Mühe, mich zu ertragen

Zurück aus den Ferien. Ich habe die Fotos gesehen, die von mir gemacht wurden: Ich bin erschrocken. Ich hatte Mühe, das anzusehen. Es fiel mir schwer, den als «ich» wahrzunehmen, der da zu sehen war. So down in den Ferien, so bitter der Zug um den Mund, so traurig das Gesicht. Ich erschrak, als ich mich sah.

Ich bin nicht würdig…
Ich hatte einen Moment lang Mühe, das Leben anzunehmen, das ich offenbar führe, den Menschen zu akzeptieren, der ich offenbar war. Bis ich mich erinnerte, dass ich ja offenbar angenommen war, ertragen war, mitgetragen wurde, dass ich offenbar wieder auf die Leistungs-Schiene geraten war. Und ich betete meine Dankgebete, die mit einer Vergebungsbitte anfangen. «Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.»

Mitgenommen, abgekämpft
Auf der Rückfahrt sah ich viele Gesichter und Gestalten, die aussahen wie ich, wenn ich mich nicht in Vorzeigeform fühle: Mitgenommen, abgekämpft, müde, etwas Erholung suchend, froh, dass sie davongekommen sind. Man hat ihnen mitgespielt und sie haben mitgespielt. Es sind keine Rechnungen mehr offen, wenigstens das nicht, Gott sei Dank. Da ist kein bitterer Zug, keine Verzweiflung, kein Zorn, keine Rachegedanken. Das war mal, der Pulverdampf ist verraucht.

Es sind einfach Leute, wie man sie trifft, wenn man in die Stadt geht, einkaufen im Supermarkt. Sie sind 50, 60, 70, 80 Jahre alt. Keiner ist mehr 20 oder 30, gestylt nach den Erfordernissen, die für diese Gruppen gelten. Vielleicht gibt es auch für ihre Altersgruppe Erwartungen, wahrscheinlich, aber im Kontrast zu den Jungen fällt zuerst einmal auf, dass sie nicht schlank sind, nicht gestählt, mit unförmigen Körpern, unmodischen Kleidern, manchmal auch ungepflegt, mit strubbeligen Haaren und Löchern in den Hosen… Es scheint eine Zeit der grossen Erlaubnis zu sein. Aber für ihre Altersgruppe gelten auch Normen, auch die alten Männer werden von den Frauen angesehen, jetzt eben älteren Frauen…

Die Leute, wie sie nun mal sind
Ich bin offenbar milde gestimmt, weil es mir selber so geht. Ob ich das auch auf jenen groben, ungeschlachten Mann ausdehnen kann, der auf der ganzen Bus-Fahrt in der Nase bohrte? Wahrscheinlich ist es eine Übung für mich. «Willkommen», so sage ich mir, «im Land der Leute, wie sie nun mal sind:  mitgenommen, abgekämpft, müde, etwas Erholung suchend, froh, dass sie davongekommen sind. Man hat ihnen mitgespielt und sie haben mitgespielt. Es sind keine Rechnungen mehr offen, wenigstens das nicht, Gott sei Dank. Da ist kein bitterer Zug, keine Verzweiflung, kein Zorn, keine Rachegedanken. Das war mal, der Pulverdampf ist verraucht.»

Gott sei Dank für die Überfahrt!
Das ist ja schon mal etwas, wenn keine alten Rechnungen mehr offen sind, wenn man die Verletzungen nicht in endlosen inneren Dialogen weiterspinnen muss, wenn man vielleicht die Vorhäfen des Friedens erreicht hat, die Hafenmauern, die signalisieren, dass der Sturm hier drin keine Macht mehr hat. dass man bald in den Hafen einfahren darf, und an Land gehen. Gott sei Dank für die Überfahrt! Gott sei Dank!

Foto von Joaquin Carfagna, pexels