Glaube und Kultur

Glaube lebt nicht nur im Kopf. Er singt, betet, er gestaltet den Tag. Er bestimmt den Alltag im Tages- und Wochenablauf. Der gelebte Glaube stiftet wie alles Leben eine Kultur. Das Leben ist wie ein Fluss; dieser schafft sich selber ein Flussbett, in dem er fliesst. Manchmal ändert der Fluss seinen Lauf, er muss aus alten Kanälen ausbrechen. Und die Alt-Läufe erzählen noch lang, wie es früher war, wie die Menschen früher gelebt haben.

 

Religion ist eng mit Kultur verbunden. Die Klöster des Mittelalters haben viel Wissen aus der Antike bewahrt und sie ans Mittelalter weitergegeben – nicht nur Lesen und Schreiben, auch Kenntnisse aus der Landwirtschaft und Medizin. Das Christentum gilt darum auch als „Kulturbringerin des Abendlandes“. Es ist noch nicht so lange her, dass man die Fachfrauen im Gesundheitswesen „Schwestern“ nannte.

Ernüchterung
Religion ist eng mit Kultur verbunden. Im 19. Jahrhundert glaubte man, dass die kultivierende Kraft des Christentums bald alles durchdrungen habe. Der Fortschritt in allen Lebensbereichen sei bald am Ziel. Bald werde das «Reich Gottes» aufgerichtet sein und die Religion könne absterben, weil sie nicht mehr gebraucht werde.

Dieser Optimismus wurde schwer erschüttert durch die Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Und jetzt schlug das Pendel in die andere Richtung: Gott ist der „ganz andere“, so wurde jetzt erinnert. Die Welt wird nie aus sich heraus das Paradies errichten. Auch die Kirche selbst kann sich verrennen.

Verführung
Diese Haltung wurde im 20. Jahrhundert weiter befestigt. Dieses Jahrhundert hat mitverfolgt, wie verschiedene Ideologien die Religion beerben wollten. Nationalsozialismus, Kommunismus, Faschismus nahmen in einer Krisensituation die Heilshoffnungen der Menschen auf und wollten sie in dieser Welt befriedigen.

Die Hoffnung auf Heil, Gerechtigkeit, Gelingen des Lebens – das gehört zum Menschen. Er kann gar nicht anders, als zu hoffen, dass das Leben als Ganzes gelingt. Im Glauben kann man absolute Hoffnungen pflegen. Sie werden an einen Gott gerichtet, der die Welt übersteigt. Wenn sie innerweltlich eingelöst werden sollen, entfalten diese Hoffnungen aber eine zerstörerische Kraft. Sobald sie mit endlichen Grössen verbunden werden, schlagen absoluten Hoffnungen um in einen Totalitarismus. Der „Staat“ wird aufgebläht, die „Partei“ wird zu einer Pseudo-Kirche, die alles kontrolliert. Die Wirtschaft erhält eine Übermacht, sobald man von ihr endgültige Antworten erwartet.

Auch die Massenkultur und die Werbung schmücken sich mit „Stars“ und „Glamour“. Das sind ursprünglich religiöse Phänomene. Licht und Glanz, das waren Zeichen Gottes, wenn er in der Welt erscheint. Heute ist die „Theophanie“ herabgebrochen auf das «Erscheinen» einer neuen Zahncreme oder eines neuen Sterns am Pop-Himmel. Hier kann man es belachen. Die Religion ist zum Steinbruch geworden, aus dem sich jeder bedient und sich eine Hütte baut. Anders ist es, wenn die Zeiten schwerer werden. Wenn die erschütterte Heilshoffnung der Menschen Akteure zu grossen Versprechen verleitet.

Kritik
Darum ist gut zu wissen, dass die Religion nicht nur kultur-stiftend ist, sondern immer auch kultur-kritisch. Das Reich Gottes werden wir auf Erden nie bauen. Es kommt aus der Kraft Gottes. So müssen wir unsere Erwartung an Recht und Gerechtigkeit nicht herabschrauben nach dem Mass des Erreichbaren.

So hilft der Glaube, daran festzuhalten, dass jedes Leben ein Daseinsrecht hat, dass jeder Mensch eine unverlierbare Würde besitzt. Und wenn die Verhältnisse das bestreiten, dann ist nicht der Mensch falsch, dann sind es die Verhältnisse.

Die Frage Islam
Die grossen Schlachten um Kultur und Religion werden heute nicht anhand des Christentums geschlagen, sondern im Zusammenhang mit dem Islam. Kann dieser integriert werden in die europäische Kultur? Oder verändert er diese? Kann man ihn privatisieren wie das Christentum oder lebt er separiert in Parallelgesellschaften?

Modelle für alle diese Fragen finden sich in der 2000jährigen Geschichte der Begegnung von Christentum und Kultur. Auch hier gab es Zeiten eines „Kulturkampfes“, als die ganze moderne Kultur abgelehnt wurde. Auch hier gibt es fundamentalistische Strömungen. Die Brisanz der Fragen rund um den „europäischen Islam“ wirft ein Licht auf frühere Auseinandersetzungen im Christentum. Umgekehrt kann die jahrhundertelange Lern-Geschichte im Christentum Modelle geben für den Umgang mit dem Islam in Europa.

Zum Erfolgsmodell des europäischen Weges gehört die Säkularisierung in dem Sinn, dass die Entscheidungsfindung im Staat nicht mehr religiös begründet wird. Umgekehrt bedroht es den Frieden, wenn der Staat absolute Werte verkörpern will, wenn es „Heilige Länder“ gibt, wenn Rasse, Blut und Boden eine religiöse Weihe bekommen. Mit absoluten Werten kann man nur auf religiöse Art gut umgehen. Wenn sie mit irgendwelchen Dingen dieser Welt verknüpft werden, entfalten sie eine explosive Kraft und bedrohen den Frieden.

 

Aus Notizen 2010
Foto von Gabriela Palai von Pexels