Das Allgemeine im Glauben

Kultur und Gesellschaft werden heute zunehmend fraktioniert. Die traditionellen Medien, die sich an eine grosse Öffentlichkeit richteten, sind auf dem Rückzug, die sozialen Medien, die an ihre Stelle treten, sind zunehmend personalisiert. Aufgrund der gesammelten Personendaten wird nicht nur die Werbung auf die Kunden massgeschneidert, sondern auch die Information, die Mittel zu Begegnung und Austausch. Internet-Profis sprechen von einem «neuen Internet», das den Bezug zum Allgemeinen verloren habe und sich in immer kleinere Teilöffentlichkeiten zersplittere. Der Zusammenhalt der Gesellschaft selbst werde so in Frage gestellt.

Vor diesem Hintergrund ist es eine Frage, ob es so etwas wie das Allgemeine im Glauben noch gebe: eine Kultur des Glaubens und Feierns, die eine grosse Öffentlichkeit erreicht und ihre Sprache sprechen kann. In den folgenden Texten geht es aber noch um mehr: Sie fragen nicht nur, ob es ein Allgemeines im Glauben noch gebe, sondern etwas Allgemeingültiges. In einer juristischen Analogie gesprochen, wird nicht nur nach Normen mit allgemeiner Geltung gefragt (der Rechtsvortritt im Strassenverkehr ist ein Beispiel), sondern nach Normen mit allgemeiner Gültigkeit, die also tiefe innere Zustimmung erfahren, weil sie als legitim erlebt werden. Sie müssen nicht äusserlich erzwungen werden wie Rechtsvorschriften mit einer Sanktionsdrohung, sondern leben aus der innersten Überzeugung von ihrer Richtigkeit. Können Glaubensinhalte in diesem Sinn allgemeingültig sein?

Diese Frage beschäftigte mich im Theologiestudium, ich war ausgebildeter Historiker, Journalist und Parlaments-Berichterstatter. Ich habe die Frage auch den Dozenten an der Hochschule gestellt. Die Berichte wurden 1991 im «Theodoranten», im Fachorgan der Theologiestudierenden in Zürich veröffentlicht.

Privatsache Religion
Religion wird heute als Privatsache behandelt, die jeder / jede mit sich allein auszumachen habe. Wenn sie doch öffentlich zum Thema wird, stehen die verschiedensten Meinungen und Richtungen gegeneinander. Wie kann in dieser Situation das „Allgemeinverbindliche“ des Glaubens wieder zur Sprache gebracht werden? Das ist die erste Frage.

Da wir in der Geschichte aber schlechte Erfahrungen mit solchen „Allgemein-Verbindlichkeiten“ gemacht haben, entsteht sofort eine zweite Frage: wie lässt sich ein Missbrauch solcher Allgemein-Verbindlichkeiten durch politische oder gesellschaftliche Interessen verhindern? Wie lässt sich die Geltung der Glaubenstradition herausstellen ohne Rückfall in Amtskirchentum oder Dogmatismus?

Politische Religion
Die erste offizielle Reaktion, die von Saddam Hussein nach Beginn der Luftangriffe am Golf berichtet wurde, war eine Bestätigung, dass feindliche Flugzeuge „jene Ziele treffen konnten, die von Gott gewollt waren“. Es ist klar, dass die religiöse Aussage hier im Dienst politisch-militärischer Interessen steht. Die Aussage zeigt sich aber durchaus widerborstig: zwar wird hervorgehoben, dass der Gott der eigenen Kriegspartei auch Herr über die Feinde ist; aber wenn er feindliche Treffer zulässt, dann heisst das, dass er sich auch gegen die eigene Partei richten kann. Dann kann Gott auch ihr zum Feinde werden. Die Fronten werden aufgesplittet, sie gehen nicht einfach durch die erklärten Kriegsparteien, sondern durch uns alle hindurch. Sie trennen Recht und Unrecht, wo immer es sich findet.

Das Beispiel zeigt, dass bestimmte Aussageformen des Glaubens durchaus ein bestimmtes Eigengewicht besitzen, das sich einer manipulativen Aneignung ihres Inhalts entzieht. Vor allem Symbole haben diese Kraft, Tradition zu vermitteln und doch einen kritischen „Eigensinn“ zu behalten, der sie vor manipulativem Zugriff schützt. Wenn wir also eine Methode suchen, mit der wir Traditionsansprüchen in der Kirche kritisch begegnen können, ohne dadurch den bleibenden Sinn wahrer Tradition zu verdunkeln, liegt es nahe, dazu beim Symbol anzusetzen.

Kritik und Begründung
Der inzwischen ausgebrochene Golfkrieg wirft auch auf diese Fragen ein grelles Licht. Die Suche nach einer gemeinsamen religiösen Sprache betrifft ja nicht nur den innerchristlichen, sondern auch den interreligiösen Dialog. Wie lässt sich angesichts einer Vielzahl von Religionen das „Allgemeingültige“ herausstellen, ohne es in verletzende und manipulative Formen zu giessen? Wie lassen sich übersteigerte, religiös legitimierte Forderungen kritisch zurückweisen, ohne ihr Wahrheitsmoment relativistisch zu nivellieren?

Die Frage ist nicht mehr länger akademisch, denn als Schweizerlnnen sind wir nicht nur Teil einer multireligiösen Völkerwelt; mit rund 100.000 Muslimen in der Schweiz leben wir auch in einer multikulturellen Gesellschaft, die durch den Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen muslimischen Völkern und dem „Westen“ vor eine Bewährungsprobe gestellt ist.

 

Foto von Asad Photo Maldives

Aus Notizen 1991

Lesen Sie dazu das Streiflicht Das Allgemeingültige im Glauben. Es versammelt mehrere Beiträge zu diesem Thema. Darunter ein Interview mit einem Dogmatiker an der Universität Zürich.