Tag Archive for: wachsen

Nach Ostern erleben wir oft einen Rückfall. Die Hochstimmung geht verloren. Wir fühlen uns zurückgestossen, als ob es kein Ostern gegeben hätte. Es braucht nur einen Auslöser, eine bestimmte Begegnung, und es weckt alte Erinnerungen wieder auf an vergangene Zeiten. Weiterlesen

Oft liegen wir mit uns überquer. Haben uns anders verhalten, als gewollt. Haben nicht erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Haben etwas falsch gemacht. Wir lehnen uns selber ab. Weiterlesen

Der Brand der Pariser Kathedralen hat Quasimodo wieder in Erinnerung gebracht: jenen unförmigen Glöckner von Notre-Dame aus dem Roman von Victor Hugo. Weiterlesen

Ich bin nachts jetzt oft aufgeregt, kann nicht schlafen. Ich habe die „Deckung“ verlassen, bin zum Handeln übergegangen, zum Zeigen (bekennen) und zum Tun. Ich folge dem, was ich für wahr halte. Weiterlesen

Um Würde geht es in diesem Text, um Scham und wie man nach einer Verletzung wieder Oberhand gewinnt. Die Formel von der Würde taucht auf und vom Vertrauen, die im Abendmahl gesprochen wird. Mir ist sie auch als Gebet wichtig. So altmodisch sie klingt, sie hat Kraft, sie begleitet auf dem Weg zur Würde, auch wenn sie vom Gegenteil ausgeht. «Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort…» Weiterlesen

Die Liebe, das ist eine völlig neue, alte Sehweise. Ja, es ist nichts Kompliziertes, Unentdecktes es ist altbekannt und doch fern und scheinbar verloren. Die Liebe –  das ist das Neue, Uralte, Überraschende – ist die Rückkehr in den Geheimnisstand der Kindheit, die das Leben deshalb als „geheimnisvoll“ erlebt, weil sie in Erwartung lebt, weil sie der Zukunft, dem Begegnenden, etwas zutraut, weil sie Vertrauen hat und mehr als das: positive Erwartung! Weiterlesen

Zurück aus den Ferien. Ich habe die Fotos gesehen, die von mir gemacht wurden: Ich bin erschrocken. Ich hatte Mühe, das anzusehen. Es fiel mir schwer, den als «ich» wahrzunehmen, der da zu sehen war. So down in den Ferien, so bitter der Zug um den Mund, so traurig das Gesicht. Ich erschrak, als ich mich sah. Weiterlesen

Es ist anstrengend, das Leben mit Kindern, immer präsent zu sein. Auch das Berufsleben fordert uns bis ins letzte. Gut, dass es im Alltag immer wieder Inseln gibt, wo wir auftanken können, wo wir uns wohl fühlen, wo alles irgendwie leichter geht, die Arbeit, die Begegnungen. Es ist, als ob wir dort in besonderer Weise in uns selbst ruhten. Weiterlesen

Aufbruch

Mach dich auf den Weg.
Such deine Ängste auf, dass sie dir nicht weiter in den Rücken fallen.
Schau dem ins Gesicht, was dir im Nacken sitzt. Und mach dich gefasst: Auch das Allerschlimmste, was du dir gar nicht vorstellen kannst, das „Loch“, das alles verschlingt, wo das Denken aufhört und die Panik anfängt – es sieht bei jedem anders aus – auch das wird dir begegnen.

Aber dort im Grenzgebiet, wo du die Kontrolle aufgibst, dort am Fluss, wo du spürst, dass du nur auf die andere Seite kommst, wenn du dich anvertraust, dort wird dir das begegnen, was du brauchst.

Und diese Zuversicht kannst du wie einen Segen mitnehmen, wenn du dich auf diesen Weg machst: „Ich finde, was ich brauche.“

Trauma und Passion

Trauma – das ist heute ein Grossthema. Die „posttraumatische Belastungsstörung“ PTBS beschreibt, was manche Menschen erleben, die eine angstbesetzte Verletzung erlitten haben. Ausgehend von der therapeutischen Arbeit mit Vietnamkriegs-Veteranen wurde das Konzept später auf andere psychische Schädigungen ausgeweitet. In den Medien gibt es heute einen wahren Boom von Trauma-Berichten und entsprechenden Hilfsangeboten. Zu einem Grossthema wurde das Trauma aber auch, weil die Zahl der Konflikte in der Welt zugenommen hat und weil der Ausblick mit den Spannungen zwischen den Machtblöcken und der Klimakrise nicht friedvoller erscheint.

Wer sich mit der Bibel beschäftigt und mit dem frühen Christentum, der wird Elemente des traumatischen Erlebens auch dort finden. Auch in der Antike gab es Krieg und Gewalt. „Passion“ ist zu einem Begriff der Spiritualität geworden. Der Gewalt-Charakter der damaligen Ereignisse ist fast vergessen worden. Wer aber die „Passion“ intensiv meditiert, stösst auf solche Zusammenhänge.

Ich habe als Pfarrer viele Jahre lang Karwochen-Andachten gehalten. Eine Gruppe von Menschen meditiert eine Woche lang die biblischen Ereignisse und verschränkt sie mit den eigenen biographischen Erlebnissen.

Über all die Jahre ist es mir plausibel geworden, dass „Trauma“ nicht nur eine Kategorie ist, um heutige psychische Abläufe zu verstehen, sondern auch, um Teile der Bibel besser zu verstehen.

Auch die Menschen der „Jesus-Bewegung“ haben eine grosse Verletzung erfahren. Auch die Früh-Kirche ist geprägt von Gewalt und Verfolgung. Auch sie kann verstanden werden als eine Gemeinschaft, die sich um ein Trauma schart, wo all die Prozesse ablaufen, die aus solchen Gemeinschaften bekannt sind: reaktiver Rückzug, Angst und Angstabwehr, ein Hinausgestossen-Werden aus einer Rationalität des Alltags in einen Zustand, in dem archetypische Bilder und atavistische Verhaltensweisen wiederbelebt werden, wie Totstellen, Atem anhalten, sich klein und unsichtbar machen (wollen)…

Ein kollektives Trauma, das Identität stiftet

Bei diesem Verständnis helfen mir historische Parallelen:

Marie-Janine Calic berichtet (in der NZZ vom 10. August 2018) über die Situation auf dem Balkan. „Überall in der Region wird Religion vermehrt als Identitätsmarker und Ausschlusskriterium benutzt. Srebrenica – der erste völkerrechtlich anerkannte Genozid auf europäischem Boden nach 1945 – wird als kollektives Trauma einer ganzen Nation verhandelt, das Identität stiftet. Dabei spielt nur noch eine ungeordnete Rolle, was dort genau stattgefunden hat und warum. Entscheidend ist, dass dieses Ereignis als Ursprungserzählung der bosnischen Nation erzählt und erinnert wird, und diese wird exklusiv als muslimisch definiert.“

Das ist interessant für die Bedeutung des Traumas und des „Trauma-Managements“ in der frühen Kirche. Es ist eine Analogie – so wie all die traumatischen Erfahrungen es sind, die es auch heute gibt, unabhängig von der grossen Geschichte.

Sie erzeugen eine Gleichgestimmtheit von Erlebnissen und Erfahrungen. Wer diesen Weg geht, kennt die „oberen“ und „unteren“ Wege, die Bilder der Psyche, die Trampelpfade des Überlebens. Er versteht die mythologischen Bilder samt Höllen- und Himmelfahrt, in denen die frühe Kirche spricht. Er versteht die Werte, die auf den Kopf gestellt sind (die Letzten werden die Ersten sein). Er versteht die Freude am Allerkleinsten, in dem sich das Allergrösste spiegelt. Er versteht das Wunder, das sich in der Stille ereignet, weil das Menschliche sich hier ausgetobt hat wie in den Gewaltorgien von Srebrenica. Und auf den Gräbern ist etwas anderes spürbar, was nicht von Menschen kommt.

Eine Sprache für Passion und Ostern

In Kreuzigung und Verfolgung ist die „Jesus-Gemeinde“ durch ein gemeinsames Trauma hindurchgegangen. Das bindet sie zusammen wie auch alle, die später so etwas erleben. Das gibt ihnen eine Sprache, die jeder versteht, der so etwas erlebt hat, und die niemand versteht, der es nicht erlebte.

Das Trauma ist eine gemeinsame Grundlage für das Verstehen und für das Zusammengehörigkeits-Gefühl über den Tod hinaus. Das Kreuz sei das Symbol der Urkirche, wurde gesagt. An diesem Zeichen erkannten sich die Zugehörigen und sie wurden von Aussenstehenden erkannt. Nicht weil es zwei Striche sind, die ein Kreuz bilden, sondern weil es eine Welt von Bedeutungen und Gefühlen ist, eine Erfahrung von Demütigung und Sterben, ein Gewahrwerden der innersten Gewissheiten, ein Aufblitzen von Freude. Ein Wiederfinden von Schönheit und Wahrheit. Ein neues Leben und eine neue Welt.

Der „innere Altar“

Aufschlussreich ist auch der Roman „Vier Bücher“ von Yan Lianke. Er schildert die grosse Hungersnot 1958 – 62 bei dem „grossen Sprung nach vorn“, den Mao Tse Tung damals befohlen hat, um den Westen in der Entwicklung einzuholen.

„Yan Lianke hat als Realist begonnen, vom Realismus hat er sich längst abgewandt. Damit kommt man der chinesischen Realität nicht bei, meint er. Deshalb wird sie in seinem neuen Roman fragmentiert und zerlegt.“ So heisst es in einer Besprechung des „Tages-Anzeigers“ vom 6. Januar 2018.

Hier zeigt sich der Wandel der Erlebnis- und Erzählweise bei der Verdichtung des Leidens, bis „magische“ und mythologische Bilder auftauchen, die allein imstande sind, die Intensität der Gefühle aufzunehmen (Wüste, Wasser, Höllenfahrt…) und den Betroffenen durch diese Erfahrungen zu geleiten.

Interessant ist auch der Punkt, wo der Autor daran ist, alles zu verraten, was ihm lieb und teuer ist. Die Entwertung, die er erlebt hat, infiziert alles. So lässt er sich selbst im Stich, kollaboriert mit dem Feind – bis er fast sich selbst verliert.

Die einzige Rettung ist, einen „inneren Altar“ zu errichten, einen Ort, der von aussen nicht zu finden und zu zerstören ist, wo er seine Wertschätzung pflegen kann, wo er an dem festhalten kann, was ihm wichtig ist und was den Sinn seines Lebens ausmacht. Und das zu retten heisst in diesem Fall, sich selbst zu retten.

So trägt er sich mit dem Plan zu einem „andern Buch“, das er zunächst nur für sich schreiben will. Das einzige worauf es ankommt: dass es „wahr“ sein soll, dass er dort sagen kann, was er denkt und fühlt und was ihm heilig ist.

Kindheits-Erlebnisse

Der Tod schickt seine Boten weit voraus. Schon in der frühsten Kindheit, schon bei der Geburt wird das Leben bedroht. Schon in der Wiege tauchen Verletzungen auf, die ein Leben prägen und für seine ganze Dauer begleiten können. Zu Leben und Tod gehört auch das „Trauma“.

Das ist eine Form von Verletzung, die auch schon die Heilung mobilisiert. Es ist ähnlich wie bei einer körperlichen Verletzung, wenn die weissen Blutkörperchen eine Infektion bekämpfen, wenn die Blutplättchen das Blut gerinnen lassen, damit die Wunde sich schliesst. So hat auch das Erleben seine Selbstheilungskräfte. So hat auch die Psyche ihre Wunden, zu denen ein ganzes Set von Reaktionen gehört. Diese sind offenbar gattungsgeschichtlich erworben und weitergegeben.

Im Erleben eines Menschen tauchen sie auf. Sie prägen die Wahrnehmung mit Bildern, sie lenken die Reaktion mit Abwehr-Mechanismen. Sie führen auf einen Weg des Wahrnehmens, Fühlens, Handelns, lang bevor Denken und bewusstes Tun einsetzen.

Und das erwachsen werdende Kind, wenn es sein Leben in die Hand nehmen will, stösst auf eine ganze Batterie von eingewachsenen Reaktionsweisen, die zugleich Wahrnehmung und Verhalten prägen. Das Terrain, das es mit seinem Handlungsbewusstsein einnehmen will, ist schon lange besetzt. Und dort finden sich Bilder, die es aus der Kindheit kennt, die sich ihm schon vorbewusst eingeprägt haben.

In Märchen hat man ihm davon erzählt. Und wenn es diesen nachgehen sollte, findet es die Motive schon in alten Mythen und Religionen. Doch hier verschwimmt alles im Geräusch des Uralten, mit dem heute esoterische Geschäfte gemacht werden.

Ein Suchweg beginnt

Wer seinem Leben folgt, findet es in sich selbst. Er macht, ohne dass er das wollte oder einmal für sich beschlossen hätte, einen Suchweg. Er geht durch Tunnels, kommt auf Plätze, wandert durch dunkle Wälder, findet auf eine Lichtung. Er schifft sich ein, gerät in Seenot, fällt über Bord. Das Wasser geht im bis zum Hals, es geht ihm über den Kopf. Er verliert den Boden unter den Füssen und geht unter.

Er tritt eine Reise an ihm Dunkeln. Hier werden Bilder hell, die in der normalen Welt nicht zu sehen sind. Sie leben in einem besonderen Gedächtnis. Jetzt ist ihre Zeit gekommen. Sie zeigen ihm Gestalten, führen ihn einen Weg.

Und plötzlich ist er wieder hinausgeworfen in eine helle Welt. Als ob er neu geboren wäre. Und er nimmt sein Leben wieder auf. Aber jetzt gelingt es ihm besser. Er kann brauchen, was er im Dunkeln erlebte. Es ist nützlich, was er lernte auf diesem Umweg, den er nie freiwillig auf sich genommen hätte, der ihm wie das Unsinnigste erschienen wäre, womit man sein Leben zubringen kann.

Sieh da, der Mensch!

Aus einer Karwochen-Meditation

Wenn Sie die Ereignisse der Karwoche in der Bibel verfolgen, so ist alles dicht gedrängt. Ein ungeheuer dramatisches Geschehen rollt da vor unseren Augen ab. In der Mitte steht der Satz: Sieh da, der Mensch! So sagt Pilatus, als er Christus dem Volk präsentiert.

Sieh da, der Mensch! – Es ist tatsächlich nichts weniger als eine Auslegung davon, was der Mensch ist, was sein Leben ausmacht, sein Verhängnis aber auch seine Rettung.

 

Die grossen Fragen
Hier werden die grossen Fragen des Lebens gestellt und beantwortet: Wer sind wir Menschen, die so viel Gutes und Schönes erreichen können, aber auch so viel Schlechtes? – Wir möchten so viel erreichen im Leben – was wird, wenn unsere Lebens-Pläne durchkreuzt werden? – Was ist der Sinn? – Gibt es Gerechtigkeit? – Ist das Recht immer mit den Siegern? – Was geschieht mit denen, die auf der Strecke bleiben? – Ist die Geschichte nur eine endlose Spur der Gewalt? – Worauf können wir hoffen?

Die grossen Fragen werden gestellt – aber nicht wie in einem philosophischen Buch beantwortet. Hier wird eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von Jesus Christus. Und wer sich einlässt auf diese Geschichte und auf seine eigene Geschichte, der findet für sich Antwort. –

In einem Psalm heisst es:
„Aus der Bedrängnis rief ich den Herrn an, und der Herr hat mich erhört und befreit. Der Herr ist für mich, ich fürchte mich nicht, was sollten mir die Menschen tun? Ich danke Dir, dass du mich erhört hast und mir zum Retter geworden bist.“ (Ps 118)

 

Wenn das Leben stillsteht
Was kann die Passion uns sagen? – Auch heute gibt es Passionen. Im Krieg, aber auch mitten im Frieden geschieht es, dass Menschen verletzt werden. Geht diese Verletzung tief, sprechen Psychologen von einem Trauma. Das ist eine Erfahrung, die sich dem Menschen regelrecht einbrennt.

Das Leben scheint stehen zu bleiben bei diesem Augenblick. Und es braucht im späteren Leben nur eine Erinnerung, so ist es wieder da: dieses Gefühl von Erstarrung, Ohnmacht und Lähmung. Und die Reaktion, die damals gelernt wurde, spult sich wieder ab. Die Menschen fühlen sich gefangen in einem ewig gleichen Ablauf.

Die Passionsgeschichte ist die Geschichte eines Menschen, einer Gemeinschaft, die durch ein solches Trauma hindurch gegangen ist – und die Heilung erfahren hat.

In der Kirche wird diese Geschichte immer wieder erzählt. Und immer wieder haben es Menschen als hilfreich empfunden, den Weg durch diese Geschichten mitzugehen. Wer sich darauf einlässt, wer sich aufmacht und Christus auf seiner Passion begleitet, der erlebt etwas. Sein eigener Weg kann sich klären auf diesem Weg.

Indem er die Not Christi betrachtet, findet er Ausdruck auch für die eigene Not. Er kann hinsehen, was geschehen ist. Er sieht ein Licht, dem er folgen kann. Er findet einen Weg, der zu einem neuen Leben führte. Darum erzählen Christen immer wieder die Passions-Geschichte, nicht weil sie Freude am Leiden hätten, sondern weil es im tiefsten Grund eine Heilungsgeschichte ist.

 

Die starken Gefühle
Man könnte die Passion auch beschreiben anhand der Gefühle, die in ihr auftreten.

Gefühle gibt es viele in der Passionsgeschichte: Da sind Enttäuschung, Angst, Bitterkeit, Empörung, Beschämung, Wut, Ohnmacht. – Nicht nur Jesus Christus ist betroffen, viele Menschen stehen an seinem Weg. Da sind Freunde und Gegner, und da ist Neid und Missgunst – aber auch verletzter Stolz und der Wunsch, es jemandem heimzuzahlen.

Es sind starke Gefühle, die da angesprochen werden. Sie gehören zum Leben, wie die schönen Gefühle. Aber von ihnen spricht man selten. Wenn wir so etwas empfinden, dann verstecken wir es. Wir lassen sie nicht zu. Und wenn uns doch etwas trifft von diesen Gefühlen, dann kann es uns aus der Bahn werfen. Angst oder Ohnmacht – wir „kauen“ oft tagelang darauf herum.

Gefühle wie verletzter Stolz oder Vorwürfe – das können wir ein halbes Leben mit uns herumtragen. Sie lassen uns keine Ruhe. Sie verletzten immer wieder aufs Neue, wenn sie aufsteigen. So kann ein Leben regelrecht verbittert werden. – Bis wir irgendwann zu Rande kommen damit. Dabei kann uns die Passion helfen.

 

Spott und Hohn
In der Passion wird der Leidensweg Jesu erzählt. Die Leute strömen zu ihm, er hat grossen Zulauf, aber da stehen mächtige Gegner gegen ihn auf. Sie suchen, wie sie ihm etwas anhängen können. Schliesslich bringen sie ihn unter einem Vorwand vor Gericht. Er wird verhaftet und eingesperrt. Seine Anhänger kriegen es mit der Angst zu tun. Er muss zusehen, wie immer mehr von ihm abfallen. Auch engste Freunde gehen. – Es wird einsam neben ihm.

Die Soldaten treiben ihren Spott. Sie verbinden ihm die Augen und spucken ihn an: „Weissage mir, wer es gewesen ist!“ Sie setzen ihm eine Dornenkrone auf und verneigen sich: „Heil dir, König der Juden!“ … Sie kennen die Geschichte. Ja, da sind starke Gefühle. Da ist die Wut der Verfolger. „Kreuzige ihn!“ rufen sie. – Eine solche Wut lässt sich gar nicht begreifen. Wie hat er das verdient? –

Da ist die Scham des Verfolgten. Vor allen Leuten wird er blossgestellt. Er wird verspottet und ausgelacht. Jeder kann ihm einen Tritt geben, der will. – Wer so vorgeführt wird, der möchte am liebsten im Boden versinken. So weiterzuleben, scheint ihm ganz unmöglich. Er glaubt, nie mehr den Kopf heben zu dürfen im Leben.

Wir begreifen das Gefühl der Ohnmacht, so ausgeliefert zu sein. Die Menschen um Jesus getrauen sich nicht, einzugreifen. Und die Ohnmacht stachelt ihrerseits die Wut an. Man möchte es den Gegnern heimzahlen.

 

Verknotet zu unlösbaren Konflikten
So läuft es oft in der Welt und auch heute. So werden Knoten geschürt, die nicht mehr aufgehen. Wut stösst auf Wut und Gewalt auf Gewalt. Es entstehen Konflikte, von denen man immer wieder in den Nachrichten hört. Kein Mensch sieht, wie ein Ausweg möglich sein soll. Ganze Konfliktgebiete gibt es auf der Erde, wo kein Friede einkehrt.

Hier in der Passion ist es anders. Hier ist es anders, weil Gott sich einmischt. Er gibt dem Opfer Recht. Er vergisst ihn nicht: ihn, der gedemütigt am Rand verscharrt wurde. Er hebt in ins Licht. Er macht es zu seiner Sache. Er hebt ihn zu sich empor. Und er setzt das Opfer zum Richter ein, so sagt es der Glaube. Er wird wieder kommen, am Ende der Zeit, und Gericht halten. Da kommt alles vor seinen Thron. Er sieht alles an, damit es Gerechtigkeit gibt – Gerechtigkeit in der Welt, Gerechtigkeit für jedes Leben.

 

Das verletzte Recht wird geheilt
Das ist der Glaube der Jünger. Das ist das Vertrauen von Ostern. Weil sie auf Gott vertrauen, nehmen sie es nicht in die eigene Hand.

Der Apostel Paulus sagt: Rächet euch nicht selbst, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein, spricht der Herr. Ich will vergelten. Darum lasse dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer 12, 19)

Darum, die Christen, wenn sie etwas haben, das sie beschäftigt, dann übergeben sie es Gott. Mein ist die Rache spricht der Herr. Sie übergeben ihm ihre Wut, dass er etwas daraus mache, ihre Enttäuschung, ihren Schrei, dass das nicht sein darf!, ihren Wunsch nach Vergeltung. Und sie erfahren im Glauben, dass Gott es aufnimmt. Er lässt Jesus nicht im Grab. Er bringt ihn ins Licht und zu Ehren. –

So zu glauben, das haben die Christen bei Jesus gelernt. Denn er hat selber so auf Gott vertraut und in diesem Vertrauen sein Leben angenommen. Als er verhaftet wird, greift ein Jünger nach dem Schwert. „Steck es zurück! Ruft er ihm zu: Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.“ (Mt 26,52) Er will das Unrecht nicht heimzahlen. Eines seiner letzten Wort am Kreuz ist: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,33)

 

Ein Weg
So hat er uns einen Weg geöffnet, wie wir mit Schuld umgehen können: Es ist die Vergebung. So hat er einen Türe aufgemacht, wie wir aus Sackgassen herausfinden: weil wir glauben dürfen, dass auch wir Vergebung finden. Und dass wir ganz und gar angenommen werden, selbst wenn wir uns verirrt haben und falsche Wege gegangen sind in unserer Passion.

Er zeigt uns, wie wir mit starken Gefühlen umgehen können, auch mit Scham und Blossstellung: im Vertrauen auf Gott, der sich niederbückt zu den Gedemütigten und sie aufrichtet, und der ihnen sagt: „Du bist teuer in meinen Augen und wertgeachtet, ich habe dich lieb!“ (Jes 43, 4)

Die Passionsgeschichte lehrt uns, auch in den schweren Zeiten unseres Lebens das Vertrauen auf Gott aufrecht zu erhalten.
Gott ist gerecht. An dieser Überzeugung dürfen wir festhalten. –
Gott ist gerecht – auch wenn wir manchmal verzweifeln möchten am Leben.
Gott ist gerecht – dieser Glaube gibt Kraft, den Weg zu gehen. Er lehrt uns eine gute Haltung, er leitet uns richtig an bei unseren Entscheidungen. Auch unser Leben kommt ans Ziel. Gott steht zu uns, er führt uns und begleitet uns. Es gibt eine Gerechtigkeit auch für uns und unser Leben.

Der Suchweg geht weiter

Wer seinem Leben folgt, der macht, ohne dass er das wollte oder einmal für sich beschlossen hätte, einen Suchweg. Er geht durch Tunnels, kommt auf Plätze, wandert durch dunkle Wälder, findet auf eine Lichtung. Er schifft sich ein, gerät in Seenot, fällt über Bord. Das Wasser geht im bis zum Hals, es geht ihm über den Kopf. Er verliert den Boden unter den Füssen und geht unter.

Er tritt eine Reise an ihm Dunkeln. Hier werden Bilder hell, die in der normalen Welt nicht zu sehen sind. Sie leben in einem besonderen Gedächtnis. Jetzt ist ihre Zeit gekommen. Sie zeigen ihm Gestalten, führen ihn einen Weg.

Und plötzlich ist er wieder hinausgeworfen in eine helle Welt. Als ober er neu geboren wäre. Und er nimmt sein Leben wieder auf. Aber jetzt gelingt es ihm besser. Er kann brauchen, was er im Dunkeln erlebte. Es ist nützlich, was er lernte auf diesem Umweg, den er nie freiwillig auf sich genommen hätte, der ihm wie das Unsinnigste erschienen wäre, womit man sein Leben zubringen kann.

Aber hier, in diesem Dunkel, in diesem Umweg, in dieser Reise durch den Nahbereich des Todes, in diesem Versinken im Strudel, gegen den alle Angst sich wehrt, hier hat er etwas gelernt, was alles Tun und Wollen ihn nicht lehren könnte. Er könnte es nicht steuern, aber es gibt einen Führer, den er auf diesem Weg mitnehmen kann: das ist das Vertrauen, damit er die Sicherheit loslassen kann. Die Sicherheit hält ihn fest, er will dann alles unter Kontrolle halten. Und ganz sicher will er nicht in das hineingehen, was ihm Angst macht. Aber gerade dort ist der Weg. Gerade dort hindurch muss er gehen.

Und dort, wo er ein Leben lang dachte, sei der Strudel, das Loch, in das er sicher nie mehr hineinfallen wollte – das war sein Lebensplan – dort zeigt sich ihm jetzt die Mitte. Und später, wenn er im Leben wieder einmal dahin gelangen möchte, ist dieser Ort nicht mehr umstellt mit feurigen Flammen und eisigen Kanälen. Jetzt ist eine Tür da, wo nie vorher eine Tür war. Jetzt kann er hindurchgehen. Und sie öffnet sich in einen Garten.

Und er kann eintreten in den Garten, in die Stille, und er erlebt sich im Einklang.

Wo das Loch war seiner frühesten kindlichen Verletzungen, ist jetzt eine Mitte, in der er sich einfinden kann. Wo Verhaltensweisen sein Leben bestimmten, das andere nur als pathologisch einstufen konnten, eröffnet sich neue Freiheit.

Er hat, was seine Psyche als Verletzung empfing, umgewandelt. Etwas ihn ihm hat geholfen, als ob die Psyche eine Selbstheilungskraft hätte. Er hat es kultiviert, was anfangs naturwüchsig in ihm ablief. Er hat zur Religion gefunden, zum Glauben.

Er hat Vertrauen gelernt, zu andern Menschen, zu sich selbst, zum Dasein. Er kann auf andere zugehen, kann die reaktiven Mechanismen abbauen. Es ist, als ob die Blume im Garten, die immer nur kümmerliche Blüten trieb, sich verwandelt hätte. Sie hat Farbe angenommen, sie reckt sich in die Höhe. Sie nimmt das Licht und die Wärme auf. Dann lässt sie die Blätter fallen und Samen erscheinen, die mit dem Wind über die Wiesen treiben.

 

Foto von Reza Nourbakhsh. Pexels

«Es freue sich das Herz derer, die den Herrn suchen!», sagt der Psalm. Es ist ein Weg der Freude! Da ist jemand, der «Herr» ist über unser Leben und Ergehen. Wenn das Herz sich auf die Suche macht, wird es ihn finden. Und schon das Suchen wird ihm Freude bringen. Weiterlesen