Lässt sich eine verschwundene Religion rekonstruieren?

Der Philosoph Jürgen Habermas wird in der Kirche gern gelesen. Er vertritt eine moderne Welt in der Phase des «nachmetaphysischen Denkens» und spricht doch voller Anerkennung von Religion und Kirche. «Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloss eliminieren, hinterlassen Irritationen», sagt er in seiner Dankesrede zur Überreichung des deutschen Friedenspreises 2001.

Die verlorene Sprache
«Als sich Sünde in Schuld verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens – jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Mass menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere.» Und er erinnert an den Holocaust und die Erfahrung der Ohnmacht vor diesem Unrecht. Dazu gehört die Sprachlosigkeit einer Zeit, die «Auferstehung» und «jüngstes Gericht» nicht mehr denken kann.

Rekonstruktion
Habermas verwendet immer wieder den Begriff des «Rekonstruierens», er will wichtige Gehalte der Tradition nicht einfach verabschieden. Er hat Wertschätzung dafür und will es von den neuen Grundlagen einer anderen Zeit mit ihren anderen Denkvoraussetzungen aus rekonstruieren. So spricht er auch von «uneingelösten» Potentialen religiöser Rede, die sogar für den säkularen Staat notwendig seien. Er würdigt den Gedanken der Auferstehung und die Sorge um die toten Opfer, denen hier keine Gerechtigkeit mehr widerfahren kann.

Aber lässt sich das in einer anderen als der religiösen Sprache rekonstruieren?

 «Aufheben» der Religion in Wissen und Praxis
Die Hegel-Generation sprach von «aufheben», sie wollte die dunkeln Ahnungen der Religion in Wissen aufheben, auf eine höhere Ebene heben und damit den Aberglauben aufheben. So hat Hegel die Religion in Philosophie «aufgehoben». Sein Schüler Marx stellte Hegel «vom Kopf auf die Füsse» und hob das falsche Denken in richtige Praxis auf. Die Geschichte hat dieses Denken im Grossen durchexerziert. Und es zeigte sich:

Sobald die symbolischen Begriffe für die absolute Gehalte in der Religion wie Heil, Reich Gottes, letzte Gerechtigkeit in ein empirisches Medium übersetzt werden, wird das Absolute totalitär. Die Unbarmherzigkeit des Totalitären ist die Kehrseite der übergrossen Ideale, die nicht in einem Jenseits versprochen werden, sondern schon in einem Diesseits erlebt werden sollen – wenn nur die richtige Partei gewählt wird, das richtige Volk regiert.

Das Absolute kann nur in symbolischer Form gelebt werden, ohne Unheil anzurichten. Religion ist die einzige Art, auf verträgliche Weise damit umzugehen. Sie lässt sich also nicht aufheben, ohne zentrale Werte des menschlichen Zusammenlebens zu gefährden.

«Rekonstruktion» als säkulare Auferstehung?
Wenn die Voraussetzungen des Auferstehungsglaubens und des Glaubens an ein jüngstes Gericht, das alles Verlorene am Ende der Zeiten wiederbringt, verloren ist, dann lässt sich die versöhnende Kraft dieser Bilder nicht dadurch wieder gewinnen, dass die Aussage über Gott in eine Aussage über den Glauben verwandelt wird. Dann verschwindet das Absolute, das die Geschichte überdauert und sie versöhnen kann. Damit ist der relativierende Schritt erfolgt und der Glaube an eine absolute Wirklichkeit, zu der wir Zugang haben, ist so nicht wieder herzustellen. Alle Geschichte der Welt, aufeinandergehäuft, gibt keinen einzigen Glaubenssatz her, wie ein kleines Kind ihn aussprechen kann in seinem grossen Vertrauen, dass es einen Vater hat und dass es in dieser Welt gehalten ist.

Kontrafaktisch
Der Zugang erfolgt erst aus dem Bruch wieder neu, kontrafaktisch. Wenn die Gerechtigkeit auf dieser Erde mit Füssen getreten wird, wenn es keine Barmherzigkeit mehr gibt, wenn einer den andern verrät und meuchelnde Horden durch die Häuser ziehen, dann ist es wieder deutlich und klar, dass es Gerechtigkeit geben muss, dass es kein Zusammenleben in Frieden gibt, ohne Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.

Das ist eine Quelle der Erkenntnis, die nicht aus dem «Empirischen» geschöpft wird, sondern aus dem «Intelligiblen». Alle «Erfahrung» zeigt die Menschen hier als Feinde. Es ist ein Glaube gegen jede Erfahrung. Aber dieser Glaube hat die Kraft, das Zusammenleben zu verändern. Erst gibt er dem einzelnen Menschen Kraft, damit er sich gegen die auflösenden Tendenzen seiner traumatischen Verletzungen wehren kann. Dann strahlt er aus. Der einzelne kann wieder auf andere zugehen. Es gibt ein Miteinander, in kleinen Inseln, in kleinen Augenblicken, aber so fängt es an.

„Palingenese“
So entsteht eine Kultur, nicht aus den Ruinen der alten, die in Überresten vielleicht doch noch die Kraft hat, weiter zu zeugen, nicht aus Traditionen, die irgendwo doch noch unerkannt weiterlaufen. Sondern aus einer Palingenese, weil sie an diesem Ort neu entsteht. So wie die Evolution die Fähigkeit zu fliegen oder zu schwimmen mehrfach hervorgebracht hat, wenn eine Art in eine entsprechende Umwelt geriet, so können kulturelle Konzepte neu entstehen, es gibt nicht nur den einen Urakt, von dem alles abstammt und abgeleitet wird.

So ist Religion oft beerdigt worden, sie wird aber weiterleben, ob aus den Traditionen, die jetzt bestehen, oder aus neuer Erfahrung, die sich überall ereignen kann. (Trotzdem möchte ich auf das Zeugnis der Bibel nicht verzichten, es sind die Erfahrungen von vielen Generationen. Und diese helfen, dieselben Fehler nicht hundertfach zu wiederholen.)

Vom Nullpunkt aus
Dieser Neuanfang aus dem Nichts, wo das kontrafaktische «Trotzdem» erklingt, das ist die Situation vom Karfreitag. So muss ich keine Angst haben um das Christentum, nur weil die «Säkularisierung» oder die Gedankenlosigkeit der Menschen alles verrotten lassen, was die christliche Kultur über 2000 Jahre ausmachte.

Unter dem Kreuz, wenn Hass und Leidenschaft sich ausgetobt haben, wenn alles schweigt, was der Mensch tun kann, dann wird das andere hörbar. Die Kraft, die Leben schenkt. Und die Gewissheit, dass es Recht und Barmherzigkeit geben muss, gegen alle Erfahrung.

Eine Geometrie der Liebe
So stammen die Erfahrungen von Ostern nicht aus psychologisch zu erklärenden Visions-Berichten. Die Notwendigkeit von Ostern, von Auferstehung und Himmelfahrt, die Notwendigkeit eines neuen Reiches in Frieden – all diese Gestalten des Glaubens, das erfolgt aus der Notwendigkeit, aus derselben Notwendigkeit, die Spinoza und Kant nach einer Metaphysik «de more geometrico» suchen liessen. Es ist denk- und lebensnotwendig für einen Menschen, der dieser Gattung angehört und diesen Bedingungen unterworfen ist wie wir.

 

Abbildung: Whitby Abbey, English Heritage