Berührt

Die Geschichte, die Markus erzählt, beginnt zögerlich. Es ist nicht wie bei der Geschichte von Lazarus, wo Jesus sich schon Wochen vorher auf den Weg macht, um seinen Freund zu besuchen. Die Frau und Jesus kennen sich nicht, sie sind sich noch nie begegnet. Es ist nicht wie bei Lazarus, wo seine Freunde Jesus empfangen mit Vorwürfen: Wo warst du so lange? Jetzt ist er gestorben! Warum warst du nicht hier? Du hättest ihn retten können!

In dieser Geschichte ist es anders. Die Frau ist scheu, sie trumpft nicht auf. Sie hat keine Ansprüche gegen Jesus. Sie traut sich nicht, ihm entgegen zu treten, denn: Wer bin ich? Und wer ist Er! So nähert sie sich von hinten. Ihr Leben lang hat sie geübt, sich zurück zunehmen. (Und dabei ist sie sich fast selber verloren gegangen.)

Wenn ich nur sein Kleid anfasse, so werde ich gerettet. Die Jünger hätten sie kaum näher an Jesus heran gelassen. Sie haben ja auch den Blinden vor Jericho weggewiesen. Der blinde Bartimäus sass dort an der Strasse, und als er hörte, dass Jesus kam, rief er laut: Sohn Davids, erbarme ich meiner!
Sei still, herrschten ihn die Jünger an, störe den Meister nicht!

Aber der Blinde rief wieder: Sohn Davids, erbarme dich über mich!
Und endlich hat Jesus gehört. Bringt ihn zu mir! hat er befohlen.
Und Bartimäus fragte er: Was willst du, dass ich dir tue?

Die Frau hier ruft nicht wie Bartimäus, aber sie berührt Jesus an seinem Mantel. Und sie spürt: Jetzt ist es gut! Die Plagen sind vorbei!
Jesus dreht sich um und fragt: Wer hat mich berührt? Die Jünger lachen:
Da sind so viele Menschen, solch ein Gedränge, und du willst herausfinden, wer dich berührt hat?

Wie man Gott berührt
Offenbar macht es einen Unterschied, wie man ihn berührt – ob aus Zufall, im Gedränge, oder ob man ihn sucht. Offenbar macht es einen Unterschied, warum man seine Nähe sucht – ob aus Neugier oder weil das ganze Leben einen zu ihm drängt.

Jesus dreht sich um, und die Frau erschrickt: Sie ist entdeckt.
Sie wirft sich vor ihm auf den Boden und sagt ihm die ganze Wahrheit.

Ist das demütigend, so auf dem Boden zu liegen?
Würden wir das heute so tun?
Sie zeigt damit ihre Verehrung.
Und sie bringt zum Ausdruck, wie wenig sie von sich selber hält.
Sie hat sich selber nie gross gemacht.
Aber jetzt kann sie ihm die Wahrheit sagen.
Und sie sagte ihm «die ganze Wahrheit». –

Wie wohltuend ist es, endlich alles erzählen zu können.
Wie wohltuend ist es, dass da einer ist und zuhört und versteht.
Wie wohltuend ist es, endlich sich zeigen zu können,
wie man ist. All das hervorbringen zu können,
was im Dunkeln lag. All das erzählen und
loswerden zu können, was sie plagte.

Und Jesus sagt: Geh hin in Frieden! Sei geheilt von deiner Plage!
Sie darf ins Leben zurück. Ein neues Leben beginnt für sie.
Die Plage, die sie seit zwölf Jahren verfolgte, wo kein Arzt ihr helfen konnte, obwohl sie ihr ganzes Vermögen verlor mit Ärzten, die Plage ist vorbei.

Dein Glaube hat dich gerettet, sagt Jesus

Sie hat ihn berührt, sie ist voll Vertrauen zu ihm gekommen.
Sie hat sich nicht getraut, von vorne auf ihn zuzugehen.
Aber er hat sie gespürt. Er hat sich umgedreht.
So hat er die Berührung erwidert.
Sie hat es nicht gestohlen – er hat es geschenkt.
Sie dachte, sie ist nichts wert, aber er hat sie wertgeachtet.
Sie dachte, sie darf nicht wie andere zu ihm kommen, aber er hat sich zu ihr umgedreht.

Sie dachte, ihr Leben sei vorbei,
verlebt im Dunkeln und geplagt von Schmerzen.
Aber er hat sich zu ihr umgedreht. Er hat sie angesehen.
Er hat sie aufgehoben von der Erde. Er hat zu ihr gesprochen:

Steh auf, geh hin, sei von deinen Plagen erlöst. Dein Glauben hat dich gerettet. Geh hin in Frieden!

 

Aus Notizen 2013
Die Geschichte findet sich in Mk 5,21-43
Foto von August de Richelieu von Pexels