Die soziale Frage ist zurück

Der Wohlstand der Nachkriegsjahre in Europa ist vorbei. In Zukunft werden die Menschen im Westen deutlich ärmer sein. Der Mittelstand gerät weiter unter Druck. Die soziale Frage kehrt zurück. Das ist die Botschaft vieler Beobachter der wirtschaftlichen Verwerfungen dieser Zeit.

Hinter den Fragen um Börse und Wechselkurs, Rezession und Staatsverschuldung taucht eine viel grössere Frage auf. Das Gefüge von Weltwirtschaft, Staat und Gesellschaft wandelt sich. Fragen, die überwunden schienen, kehren zurück. Es ist eine Herausforderung auch für die Kirche.

Historischer Wandel
„Der Westen hat eine lange Epoche der Stabilität erlebt, eingehüllt in die Illusion endlosen wirtschaftlichen Wachstums. All das liegt nun hinter uns. Auf absehbare Zeit werden wir in wirtschaftlicher Unsicherheit leben. (…) Wir wissen nicht, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen werden, können aber nicht mehr wie selbstverständlich davon ausgehen, dass sie der unsern ähnlich sein muss.“ (Tony Judt)

Viele Kommentatoren deuten die Unruhen in Griechenland, England und anderen Ländern als Vorboten der kommenden sozialen Auseinandersetzungen. Für Tony Judt, Professor für Europäische Studien in New York, ist die „Soziale Frage“ zurückgekehrt. Anders als zur Zeit der Industrialisierung seien heute auch gut qualifizierte Arbeitskräfte bedroht. Der Mittelstand gerät zunehmend unter Druck, und mit ihm die Bürgergesellschaft, die Demokratie und alle Institutionen, die von einer informierten Beteiligungs-Gesellschaft leben.

Herausforderung für die Kirche
Die neue soziale Frage ist eine Herausforderung auch für nicht-staatliche Akteure, auch für die Kirche. Diese wird nicht nur in ihrer diakonischen Kompetenz angesprochen (bereits sind da und dort wieder Suppenküchen und Verteilzentren für die Armen eingerichtet worden), sondern auch in der Verkündigung.

Die Frage der Gerechtigkeit wird wieder wichtig. Von Gott ist auf neue Weise zu erzählen. Das Einstehen der Propheten für soziale Gerechtigkeit ist wieder zu entdecken. Daraus ergeben sich Folgerungen für das Zusammenleben.

Wenn sich die Kirche getraut, hier Stellung zu nehmen, wird sie wieder gehört. Sie tritt aus dem Ghetto der Belanglosigkeit. Die Sorge um das Soziale ist nichts Fremdes für sie, andernfalls verliert sie ihr eigenes soziales Substrat.

Wer für soziale Gerechtigkeit eintritt, wird heute oft als „links“ abgestempelt. Das Gespräch wird mit dem Sozialismus-Vorwurf blockiert. Aber „für die Probleme unserer modernen Welt gibt es die Begriffe der klassischen politischen Philosophie: Unrecht, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unmoral. Das alles sind vertraute Themen für uns, wir haben nur vergessen, wie man darüber redet.“ (Judt 182)

Wir brauchen eine offene Diskussion über solche Themen, auch in der Kirche. Viele Mitarbeitende in der Kirche verfolgen die Entwicklungen und sind wach für die Veränderungen. Aber jeder bleibt für sich. Es gibt kein Gespräch, keinen Austausch, keine Bündelung der Anstrengungen.

 

Aus Notizen 2011
(Die Zitate aus: Tony Judt, „Dem Land geht es schlecht. Dt. München 2011, S. 169f)
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