Der gordische Knoten

Gerade der Umweg ist für mich nötig, weil er auf einer Wahrheit insistiert, die ich nicht wahrhaben will, die ich aber für mein Leben brauche.

Wenn ich nach meinem eigenen Verstand beurteilen könnte, was „Weg“ und was „Umweg“ ist in meinem Leben, dann gäbe es nur gerade Strecken, die ohne Umschweife zum Erfolg führten. Jedenfalls zu dem, was ich für „Erfolg“ halte. Das würde sich ausrichten an den Erwartungen der Menschen, an ihrer Zustimmung und Ablehnung. Aber das wäre ein Weg, der mir schlecht bekäme, weil meine wahren Interessen darin nicht vorkämen. Zu vieles, was zu einem wahren Leben gehört, wäre dann abgeschnitten.

Nein, mein Verstand, meine Antriebe, so wie ich sie in der Kindheit kennengelernt habe, sind ein schlechter Anwalt für meine wahren Interessen an einem richtigen Leben. So sind diese Interessen auf das Widerständige in meinem Leben angewiesen, das sich diesem „Ausverkauf“ entgegenstellt. „Wahrheit“ findet sich hier weniger auf meinem Weg als auf den Umwegen, die mein Leben nimmt, weil dort die Wirklichkeit meines Lebens besser zum Ausdruck kommt als in den allzu gefallsüchtigen Bestrebungen des bewusst angestrebten Weges.

So drückt sich in den Umwegen die Wahrheit eines Lebens aus. Da findet sich die Kindheit wieder, da sind die Prägungen, das, was jemand mit sich trägt, auch wenn er es am liebsten los sein möchte. Aber im Umweg zeichnet es sich ab. Um es loszuwerden, muss man es wertschätzen. Es ist paradox, aber so lange ich etwas an mir ablehne, schnüre ich den Knoten nur immer fester. Jedes Ziehen daran löst ihn nicht, sondern verfestigt ihn nur umso mehr. Erst wenn ich ihn akzeptiere, kann er sich lösen. Erst wenn ich meine Umwege annehme, erkenne ich sie als Wege, die mich zuverlässiger zum Ziel führen, als die geraden Wege, die ich gern eingeschlagen hätte.

Das ist der gordische Knoten, der sich löst, wenn man ihn nicht mehr lösen will. In seinen labyrinthischen Windungen steckt die Wahrheit eines Lebens. Und alle Heilung muss den Weg der Wahrheit gehen. Was wir für „Heilung“ halten, ist oft nur ein Bild, das noch mehr Zwang ausübt: der Wunsch nach einer bestimmten Normalität, ein Licht, das alles in den Schatten drängt, das dem nicht entspricht. Wirkliche Heilung muss den Weg durch diesen Schatten gehen. Der Arzt legt den Verband ja auch um die Wunde, nicht auf die gesunden Glieder.

Heilung beginnt haargenau dort, wo die Krankheit ist. Oder religiös gesprochen: Unsere Umwege sind die Wege, die Christus macht, um bei uns vorbeizukommen. Hier trifft er uns an, nicht auf den breiten Strassen unseres Ehrgeizes. Und hier können wir ihn treffen, wenn wir uns auf die Umwege unseres Lebens einlassen, wenn wir uns auf die Wirklichkeit unseres Lebens einlassen. Hier sucht und findet er uns. Und wenn wir ihm vertrauen, spricht er sein: „Gehe hin, dein Glaube hat dich gerettet!“

 

Aus „Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998.
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