Vom Anfang her leben

Alles ist schon für Weihnachten geschmückt, alles schaut schon voraus auf das Ziel. Dabei wird übersprungen, um was es dem Advent geht. Es ist eine eigene Zeit, hat einen eigenen Sinn in Kirchenjahr und im Leben. Wir leben nicht vom Ende her, sondern vom Anfang. Wenn wir wissen, wie es ausgeht, ist die Spannung aus der Geschichte. Wenn wir den Antwort auf eine Lebensfrage wissen, wird alles Vorherige weniger wichtig. Aber wir kennen das Ende nicht, unsere Fragen beschäftigen uns mit ihrem ganzen Gewicht.

Ohne Antwort
Das ist Thema von Advent: die Frage, auf die wir noch keine Antwort wissen, die Aufgabe, wo noch keine Lösung sichtbar ist. Wohl sagt Advent, die Antwort stehe bei Gott. Uns aber ist sie noch unbekannt. Schon das ist eine ungeheure Erleichterung: Wir dürfen Fragen zulassen, müssen Probleme nicht schönreden, müssen uns um das Eingeständnis nicht herumdrücken, dass es Fragen gibt in unserm Leben, die unser Vermögen übersteigen. Wir dürfen unser Leben im Glauben angehen und müssen auch die Frage, die uns besonders wichtig ist, davon nicht ausnehmen.

So entsteht dort, wo wir etwas vermissen, neue Hoffnung. So darf eine Sehnsucht, wenn noch nicht am Ziel, sich neu beleben. So entsteht das, was Advent ausmacht: warten, erwarten. Darum ist Erwartung wie der Inbegriff von Advent. Darum gibt es so viele Geschichten in der Bibel von Frauen, die in Erwartung sind. So auch Maria, die an Weihnachten ihr Kind zur Welt bringt.

Kleines und Grosses
«Oma, was möchtest Du zu Weihnachten?» «Papa, was soll ich Dir schenken?» Solche Fragen hören wir in dieser Zeit. Und auch wir überlegen, was wir unseren Lieben schenken können. Vom Enkelkind oder von der kleinen Tochter wünschen wir vielleicht eine Zeichnung und hängen sie später an die Wand. Es mag nicht wertvoll sein, das Zeichen genügt uns. Es ist die Liebe und Anhänglichkeit, die uns rührt. Das ist Geschenk genug. So fühlen wir uns reich, wenn wir eingebettet sein dürfen in eine Familie.

Und hinter dem kleinen Geschenk werden die grösseren Wünsche sichtbar, die wir ans Leben haben: eine Familie haben, Geborgenheit erleben, nicht allein sein. Wir machen uns diese Wünsche nicht immer deutlich, denn es ist schmerzlich, wenn wir etwas vermissen. Und es macht Weihnachten zu einem traurigen Fest, wenn es uns nur erinnert an das, was wir verloren haben und nicht an das, was uns erfüllt wird, an tiefen Wünschen, die wir haben.

Aber genau darauf richtet der Advent unseren Sinn. Er ist eine Zeit des Wartens. Nicht alles ist schon da. Manches, was wir hatten, ist verloren. Und doch ist Gott mit unserem Leben nicht zu Ende. Er ist am Anfang, immer wieder am Anfang. Darum wird jedes Jahr neu Advent.

Meine Hände sind nicht zu kurz
Gott kommt nicht mit leeren Händen. „Meine Hände sind nicht zu kurz zum Helfen“, sagt er (Jes 59,1). Er macht uns Mut, das Hoffen wieder zu lernen. Die Geschichten im Leben, die schon abgeschlossen schienen, bekommen einen neuen Anfang. Und sie beginnen so, wie das Evangelium bei Markus: «Anfang des Evangeliums von Jesus Christus» (Mk 1). So beginnt die Weihnachtsgeschichte, so beginnt unsere Geschichte, wenn wir sie im Licht des Glaubens sehen. Sie wird eine «gute Geschichte» – denn das bedeutet das Wort «Evangelium». Gott schreibt immer wieder einen neuen Anfang in unsere Lebensgeschichte.

 

Aus Notizen 2005
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