sie hängt es vielleicht nicht an diesen Personen auf, aber auch sie schreitet fort von Schuld zu Vergebung, von Tod zu Leben, von Krankheit zu Heilung, von Verzweiflung zu Freude, vom höllischen Kreisen in sich selbst zu einem langen Tisch, wo ein Fest gefeiert wird, das Fest der Hochzeit und des Lebens.

 

Foto: Eva stillt Kain, Bronce-Relief am Hildesheimer Dom

Eine „objektive“ Annäherung an Kain und Abel, die dem Thema gerecht werden will, müsste Bibliotheken füllen. Eine persönliche Auseinandersetzung findet sich im Buch „Innen und Aussesn“ in den Kapiteln „East of Eden“ und „Die Reihenfolge“: Menuleiste, Downloads, Innen und Aussen.