Mobilmachung

Geschichte kann verletzten. Nicht nur dann, wenn sie mit kriegerischen Ereignissen einhergeht, auch wenn sie friedlich verläuft. Der Wandel hebt Altgewohntes auf, er respektiert keine althergebrachten Rechte, setzt sich über Traditionen hinweg.

Er pflügt alles um, was einst als wertvoll und würdig galt. Er entwertet ganze Berufsausbildungen. Und Lebenshaltungen, die während einer ganzen Kindheit eingeübt worden sind, reichen plötzlich nicht mehr aus, um in einer veränderten Umgebung zu bestehen.

Stille Revolution
Unsere Wirtschaft hat eine gigantische „Mobilmachung“ in Gang gesetzt. Die Welt ist global miteinander verflochten. Da ist in einem Land plötzlich kein Platz mehr für einen Bauernstand, in einem anderen Land lässt die Nachfrage neue Berufe entstehen. Die Frauen sind zwar in den Arbeitsmarkt integriert, aber wenn sie Kinder bekommen, eine Familie gründen und ein paar Jahre aussetzen, ist ihre Ausbildung veraltet. Der Strom der Mobilität reisst alles mit. Berufe verschwinden, Kompetenzen veralten im selben Rhythmus wie die Unterhaltungs-Elektronik neue Produkte auf den Markt bringt.

Das alles schreibt sich schnell hin, aber es sind stille Revolutionen. Ganze Berufe verschwinden, der Aufbau der Gesellschaft wird umgepflügt. Traditionen, die seit Jahrtausenden unsere Kultur prägten wie das Bauerntum, werden an den Rand geschoben. Wer bisher etwas galt, versinkt in Unansehnlichkeit, dafür taucht eine Schicht von Neu-Reichen auf.

„Ein Zeichen setzen“
Und die Kirche? Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem Mann, der austreten wollte. Er wollte damit ein Zeichen setzen gegen diesen ungeheuren Wandel, gegen diese ungeheure Verletzung durch eine anonyme Geschichte. Die Kirche gilt für viele als Garant der Stabilität. Aber die Stabilität der Lebens-Verhältnisse kann sie nicht festhalten. Sie ist der Geschichte genauso unterworfen wie alle historischen Institutionen. Deshalb ist ihr Symbol auch nicht das Gebäude, sondern das Schiff.

Vertrauen
Was der Glaube geben kann, ist nicht Sicherheit und Unverrückbarkeit. Was er geben kann ist – in allem Wandel – Vertrauen. Vertrauen, dass wir in Gott geborgen sind und gerade deshalb die Schritte tun können, die nötig sind. Gerade dann, wenn wir die alten Werte hochhalten wollen, müssen wir ihnen unter veränderten Umständen ein neues Kleid geben.

Aus Notizen 1998
Foto: Mobilmachung 1. WK, Bundesarchiv, gemeinfrei