Als das Jahrtausend begann

Zum 20. Jahrestag von Nine Eleven

Wie ein Fanal steht am Anfang des Millenniums der Anschlag von „Nine Eleven“. Als ob der Terror dem neuen Jahrtausend seinen Stempel aufdrücken wollte. Aber es war nicht der Terror allein. Ökologie und Ökonomie produzierten immer neue Schreckensmeldungen. In der Schweiz ist das Jahr 2001 mit Flugzeugabsturz, Unfall im Gotthardtunnel und «Grounding» der Swissair als eigentliches „Katastrophenjahr“ in die Geschichte eingegangen, am schrecklichsten war vielleicht der Amoklauf im Zuger Kantonsparlament mit 14 Toten und 18 Verletzten.

Es schien kein Halten mehr zu geben
Es war auch eine Frage an den Glauben, der sich weiterentwickeln musste. Viele Themen dieser Zeit lesen sich im Rückblick wie ein Sich-Versichern in dem, was Halt geben kann.

Nicht nur der Terror, auch die Klimafrage verunsicherte im neuen Millennium zusehends die Menschen. Dass die Welt Bestand habe, unabhängig von Menschen und selbst gegen sein zerstörerisches Handeln, darin versichern sich Menschen seit den alten Hochkulturen in Schöpfungs-Erzählungen. Darin haben sie auch ihr Erschrecken aufgehoben, durch eigene Schuld die Welt zu zerstören.

Erzählen
So antwortet die Religion auf die Angst vor Zerstörung der Lebensgrundlagen. Und sie tut es in Form einer Erzählung. Dass die Welt Bestand hat, ist denk- und lebensnotwendig. Ohne dieses Vertrauen wird alles absurd (und ein Engagement für die Erhaltung der Welt motivationspychologisch unmöglich). Denk- und lebensnotwendig ist auch, dass es für das individuelle Leben ein „Ankommen“ gibt und dass der Weg der Menschheit nicht im Dunkeln endet.

Das ist der Erzählhorizont, den eine Lebens-Geschichte anpeilen muss. Er geht über alles hinaus, was der betreffende Mensch oder seine Gemeinschaft oder selbst die Menschheit als Ganzes verantworten können. Er geht über Geburt und Tod hinaus. Die Erzählung geht vom Ursprung bis zum Ziel, wo das Leben und alles Leben „ankommt“. Das ist die Art, wie die Bibel seit je das Leben erzählt und also nichts Neues. Wenn alles versöhnt werden soll, ist ein Konzept von allem nötig. Das geschieht nicht spekulativ, das geschieht im praktischen Vollzug des Lebens und in seinen religiösen Handlungen, v.a. im Gebet.

Das Gebet und seine Sicht auf „alles“
Wer betet, findet sich im Gegenwind der kulturellen Strömungen. Seit der Aufklärung wird die Metaphysik „verabschiedet“, die Religionskritik ist zu einem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz geworden. Und doch, wer betet, der setzt „Gott“, eine „Welt“ und ein „ich“ – das sind die Themen der Metaphysik. Aber dieser Blick auf die Totalität von „allem“, das entspringt nicht einem spekulativen Bedürfnis, das folgt der schieren Not des Lebenkönnens. Denn jetzt, in der Not, muss ich Antwort haben. Und so stelle ich mich vor Gott. Und „alles“ erscheint mir in neuem Licht. Als ob es so etwas wie Barmherzigkeit gäbe, vor der auch ich bestehen kann.

Einschliessende Geschichten
Die religiöse Tradition leiht ihre Geschichten dazu. Es sind einschliessende Geschichten, wo selbst der Aussätzige dazu gehört, weil Jesus ihn berührt. So lassen mich diese Geschichten besser verstehen, wer ich bin und wer die Menschen sind. Unter dem Blick dieser Geschichten können wir uns integrieren: als Menschen mit unserer Psyche und mit den disparaten Erfahrungen unseres Lebenslaufes, aber auch in der Gesellschaft, weil niemand ausgeschlossen wird. Darum sind solche integrativen Geschichten lebensnotwendig – für die psychische Gesundheit der Menschen und das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft.

Die Fragen des neuen Millenniums
Und das ist vielleicht das grosse Thema des neuen Millenniums: Integration und Abgrenzung, und in beidem: Selbstbehauptung. Da sind die Millionen Menschen, auf der Flucht vor ökologischen Katastrophen und wirtschaftlicher Verelendung. Da sind die Erfahrungen von Millionen Menschen, die an der einseitigen Integrationsleistung durch die Globalisierung nicht teilhaben und aussen vor bleiben. Da sind all die Menschen, die sich sozial nicht mehr integrieren können und damit auch psychisch desintegrieren. Sie können kein stabiles Selbstwertgefühl mehr aufbauen, keine stabile Haltung. Es fällt ihnen schwer, eine regelmässige Lebensführung aufrecht zu erhalten. Sie geraten an den Rand und darüber hinaus.

Weder «Katastrophe» noch «Untergang»
Wohin das neue Jahrtausend steuert, ist ungewiss. Was ist alles geschehen zwischen den Jahren 1000 und 2000? Die Trends zu extrapolieren ist genauso falsch wie auf Gestaltbegriffe zu setzen wie „Katastrophe“, „Fortschritt“ oder „Untergang“.

Die Zukunft ist ungewiss. Gewiss sind die Intuitionen, die wir in uns selber finden und die bestätigt werden durch die Erfahrung der Generationen, wie sie in der Bibel überliefert werden. Dazu gehört die Gerechtigkeit; und die Erfahrung sagt, dass so ein Zusammenleben in Frieden möglich ist. Dazu gehört die Barmherzigkeit, weil Versöhnung die Kraft hat, die Vergangenheit zu ändern und neue Wege für die Zukunft zu öffnen.

All das ist zusammengefasst im Bild vom „Reich Gottes“. Das ist ein Zukunftsbild für das neue Millennium. Da gibt es für den einzelnen Menschen ein „Ankommen“ nach seinem Weg. Wir wissen die Welt „gehalten“, trotz unseres Tuns und obwohl wir sie zu zerstören scheinen. Und der Weg der Menschheit verläuft sich nicht im Dunkeln. Es endet im Licht. „Und er sah an alles was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut.“

 

Aus «Katastrophen und Wendepunkte. Der Weg ins neue Millennium. Notizen 2001 und 2002». Dazu findet sich auch ein Streiflicht auf diesem Blog (auf Menüliste anklicken).
Foto von kat wilcox von Pexels