Dreieck der Traurigkeit

Wir haben den Film «Triangle of Sadness» von Ruben Östlund gesehen. Wir haben vor einigen Jahren bereits den Film «The Square» von ihm gesehen. Er hat uns gefallen, weil es ein «engagierter Film» war in einer Phase, in der das ausgestorben schien. Noch einmal nahm einer die Werte ernst, auf denen das Zusammenleben beruht und die jeder einzelne benötig, um überhaupt ein Ich-Bewusstsein aufzubauen und gesund leben zu können: Gerechtigkeit, Würde, Wahrheit, der Wert jedes einzelnen Lebens.

Wohltuend altmodisch
Heute beim Frühstück meinte meine Frau, der Film werde im Feuilleton verrissen. Das wundert mich nicht. Der Film bemüht sich nicht einmal um die Kriterien, die heute im Feuilleton Erfolg markieren. Die Ästhetik hat die Wahrheitsfrage längst abgestossen und sich in einen modischen Konstruktivismus zurückgezogen. Der Film aber tut so, als ob das alles noch in Kraft wäre, als ob es eine äussere Realität gäbe, als ob es sinnvoll wäre, sich solidarisch zu engagieren und für eine gerechte Sozialordnung einzutreten. Von da her wirkt der Film seltsam altmodisch, aber auch wieder ungeheuer vertraut. Man glaubt, in die Welt von gestern einzutreten, als noch nicht alles von Zynismus und Rette-sich-wer-kann-Panik zerfressen war.

Reduktion aufs Elementarste
Panik wird hier allerdings vorgeführt. Es wirkt wie eine Phantasie des Jüngsten Gerichts. Einige Vertreter der neuen Oberschicht sind auf einem Luxus-Schiff versammelt. Nach einigen Proben aus ihrem absurden Luxus-Leben wird ihr Untergang vorgeführt. Das Boot gerät in einen Sturm. Es geht nicht lang – es ist eindrücklich, es zu sehen, und befriedigt das Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit – da werden diese Luxus-Wesen auf ihre elementarsten biologischen Funktionen zurückgeführt.

Im Sturm kehren sich die Werte um, die Luxusuhren, die die Funktion haben, Abstand zu markieren (denn wer kann sich eine solche leisten?), die Luxusuhren geben keinen Eintritt in die Rettungskapsel. Sie werden ins Bullauge gehalten, das zahle ich für einen Eintritt, und später gebe ich euch noch viel mehr! Es wirkt nicht, hier ist es ohne Wert. Und so ist es mit der ganzen Existenz, die schon bisher alle Werte verraten hat, aber hier wird es sichtbar, wenn die Luxus-Passagiere in Kot und Erbrochenem schwimmen, in der Pfütze eines Rettungsboots sitzen, wenn der ganze Anspruch auf Herrschaft und soziale Geltung in 80 Kg Fleisch verwandelt wird.

Herr und Knecht
Zur Umkehrung der Werte gehört auch die Welt auf der Insel, wo einige angeschwemmt werden. Die einzige überlebende Person, die Feuer machen, fischen und kochen kann, ist die Toilettenfrau aus dem Luxus-Boot, Abigail. Und sie lässt sich diese Dienste bezahlen. Es wird sichtbar, von wem die Gesellschaft die ganze Zeit lebt, auch wenn ihr Dienst unter Verachtung verborgen ist. Das Verhältnis von «Herr und Knecht» verkehrt sich, eine Denkfigur, die Marx von Hegel ausgeliehen hat.

Das Marx-Zitat drängt sich auf, weil der Film selber die Klassiker der politischen Ökonomie zitiert. Auch das «kommunistische Manifest» taucht auf. Der Untergang auf dem Schiff wird begleitet von der Debatte eines russischen Oligarchen und eines kapitalistischen Milliardärs, die wie Naphta und Settembrini im «Zauberberg» den weltanschaulichen Hintergrund liefern.

Flaue Kategorien
Der Streit zwischen Kapitalismus und Kommunismus scheint heute nicht aktuell, aber die öffentliche Debatte gibt heute offenbar nichts her, was zitiert werden könnte. Konstruktivismus und Relativismus in Gestalt von Identitäts-Debatte, Aufweichung harter Kriterien der Benachteiligung durch immer mehr Befindlichkeiten, der Ersatz von politischer Ökonomie durch Kulturkampf, all das stellt keine Figuren zur Verfügung, die wie in Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Faschismus als Sprachrohr dienen könnten. So wirkt diese Debatte auf dem Schiff wie ein Kulturzitat. Man mag sich dieser Analyse nicht unbedingt anschliessen.

Verachtung – oder doch Trauer?
Der Film heisst «Triangel of Sadness». In der Eröffnungsszene, die im Vorzimmer des Luxus spielt, führen Models Luxusprodukte vor und lernen den richtigen Gang, den richtigen Gesichtsausdruck. Lachen, so lernen sie, gehört zu den Kleider-Marken des gewöhnlichen Volkes, die noch arbeiten, zusammenleben, Gefühle zeigen. Teure Produkte, für Menschen, deren Geld für sie arbeitet, so dass sie auch durch Arbeit nicht in ein Verhältnis zu andern kommen, werden durch einen verächtlichen Gesichtsausdruck angepriesen. Hinter der gezeigten Verachtung wäre aber Trauer zu finden, und so heisst das Dreieck oben zwischen den Augenbrauen «triangle of sadness». Die Models, die Luxus verkaufen, finden hier den Punkt, an dem sie Verachtung aufs Gesicht zaubern können.

Der letzte Mensch?
Der junge Mann, das Model, ist später auch auf der Insel zu finden. Ist die dargestellte Wirklichkeit die letzte, oder gibt es noch etwas anderes? Carl, so heisst er, geht mit einer jungen Frau, Yaya, eine Wette ein, dass sie sich in ihn verlieben werde. Sie ist Influencerin und wie das männliche Model damit vertraut, Schein und Anschein zu produzieren. Sind die Menschen dieser Zeit verurteilt, im Als-ob festzustecken? Das ist das Thema der Wette, die sie eingehen. Hier spricht der Filmautor direkt zu den Zuschauern, so wie Charlie Chaplin in «The Great Dictator» an einer Stelle die Fiktion durchbricht, sich umwendet und direkt zu den Zuschauern spricht. Es ist die Zeit des Nationalsozialismus, die Welt steht an der Kippe, ihre elementarsten Werte zu verraten. Einer solcher Punkt ist auch hier gegeben.

Die Influencerin, Yaya, ist mit der ehemaligen Toilettenfrau und neuen Herrin Abigail aufgebrochen, um zu sehen, ob auf der anderen Seite der Insel etwas wäre, was helfen könnte. Tatsächlich finden sie etwas: einen Lift. Die Insel ist ein Luxus-Resort wie das untergegangene Schiff. Wenn sie auf den Knopf drücken und sich hinauftragen lassen, ist der Albtraum vorbei, sie werden in die alte Welt versetzt. Abigail hebt einen Stein, um Yaya zu erschlagen, es soll nicht alles umsonst gewesen sein. Das Mädchen versucht, sie umzustimmen. Die nächste Szene zeigt Carl, der über den Berg, durch den Dschungel rennt.

Die Wette
Der Ausgang ist offen, der Zuschauer kann wählen: Will er, dass die neue Herrin das Mädchen erschlägt, dann wird der Rückfall in die alte Unterdrückung für einen Moment verhindert. Der Mord wird dann aber von Carl aufgedeckt, es ist keine Lösung. Die neue Ordnung setzt nur die alte fort mit neuem Personal. Will der Zuschauer, dass die neue Herrin sich auf einen Handel einlässt, dann ist die Tragödie abgewendet und der junge Mann, der dazustösst, wird kein Verbrechen aufdecken. (Es ist die Variante, in der ein neuer Gesellschaftsvertrag ausgehandelt wird.)

Die Eile, mit der der junge Mann über den Berg und durch den Wald rannte, zeigt, dass er das Mädchen liebt. Das ist die Antwort auf die Wette, die der Film nicht mehr explizit gibt. Am Ausgang ist es abzulesen, falls der Zuschauer sich «richtig» entscheidet: dann ist nicht alles nur Zynismus und Abschaum, dann gibt es «Liebe», Zugehörigkeit, Verpflichtung, Wärme und Füreinander-Einstehen, egal wie der Sturm ausgeht. Es ist ein Film für unsere Zeit. Wir müssen und entscheiden, wie der Weg weitergeht.

 

Foto von Daffa Rayhan Zein, Pexels