Du sollst Gott lieben!

Wenn wir jemanden lieben – erinnern wir uns noch, wie das war, als wir verliebt waren? – Wie nur schon der Gedanke an ihn oder sie uns Freude machte!

Ein Mann kommt zu Jesus: Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Dieses Wort verwenden wir kaum mehr: ewiges Leben. Gemeint ist der Inbegriff des Lebens. Dass es gut kommt mit dem Leben, trotz Krankheit, trotz allem, was entgegensteht. Ja sogar über alle Hoffnung hinaus, die man vernünftigerweise haben kann.

Ein Ziel, über alles hinaus
In unserm Vertrauen spüren wir, dass wir mit unserm ganzen Leben bei Gott geborgen sind. So möchten wir alles ihm anvertrauen und mit allem bei ihm geborgen sein. So hoffen wir auf ihn sogar über den Tod hinaus.

Und wenn die ganze Welt unterginge, unsere Ahnung sagt, dass bei ihm alles aufgehoben ist. So möchten wir hoffen und vertrauen, dass bei ihm alles ans Ziel kommt und nichts vergebens war, und dass auch wir bei ihm ewige Heimat finden.

Manche Menschen haben kaum mehr Ziele, wenn sie alt und gebrechlich sind und alles nur immer schlimmer zu werden scheint. Dass die Krankheit geheilt wird, ist nicht mehr zu hoffen. Höchstens, dass sie keine Schmerzen mehr haben. Manche Menschen haben mit dem Leben abgeschlossen, sie möchten nur noch sterben. Was können sie noch wünschen? – Dass sie mit ihrem ganzen Leben ankommen, zu Gott finden! Dass sie mit allem bei ihm aufgehoben sind, was immer geschieht!

Die Erbschaft
Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? fragt der Mann. An der Frage fällt etwas auf: Ewiges Leben ist offenbar etwas, was man erbt. Wer erbt, das sind die Kinder, das sind die Ehegatten, die Brüder und Schwestern. Man muss offenbar Kind werden von dem, den man beerbt, Bruder, Schwester, Gefährte auf dem Weg. Ja Geliebte und Geliebter. Ihnen fällt zu, was man sonst nicht erreichen kann.

Der Geliebte
„Was soll ich tun?“, fragt der Mann. – „Du sollst Gott lieben!“ Jesus sagt nicht: Gott liebt dich, sondern: liebe Gott! (Lk 10,27) „Gott liebt dich“, das ist die häufigste Predigt, die man heute in der Kirche hört. Aber so heisst es hier nicht. Wir sollen Gott lieben: Wir sollen zu Gott kommen, wie zu jemandem, den wir gernhaben. Wir sollen an ihn denken, wie an jemanden, den wir lieben.

Wenn wir jemanden lieben – erinnern wir uns noch, wie das war, als wir verliebt waren? Wie nur schon der Gedanke an ihn oder sie uns Freude machte! Und wir nahmen diesen Gedanken hervor wie etwas Schönes aus dem Schatzkästlein, an dem man sich freuen kann! Dass wir ihn kennen lernten, das hat unser ganzes Leben verwandelt und kostbar gemacht!

Zwei Verliebte haben oft das Gefühl, sie hätten sich schon immer gekannt, auch wenn die erste Begegnung vielleicht erst einen Tag zurückliegt. Dass sie sich gefunden haben, das antwortet auf eine tiefe Sehnsucht. Es ist, als ob man schon immer füreinander bestimmt gewesen wäre. Als ob man mit seinem Leben jetzt an einem Ziel angekommen wäre, zu dem man unerkannt schon lange unterwegs war.

In der Mitte
Wir begreifen, was Jesus sagt: Liebe und du wirst leben! Liebe ist wie der Inbegriff des Lebens: wo sich alles verdichtet, wo wir uns fühlen, als lebten wir in der Mitte der Welt, und nichts könne uns erschüttern.

Die meisten Liebesgeschichten brechen hier ab, wenn die zwei sich gefunden haben. Und manchmal fragen wir: Was kommt nachher? Wir wissen ja, dass es eine grosse Aufgabe ist, eine Beziehung zu leben. Wir kennen die Herausforderungen, die es bedeutet, eine Familie aufzuziehen.

Auf dem Weg
Die Liebe ist vielleicht noch nicht das Ziel des Lebens, aber es ist die Haltung, in der wir das Ziel erreichen. Die Liebe ist vielleicht noch nicht die Antwort auf alle Fragen, die der Alltag uns stellt. Aber es ist die Haltung, in der die Antworten gefunden werden.

Die Liebe macht reich, so kann man das Kleinliche ablegen. Man muss sich nicht mehr um sich selber drehen. Man muss mit Anerkennung für andere nicht sparen. Man kann sich mitfreuen mit andern, wenn ihnen etwas gelingt. Das kennt die Mutter, wenn sie sich mit ihren Kindern freut. Das kennt die Geliebte, wenn sie ganz im Geliebten lebt.

Wer liebt, dem ist das nicht fremd, was Jesus sagt: dass wir unsern Nächsten lieben sollen wie uns selbst. So ist die Liebe die Antwort auf die Frage, wie wir das ewige Leben ererben. So wird das Leben ganz, so wird unser Weg reich. Wenn wir anfangen, an Gott zu denken, wie an jemanden, den wir lieben. Und wenn wir uns von dieser Liebe leiten lassen, Tag für Tag.

 

Aus Notizen 2005
Foto von pexels