Ist Schubert erledigt?

Ich habe das“ Streichquintett gekauft von Schubert. (Ich war gestern in der Stadt). Ich habe mir früher geschworen, diese Musik nie zu kaufen, obwohl es mir schien, das sei das schönste Stück Musik, das ich je gehört hätte. Ich hatte es kennengelernt als Musik in einem Film über Auschwitz. Da war ein Nazi-Offizier, ein KZ-Leiter. Später sah man die Schuhe und Brillen der Opfer, ganze Berge. Und da sass dieser Offizier und höre den langsamen Satz dieser Musik!

 

Es ist unerträglich. Diese Musik zu hören, das wäre gewesen wie eine Leugnung und Missachtung von dem, was hier geschehen ist. Heute geschehen viele Gräuel, jeden Tag. Und ich muss doch den Atem einziehen. Ich habe ein Stück weit resigniert gegenüber dem Impuls des Machens und gegenüber meinem Beitrag, nicht aber gegenüber den Massstäben, was richtig und falsch ist.

Heute denke ich, das Stück nicht zu hören, gibt den Nazis Recht auch über ihre Zeit hinaus, in die Zukunft und in die Vergangenheit hinein. Ihre Rezeption ist nicht die einzig mögliche für Schubert. Seine Musik ist nicht zwangsläufig auf Auschwitz zugelaufen. Sie muss an anderem Ort nicht wieder zu einem Auschwitz führen.

Passion im KZ
Man kann die Musik reinigen, retten, heiligen. Ich höre sie gestern Abend und bete dazu. Ich bete für die Opfer, damals und heute. Sie wurden vorgeführt, verachtet, verspottet, gekreuzigt. – Ich will sie nicht noch einmal überfremden mit christlichen Bildern. Aber mir, in meinem Glauben, steigen diese Bilder auf. Ich kann sie nicht anders sehen und begreifen als von der Kreuzigung her. Und sie werden mit ihm auferstehen, das ist meine Hoffnung, auch wenn diese nicht mitteilbar ist gegenüber jüdischen Menschen, weil es wieder auf eine Kränkung hinausliefe.

Insofern haben die Nazis Schubert wirklich ein Stück weit erledigt. Und die ganze europäische Kultur. Das ist dieser Geschichte und der Erinnerung eingestiftet wie der 30jährige Krieg. Man kann nie wieder von Europa erzählen, ohne diese Geschichte nicht auch zu erzählen.

Die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi
Auch die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi ist eine solche Erinnerung, die uns aufgegeben ist. So bearbeiten wir unser Trauma. So retten wir unsere Intuitionen, so bewahren wir in uns Glaube, Hoffnung und Liebe. So retten wir unser Handeln gegen Erschöpfung und Zynismus. Denn wieviel Grausamkeit ist darin enthalten! Wie viele Leiden von einzelnen Menschen und ganzen Völkern! Wieviel Blut und Elend von ganzen Epochen!

Im Widerspruch
Für mich ist es die Erfahrungsgeschichte der ganzen Menschheit – und die Geschichte, die weitergeschrieben wird von Ostern her, von dem kontrafaktischen Beharren auf den lebens-stiftenden Intuitionen von Wahrheit, Recht, Barmherzigkeit und Solidarität.

Ich sehe sie auch in der Fortsetzung des ersten Testamentes. Für mich ist es auch die Geschichte des alten Israel. So wie Marc Chagall in sein Bild vom Leiden des jüdischen Volkes einen Gekreuzigten malte. Ein jüdischer Maler kann ein Kreuz hinein malen, ein christlicher nicht.

 

Aus Notizen 2014
Bild: Chagall, Quelle: https://www.kunst-meditation.it/chagall-weisse-kreuzigung/