Am frühen Morgen begann der Krieg

Der Angriff auf die Ukraine hat den Krieg nach Europa zurückgebracht. Ältere erinnern sich an frühere Kriege, die nachts ins Leben einbrachen, auch wenn sie nicht bis Europa vordrangen. Das Leben war von heute auf morgen ausgetauscht. Am frühen Morgen des 17. Januar 1991 begann der Krieg gegen den Irak. Wir wurden im Predigerseminar davon überrascht.

 

Die Welt befindet sich im Krieg und wir üben hier predigen! Das klingt wie ein Vorwurf, so als ob wir Besseres zu tun wüssten und unsere Zeit mit Predigen vertrödelten. Aber ich meine es nicht als Vorwurf, ich stelle es nur fest und weiss noch gar nicht, wohin mich diese Feststellung führen wird.

Nichts kann seine Unschuld bewahren
Zunächst zeigt diese Feststellung, wie der Krieg seine Ringe zieht, nichts kann sich ihm entziehen. Nichts kann seine Unschuld bewahren, denn jedes Tun und Lassen sieht sich plötzlich unter Rechtfertigungsdruck, warum es sich nicht gegen den Krieg erhebt. Es gibt plötzlich keinen Alltag mehr, jenes Dahinplätschern des täglichen Lebens, wo so viele Fragen der Lebensführung unbestritten scheinen, dass man sich den Routinen der Gewohnheit anvertrauen kann.

Plötzlich ist die Fraglosigkeit des Alltags zerbrochen, jeder Schritt muss wieder neu überlegt werden: Wozu stehe ich auf, wenn ich am Morgen aufstehe? Mit welcher Beruhigung kann ich mich dem Schlaf überlassen, wenn ich abends ins Bett gehe? Mit welcher Berechtigung steige ich in den Bus, wenn ich nach dem Frühstück routinegemäss zur Arbeit gehe?

Der Krieg zieht seine Ringe, und alles verliert seine Unschuld, alles wird einbezogen in Gewinne und Verluste, die der Krieg schafft, in Schuld und Opfer, die er hinterlässt. Die Medien berichten nur, das ist ihre Aufgabe, sie sind unschuldig am Gewinn, den sie machen, denn in Kriegszeiten wollen die Menschen eben vermehrt Nachrichten hören, Meinungen austauschen. Doch das Kollaborieren liegt nur eine Handbreit daneben: Ich kann die Nachricht so oder anders aufmachen, und ich weiss, dass ich den Absatz damit fördern oder hemmen kann.

Auch bei mir ist alles plötzlich in ein grelles Scheinwerferlicht getaucht. Ich kann beim besten Willen nur das tun wollen, was ich für meine Pflicht halte, und erst hinterher bemerke ich, wie ich fast unmerklich kollaboriert habe, wie ich Gewinne aus Entwicklungen gezogen habe, die ich moralisch verurteile. Aber woher denn die Kraft und die Einsicht, ein solches Kollaborieren aufzudecken und mich dagegen zu wehren?

Kollaborieren
Wenn die UNO einäugig gehandelt hat, indem sie nur die gegen Irak gerichteten Resolutionen mit Waffengewalt durchsetzt und andere Resolutionen vergisst; wenn der „Westen“ die ganze Welt in seinen Wirtschaftsraum einbezieht, aber wegen seines nichtaufzuholenden Vorsprungs niemandem eine Chance gibt, ebenfalls aus dieser Verbindung zu profitieren; wenn nun die arabische Welt härter protestiert als andere Regionen der sog. Dritten Welt, weil die arabische Welt selber auf eine Epoche der Welt-Zivilisation zurückblickt und diese Demütigung und Marginalisierung nicht ertragen kann – bin ich in all diesen Fragen zum Profiteur geworden?

Die Entwicklung „läuft nun mal so“, dass das Preisgefälle zwischen Industriegütern und „Kolonialwaren“ immer grösser wird, was kann ich dafür? Lebe ich nicht schon seit Jahren mit einem schlechten Gewissen, weil ich mich in einen weltweiten Schuldmechanismus verstrickt fühle, aus dem es keinen individuellen Ausweg gibt?

Was tun also?
Der Krieg stellt meine Routinen in Frage. Was ich bisher der Gewohnheit übertrug, muss ich neu beantworten, und gerade diese Gewohnheit wird nun verdächtig. War ich nicht allzu schnell einverstanden mit der Welt, „wie sie halt so läuft“? Ist vielleicht gerade die Gewohnheit schuld, dass ich mich nicht mehr in Frage stellen liess? Habe ich andere Menschen, die unter den herrschenden Verhältnisse zu kurz kommen, mit meiner Unbeweglichkeit gezwungen, um ihren Anteil zu kämpfen, und habe ich sie in meine Taubheit dazu veranlasst, zu immer härteren Massnahmen zu greifen, bis der Kampf um Recht oder Unrecht zur Waffengewalt eskalierte?

Ich bin in diesem Krieg gespalten, hin und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Frieden und der Einsicht, dass Recht und Unrecht hier nicht so einseitig auf die Kriegsparteien verteilt sind, dass es also eine Berechtigung gibt, zu kämpfen, dass auch unsere Seite Haare lassen muss.

Und wenn ich gespalten bin, heisst das nicht, dass ich diesen Krieg auch an meinem Ort ausfechten muss, dass ich ihm an meinem Ort einen Sinn geben muss, so unsinnig das Töten auch ist? Vor dem Töten aber liegt das Kämpfen, und dieses eskaliert nur dann zum Krieg, wenn wir uns nicht im Sinn einer friedlichen Streit-Kultur schon auf tieferer Ebene von Recht und Einsicht besiegen lassen.

Ich ertrage diesen Krieg nur, wenn ich an ihm teilnehme. Nicht, indem ich zu Gewalt aufrufe, nicht, indem ich mich für neutral erkläre und so eine Individual-Unschuld zu konstruieren versuche, sondern indem ich mich von ihm infrage stellen lasse; indem ich meinen Gewohnheiten zu misstrauen beginne, indem ich aktiv suche, was das Recht auch der Gegenpartei ist. Erst wenn wir friedliche Wege finden, die uns helfen, um Recht und Wahrheit zu streiten, können wir den Krieg verhindern.

Das heisst aber auch, dass ich gewisse Positionen loslassen muss, an denen ich mich aus Eigennutz, Bequemlichkeit oder Angst festklammere. Oder warum sonst klammere ich mich daran fest? Vielleicht ist es auch nur jene Gewohnheit, die es auf eine so schreckliche Weise hinnimmt, dass wir in der Schweiz im Wohlstand leben, während auf anderen Kontinenten jeder Tag einen Überlebenskampf für die Menschen bedeutet?

 

Aus Notizen 17. Januar 1991, Beginn des Golfkrieges.
Foto von Justbüke von Pexels