Das Ganze im Märchen

Kinder haben Zugang zu Zauberkräften. Sie verwandeln sich, sie können im Traum fliegen. Ihre Phantasie rettet sie. Ihre Phantasie gleicht aus. Ihre Phantasie ist geimpft von dieser menschlichen Möglichkeit, sich und sein Leben zum Ganzen zu ergänzen. Ihre Phantasie ist von der Quelle her religiös verfasst: auf das Gelingen angelegt, auf das Ganze des Lebens.

Ich habe das Märchen gelesen „Der alte Zauberer und seine Kinder“. Hier sind die Kinder nicht verzaubert, verwandelt, es geht hier nicht darum, die wahre Gestalt zu finden, jedenfalls am Anfang nicht. Sie sind vom Zauberer nur entführt und „dem Bösen zugeschworen“. Es wartet ein finsteres Geschick auf sie.

Das Zaubern wechselt die Seite
Aber der Knabe guckt selber ins Zauberbuch, lernt ein paar Sprüche. Das Zaubern wechselt die Seite und hilft auch den Kindern. Sie fliehen und als der Zauberer sie fast einholt, verwandelt sich der Knabe in einen See, seine Schwester in einen Fisch.

„Bezaubernd“, das zu lesen: wie Kinder in der Angst sich verstellen, verbergen. Wie sie sich helfen und beistehen. Wie der Knabe sich um die Schwester legt um sie zu schützen. Das Verbergen ist die Möglichkeit der Schwachen. Die Tarnkappe, das Totstellen, das in den Boden Kriechen und nicht mehr atmen: das wird zu einer intensiven Erfahrung. Da tun sich Himmel und Hölle auf. Der Körper wird fremd. Der Geist macht sich auf die Reise. Allzu lang kann man das nicht tun, sonst hat es Folgen für das ganze Leben.

Kinder können zaubern. Von daher ihr Zugang zu Märchen und Zauberkräften. Nicht die Grossen verfügen darüber, sie selber verwandeln sich, sie selber können im Traum fliegen… Ihre Phantasie rettet sie. Ihre Phantasie gleicht aus. Ihre Phantasie ist geimpft von dieser menschlichen Möglichkeit, sich und sein Leben zum Ganzen zu ergänzen. Ihre Phantasie ist von der Quelle her religiös verfasst: auf das Gelingen angelegt, auf das Ganze des Lebens.

Die Statue
Der Zauberer holt Netze, um den Fisch zu fangen. In dieser Zeit schlafen die Kinder, dann ziehen sie weiter. Als er ihnen wieder auf den Fersen ist, verwandelt sich der Knabe in eine Kapelle und die Schwester in ein Altarbild in der Kapelle. (Die Illustration zeigt eine Marienstatue mit Kind).

Die Schwester ist zur Statue erstarrt, sie ist verzaubert, könnte man jetzt sagen, wenn auch zu ihrem Schutz. Ihr Retter hat sie verzaubert und verwandelt, nicht ihr Feind. Sie hat die wahre Gestalt des Mensch-Seins verloren, aus lauter Angst, aus Not, um der gefürchteten Vernichtung zu entgehen. So verbiegen sich Kinder selber aus Angst, so starten sie ins Leben. So stossen sie immer wieder auf Erfahrungen, die sie die alte Schutzgestalt aufsuchen lassen. Und Erlösung ist, die wahre Gestalt wieder zu gewinnen.

Auch die Tabu-Wirkung der Kapelle hilft, „weil das immer im Pakt der Zauberer mit dem Bösen stand, dass sie niemals eine Kirche oder eine Kapelle betreten durften.“ „Darf ich dich nicht betreten, so kann ich dich doch verbrennen“, sagt der Zauberer und holt Feuer. In dieser Zeit schlafen die Kinder, dann ziehen sie weiter. Als er ihnen wieder auf den Fersen ist, verwandelt sich der Knabe „in eine harte Tenne, darauf die Leute dreschen“ und seine Schwester in ein Korn, das auf der Tenne liegt.

Der Zauberer nimmt die Form eines schwarzen Hahnes an, um das Korn aufzupicken. Da verwandelt sich der Knabe in einen Fuchs und beisst dem Hahn den Hals durch.

Die Magie der Eskalation
Zum ersten Mal ist es eine aggressive Verteidigung. Er verwandelt sich in etwas, was ihm Kraft gibt, sich zu wehren. Beim ersten Mal wird er wie Wasser, un-greifbar und un-an-greifbar. Beim zweiten Mal ein Haus, er setzt Grenzen. Beim dritten Mal begegnet er dem Angreifer auf selber Höhe, in derselben Sprache.

Er hat einen Weg gemacht. Er ist nicht einfach wie der böse Zauberer geworden, er hat die zwei Errungenschaften noch bei sich. Und zusätzlich hilft ihm das Leben, das den Bedrohten beisteht. Der Glaube ist auf ihrer Seite, die Überzeugung, dass es ein Recht gebe und dass jedes Wesen leben dürfe. Diese Überzeugung hält ihn aufrecht auf dem ganzen Weg.

Das bewahrt ihn davor, jetzt selber ein böser Zauberer zu werden. Dann hätte das Gesetz der Verteidigung gegriffen: dass man, um einen Feind abzuwehren, seine Waffen ebenfalls einsetzen muss, dass man wie er denken muss, bis man am Schluss wie er geworden ist. Das ist die Dialektik der Rache. Die Bergpredigt „unterbricht“ den Zusammenhang durch Vergebung.

Hier ist es der Glaube, das unerschütterte Zutrauen zu sich und seinem Lebensrecht. Es verhindert eine Machtergreifung des Schattens. Und was die Kinder erfahren haben, müssen sie nicht an die nächste Generation weitergeben. Erlösung hebt den Fluch auf „bis ins dritte und vierte Glied“ und lässt die Gnade spüren „bis ins tausendste Glied“.

 

Aus Notizen 2013
Das Märchen «Der alte Zauberer und seine Kinder» findet sich im Deutschen Märchenbuch von Ludwig Bechstein.
Foto von Ketut Subiyanto, pexels