Zwischen den Jahren

Die Zeit zwischen den Jahren hat einen eigenen Sinn. Sie ist nicht nur Zwischenzeit, sie ist gefüllt mit … Ja, womit? Wenn ich sie nütze, gelingt mir der Start ins neue Jahr besser.

Lehrstücke des alten Jahres
«Ich glaube, die Bevölkerung muss verstehen, dass die Konflikte nicht mehr weit weg von ihr sind. Wie nah soll der Krieg noch kommen? Syrien, Westbalkan, Ukraine? Wann ist der Krieg nah genug?» So fragt Admiral Bob Bauer, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, bei einem Besuch in der Schweiz. (NZZ 9.12.23)

Der näher rückende Krieg lehrt mich Dinge neu sehen. Gestern im Gottesdienst, bei der Eucharistie, empfand ich es wie noch nie: als Christus Abschied nimmt, als er ein letztes Mal mit seinen Jüngern isst – wie wir ihn allein lassen! Wie wir ihn im Stich lassen! Wir folgen unserer Angst, wir können sie nicht überwinden, und ein Schuldgefühl ergreift uns, es ist wie Kälte, die uns überzieht.

(Bin ich nicht viele Mal bei einem Abendmahl gestanden? Habe ich es je so empfunden? Aber jetzt, nach all den Berichten aus dem Krieg, als ich die Menschen reden hörte, die im Krieg waren, jetzt wird es real. Ich höre und sehe, was das Abendmahl sagt und verschweigt.)

Er stellt sich, wir bleiben zurück. Ihn trifft es, wir sind froh, geht es an uns vorbei. Ihn führen sie ab. Wir blieben gerade noch mal verschont. Sie foltern ihn in gottverlassener Einsamkeit. Wir aber halten uns zurück, legen keinen Protest ein. Sind wir froh, dass es uns nicht trifft? Wahrscheinlich, aber die Empfindung, die uns ausfüllt, ist nicht Freude, es ist Schuldbewusstsein, Elend, abgrundtiefe Scham.

Aufgespart
Es stellt mir fast den Atem ab, als ich in der Kirche aufstehe und dem Messopfer bewohne. Kann ich ihm das auch noch aufbürden? Mein Schuldgefühl? Meine Scham? Ich höre, wie das Evangelium von Vergebung redet, und bin misstrauisch. Ich höre, wie der Priester Christus zitiert: „Meinen Frieden gebe ich euch, meinen Frieden lasse ich euch.“ Ist das der Widerhall meiner Wünsche? Muss er mir vergeben, damit ich weiterleben kann?

Was ist ein Leben wert, das gestohlen ist? Wozu ein Leben, wenn es nicht für das gelebt wird, was jetzt verlangt und an der Zeit ist? Habe ich es für mich reserviert? Habe ich es aufgespart für irgendetwas anderes, das vielleicht auf mich zukommt? Aber werde ich dann Antwort geben, wenn ich mich jetzt verdrückte? Werde ich jemals das tun, was Gott verlangt, nach meinen ehrlichsten und tiefsten Überzeugungen, wenn eine Situation an mich kommt – wenn ich jetzt kneife und ihn alleine diesen Weg gehen lasse?

Er trug unsere Schuld und unsere Strafe
Vor einigen Tagen habe ich angefangen, Texte aus dem Buch Jesaja zu hören. Über Mittag fahre ich fort (Jes. 40ff). Endlich kommt Ruhe in den Text, Versöhnung, Friede. Die ewige Spirale von Schuld und Vergeltung, von Sühne und neuer Schuld, das unerlöste Kreisen in Gerichts-Ansage und Heils-Verheissung, auf die neue Gerichtsansage folgt, findet zur Ruhe. Der Kreislauf wird durchbrochen, wo einer die Schuld auf sich nimmt, wo einer das Leiden trägt. So empfinde ich es nach den Texten zum Gottesknecht (Jes 53).

Jetzt tauchen Texte auf, die Scham und Schande anders bewerten. Es ist nicht mehr «das letzte», der Ort der Übeltäter und Versager, die von Gott verlassen sind. Bei einem einzelnen Menschen kennt man diese Bewegung, wenn sie sich stellen, wenn sie den Ort und die Person annehmen, wo sie stehen und in der sie leben. «Ja, das bin ich.»

Demut
Die Demut, das Akzeptieren von dem, was bisher ein Leben lang zurückgewiesen wurde, hat ungeheure Kraft. Man findet sich vor im eigenen Leben. Man ergreift das eigene Leben und es beginnt, ab jetzt, ein neues Leben, ein neuer Anfang. Man hat aus der Zerspaltung zur Identität gefunden, so findet sich Akzeptanz, Vergebung, neuer Mut. Man kann in neuer Unschuld auf andere Menschen zugehen. Die Geschichten des Lebens werden neu geschrieben.

So trägt man auch die Zuschreibungen, die von andern her erfolgen. «Ja ich bin der, den ihr in mir seht!» Man hört auf, auf Unschuld zu pochen. Sie ist doch nicht zu erweisen. Die Jahre sind allmählich vorbei, wer kann noch eine Rechnung über ein ganzes Leben führen und mit den Menschen ausfechten, die den eigenen Weg gesäumt haben? Vor Gott kann man auf seinen guten Willen hinweisen. Man weiss aber auch um seine Versäumnisse, um vieles, das gar nie zur Sprache kam, das aber doch wie eine Lebensschuld im Bewusstsein steht.

Wie es ist
Das Leben war eben so, wie es war, und nicht anders. Andere Menschen sehen es anders, sie können Anstoss daran nehmen. Sie können sich von uns zurückgesetzt fühlen, auch wenn gar keine Konkurrenz von uns aus im Spiele war… Das Leben ist unübersehbar, die Punkte unendlich. So ist auch die Rechnung, die man aufmachen kann, nie zu Ende. Vor den Menschen ist eine Rechtfertigung über ein ganzes Leben nicht möglich.

Die einzige Art, damit umzugehen, ist, das Leben Gott anzuvertrauen, sich vor ihm zu demütigen, denn keiner ist gerecht vor ihm, und auf seine Gnade zu vertrauen, in seiner Liebe wieder neuen Mut zu finden, neue Lebenskraft, in der man sich strecken kann und wieder aufstehen.

(Manchmal wird man von einer Frage eingeholt und macht Gewissens-Erforschung, z.B. in der Zeit zwischen den Jahren. Es hilft, wieder neu hinauszugehen ins Leben.)

 

Foto von Vladyslav Dushenkovsky, Pexels