Rekonstruktion von Glauben und Kirche?

Es geht nicht nur um den Stand von Theologie und Kirche heute in der Gesellschaft, ob ihre Vertreter unter den Honoratioren sitzen dürfen und ob die Theologie an staatlichen Fakultäten gelehrt wird.

Es ist nicht nur die Frage, ob die Christen trotz all der Gräuel-Meldungen von Übergriffen (am Wochenende brachte die «NZZ am Sonntag» einen Bericht über den Kinderraub in Chile, der unter Pinochet begonnen aber lange fortgeführt wurde, unter Mitwirkung von Kirche, Priestern und Nonnen) – es ist nicht nur die Frage, ob die Christen trotz dieser Vorkommnisse, die eher zu einer «Kriminalgeschichte des Christentums» passen, noch ein Minimum von Respekt geniessen. (Der Schweizer Verfassungsschutz hat kürzlich eine Terrorübung abgehalten, in deren Szenario die Bedrohung von einer «Sekte» ausging.)

Äussere und innere Fragen
Es ist nicht nur die Frage, ob Kirche und Glaube in der «Moderne» akzeptiert werden oder «verabschiedet», ob sie verstanden werden oder «aufgehoben». Es ist verbunden mit Fragen, die die Kirche selber im Innersten angehen: ob ihr Wesentliches so dargestellt werden kann, ob Glaube über Einsicht gelehrt und gelernt werden kann.

Und es ist die Frage, aus welchen Quellen Kirche und Christentum neu entsteht, wenn die Traditionslinie abbricht, wenn die Traditions-Beauftragten die Aufgabe selber fahren lassen. Es gibt ja auch die Scham für das Evangelium, wenn dieses vor dem Zeitgeist nicht mehr einsichtig zu machen ist und die Anhänger verlacht werden. So warnt schon Christus vor denen, die sich des Evangeliums schämen (Mk 8,38) und Paulus predigt bewusst die Botschaft des Kreuzes, die weder durch Einsicht noch durch Machttaten populär zu machen ist.

Drei Fragen
Im Programm einer «Rekonstruktion» stecken mehrere Fragen. Drei will ich herausgreifen:

Kann der Glaube, kann Religion philosophisch rekonstruiert werden?
Eine philosophische Rekonstruktion ist wohl nicht für den Glauben selbst möglich, denn dieser entsteht nicht durch Gründe, wohl aber für die weltanschauliche Einkleidung, den der Glaube in einer Zeit angenommen hat. Diese kann in einer anderen Zeit von den gewandelten Auffassungen her «rekonstruiert» werden. Rekonstruktion betrifft also nur die philosophische Einkleidung, die das Wesentliche des Glaubens gerade nicht berührt.

Hier wird «dekonstruiert» und «rekonstruiert» – oder die Rekonstruktion unterbleibt, weil kein Interesse oder keine Chance dafür gesehen wird. So gibt es Haltungen, die diese Traditionen skeptizistisch zurückweisen oder relativistisch auflösen. Oder die Geltungsansprüche von Wahrheit, ethischer Richtigkeit und Schönheit, die damit verbunden sind, werden zynisch demontiert – je nach historischem Umfeld.

Kann der Glaube, kann Kirche rekonstruiert werden?
Können sie neu begründet werden, wenn sie einen Niedergang erleben, wenn die Tradition «abbricht» (diese unpersönliche Formulierung verwedelt die Verantwortung), weil die Tradition aus Scham nicht weitergegeben wird oder weil sich Kirche und christliche Kultur kompromittiert haben durch Verstrickung in Gräueltaten…?

Die Reaktion auf die Gräuel und die Verstrickung ist das eine, dem ich an dieser Stelle nicht weiter nachgehen. Kann aber der Glaube rekonstruiert werden, wenn er verloren geht? Wenn Menschen nicht mehr auf Gott vertrauen können? Wenn sie verzweifelt sind und nichts mehr sichtbar scheint, was aus Verzweiflung und Not herausführen könnte? Gibt es eine religiöse Antwort auf Krieg, Völkermord, auf Shoa und Klimakrise?

Glaube entsteht nicht aus Einsicht. Sein Element ist nicht die Er-Kenntnis, sondern das Be-Kenntnis. Dazu bekennt man sich aus Motiven, die auch, aber nicht wesentlich intellektueller Art sind. Es ist kein Aha-Erlebnis, kann von solchen Erlebnissen aber begleitet werden.

Manchmal muss der Glaube auch erkämpft werden gegen den Sog aller plausiblen Aha-Erlebnisse, die sich z.B. frühkindlichen Erfahrungen verdanken und die, wenn man ihnen folgt, eine Welt der traumatischen Verletzung perpetuieren und die Wirklichkeit schalldicht isolieren und abdichten. Dann dringt kein Lichtschein des Evangeliums mehr durch und die Welt erscheint als Hölle, wo Recht und Wahrheit keine Chance haben und der Mensch eine Kreatur ohne Würde ist.

Der Glaube entsteht unter dem Kreuz (s.u.) Diese existenzielle Erfahrung «unter dem Kreuz» wird rituell nachgestellt in der Taufe, wenn die Kirche neue Mitglieder aufnahm.

So werden Glaube und Kirche «rekonstruiert»: nicht durch Aha-Erlebnisse, nicht durch «philosophische Rekonstruktion», nicht durch ein noch besseres System von Sätzen, die apologetisch, polemisch und dogmatisch angewendet werden können. Das alles bleibt im Rahmen des philosophischen Gesprächs zwischen Kirche und Umwelt. Glaube aber lebt durch Nachfolge.

Was sind die Quellen des Glaubens?
Wie lässt sich die Kirche «rekonstruieren», wenn sie untergeht? Ich frage nicht nach dem historischen Szenario, wo, wie und von wem die Gebäude und Institutionen wieder aufgebaut werden, die heute verlassen werden und bald nur noch wie Ruinen in der Landschaft stehen, wenn sie nicht umgenutzt werden wie in England nach der Säkularisierung. (Der Besuch dieser Monasteries, Abbeys, Priories und Nonneries, die zum «English Heritage» gehören, ist ein eindrückliches Erlebnis einer Englandreise. Es sind Ruinen aus der Zeit Heinrichs VIII, als er die Reformation in England einführte und die Klöster enteignete.)

Es geht um die Quellen des Glaubens, aus denen dieser neu entsteht, auch wenn die Tradition der mündlichen Weitergabe abreissen sollte. Ist der Stafettenlauf der Generationen denn nicht heute schon eingebrochen, wonach ein Geschlecht dem folgenden den Stab weiterreichen und vom Evangelium erzählen soll?

Aber wo, im Szenario der Evangelien, ist der Ort, wo das Wort wieder hörbar wird? Wo müssen wir uns hinbegeben, wenn wir mit Christus mitgehen auf seinem Passionsweg durch die Zeiten?

Die Botschaft von der Auferstehung kam von denen, die unter dem Kreuz aushielten. Sie sind nicht davon gelaufen. Sie sind «da» geblieben. Sie haben erlebt, wie Hass und Leidenschaft sich ausgetobt haben. Und in der Stille, als alles Menschenmögliche gesagt und getan war, in der Stille wurde das andere hörbar, das, was nicht von Menschen gemacht wird und doch das Leben trägt.

Gerechtigkeit und Erbarmen, sie haben sie mit Füssen getreten in seiner Passion. Aber in der Stille wacht die Intuition mit umso deutlicherer Stimme auf. Gerechtigkeit, das ist denk- und lebensnotwendig. Und ein Zusammenleben unter Menschen gibt es nur, wenn wir die Kunst der Vergebung lernen. So entsteht auf den letzten leeren Plätzen dieser Kultur, wenn alles andere zerstört ist, die Gewissheit des Lebens – und nicht eines blossen Überlebens, sondern eines Lebens in Würde.

Drei Intuitionen sind denk- und lebensnotwendig, damit der einzelne seine Gesundheit wahren und die Gemeinschaft in Frieden zusammenleben kann: dass die Welt Bestand hat, trotz des Menschen; dass es für die individuelle Biographie ein „Ankommen“ gibt und dass der Weg der Menschheit nicht im Dunkeln endet.

Und seltsam, was all die Theologen und Philosophen nicht fertig bringen, die „Ostern“ umschreiben wollen, an diesem Nullpunkt ereignet es sich: die Gewissheit des Lebens, eines Lebens in Würde, wo der Verlorene gesucht, der Gedemütigte erhöht wird und wo die Schöpfung ans Ziel kommt.

Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Denn er war sehr gross. Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling, der hatte ein langes weisses Gewand an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen.

 

Abbildung: Girsborough Priory, English Heritage

Zum Ewigkeits-Sonntag (ref.) bzw. Christkönigsfest (kath.), dem letzten Tag des Kirchenjahres. Hier wird das Ende der Geschichte in der Feier vorweggenommen, das Reich Gottes.