Das Allgemeingültige im Glauben

Wie lässt sich angesichts der Privatisierung der Religion und des Pluralismus von Entwürfen das «Allgemeinverbindliche“ des Glaubens heute zur Geltung bringen, ohne dadurch wieder in alte Zwangsformen von Amtskirche, Dogmatismus oder Moralismus zurückzufallen?

Inhaltsverzeichnis

Vereinzelung und Verallgemeinerung im Glauben. 1

Babylonischer Turmbau oder kurze Beschreibung des Problems. 7

„Wir müssen die Glaubenssprache wie eine tote Sprache wieder lernen“ Gespräch mit Professor Geisser 12

Das Symbol – der sanftere Weg. 21

Vereinzelung und Verallgemeinerung im Glauben

Dass Glaube eine „persönliche Glaubensantwort“ verlange, eine „Entscheidung“, dass der Mensch allererst im Gegenüber Gottes „Subjekt“ werde, „einzelner“, dass er erst so zu personaler Freiheit finde: diese Einsicht wird heute nicht bestritten. Um das auszudrücken haben viele Traditionen in Frömmigkeit und Theologie eine Sprache gefunden, wie die Beispiele zeigen.

 

Eine eigentliche Sprachlosigkeit begegnet aber dort, wo es darum geht, jene Momente des Glaubens zu benennen, die den einzelnen übersteigen. Wie ist die Verbindlichkeit“ des Glaubens auszusagen? Was ist seine mögliche „Allgemeinheit“? Zeigt sie sich in dogmatischer „Wahrheit“, in ethischer „Richtigkeit“, in symbolisch-gottesdienstlicher Gemeinschaft? Oder gar im Konsens der akademisch-theologischen „Gelehrten-Republik“?

 

Wenn der Glaube den einzelnen „konstituiert“, kann er ihn auch wieder bedingen, in Anspruch nehmen? Ist die Einheit dogmatisch herzustellen – über ein institutionelles Lehramt und die Einschärfung des Glaubensgehorsams? Oder führt individuelle Wahrhaftigkeit wie von selbst auch zu mehr kollektiver Glaubwürdigkeit? Muss die Volkskirche im Übergang zur Bekenntniskirche nur den Mut aufbringen, sich von den „lauen Elementen“ zu scheiden? Oder liegt die letzte Rückzugsposition traditioneller christlicher Geltungsansprüche in der Moral? Lebt Kirche als Kollektiv nur in den Appellen, die sie von den Kanzeln an den einzelnen richtet? Oder wird ihre „Ganzheit“ in der liturgischen Feier sichtbar? Verfügt sie also gar nicht über ein normatives Kriterium, um zu scheiden, was christlich und was nicht-christlich, was kirchlich und was nicht-kirchlich ist?

 

Es geht um Vereinzelung und Verallgemeinerung im Glauben. Dass die beiden Fragestellungen in der heutigen Diskussion so ungleichgewichtig vertreten sind, ist nicht zufällig. Die Verallgemeinerung hat in der Geschichte immer mehr Aufmerksamkeit gefunden. Die Kirche ist schon durch ihren Verkündigungs-Auftrag und ihre Heilsaussagen auf sie hingewiesen. Daneben ist das Verfügen über Aussagen mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit eine Form von Machtausübung, was die Kirche zwangsläufig in Auseinandersetzung mit Institutionen in Wirtschaft, Gesellschaft, Recht und Staat bringt.

 

Protest

Es ist der Protest gegen „falsche Verallgemeinerungen“, der heute geschichts- wirksam die Diskussion beherrscht. Der christlich verbrämte Allgemeinheits- Anspruch ist durch Absolutismus, Fanatismus und Konfessions-Kriege übersteigert und ad absurdum geführt worden. Die Wahrheitsfrage suchte sich andere Quellen der Vergewisserung. Der christlichen Wahrheitsbehauptung wurde ein systematischer Skeptizismus entgegengehalten. Die auf dem Wahrheitsanspruch der christlichen Tradition errichteten Zwänge im gesellschaftlich-politischen Bereich weckten als Reaktion auf ihre Übersteigerung die Begründungs- und Legitimations-Forderung.

 

Diese Abwehr falscher Verallgemeinerungen ist heute in gerichtlich geschützten Menschenrechts-Katalogen, in Gewaltenteilung, im Konzept einer „Offenen Gesellschaft“ und einem weltanschaulichen Pluralismus zu einer Grundmaxime gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und staatlicher Ordnung geworden.

Im Gegenwind

Wer immer die für den Glauben unverzichtbare Verallgemeinerung zu rekonstruieren versucht, operiert im Gegenwind der geschichtswirksamen Tendenzen unserer Zeit. Das heisst, dass eine solche Rekonstruktion nur Erfolg verspricht, wenn sie diese berechtigten Interessen aufnimmt, wenn sie ihre eigene Wirkungsgeschichte aufarbeitet – und das heisst wohl auch, wenn die Sachwalter dieser Tradition zu einer Schuldeinsicht gelangen. Im Gefolge einer Restauration „liberaler“ und konservativer Tendenzen in Theologie und Kirche kann man wieder vermehrt lesen, dass die christliche Kultur als Mutter des Abendlandes unsere Welt geprägt habe. Rechtsstaat und Menschenrechte, Volksbildung und Wirtschaftsgesinnung – alles wird als Errungenschaften dieser Tradition beansprucht. Als ob viele solcher Errungenschaften den Traditionsmächten nicht hätten abgerungen werden müssen – in Opposition zu einer Theologie, welche ihre Verfügung über Aussagen mit einem absoluten Geltungsanspruch allzu willfährig diesen Mächten zur Verfügung gehalten hatte.

 

«Richtige» Verallgemeinerung

Es stellt sich also die Frage, wie Glaubensgehalte „richtig“ verallgemeinert werden können – vor dem Richtstuhl der durch die Geschichte aufgebrachten Begründungs- und Legitimationsforderung. Diese Frage lenkt aber auch wieder zurück zum Problem der Vereinzelung. Wenn dieses heute nicht diskutiert wird, so heisst das noch nicht, dass die Frage schon „richtig“ beantwortet ist. Einmal sind es Interessen, die das religiöse Fragen mit Absicht im Gefängnis der Vereinzelung gebändigt halten; ausserdem führt jede „falsche“ Verallgemeinerung auch zu einer „falschen“ Vereinzelung, weil beide Fragen sich entsprechen.

Gibt es also eine „richtige“ Verallgemeinerung und Vereinzelung im Glauben?

Zur Einstimmung

kann sich wohl jeder/jede selbst an Erlebnisse erinnern, wo Glauben nach gemeinsamem Handeln, gemeinsamem Leben, gemeinsamem Feiern verlangte und die Brücke nicht schlagen konnte oder wo wir selbst eine Forderung zurückwiesen, die im Namen des Glaubens an uns erging.

Ich erinnere mich

– an die Sprachlosigkeit auf dem Friedhof. Die ehemaligen Berufskollegen, die ich beim Begräbnis treffe, haben mit Glauben „wenig am Hut“. Ich selber bin fern davon, mir die vielen Aussagen, die die Glaubenstradition in dieser Situation zu sagen weiss, wirklich schon angeeignet zu haben. Ein Glaube als Suchprozess kann nicht als Trostwort zugesprochen werden, ganz abgesehen davon, dass die Kollegen und Leidtragenden einen Glaubenszuspruch eher befürchten als erwarten. So stammle ich schliesslich „herzliches Beileid“, als die Reihe zu reden an mich kommt.

 

– an die vielen Predigt-Gottesdienste, die mich schon mit ihren Eröffnungsworten „elektrisierten“ und mitrissen; aber es gab ebenso viele, die mich nicht erreichten, in denen Einstimmung nicht gelingen wollte.

 

– an die Entdeckung, dass es innerkirchliche Debatten um „richtiges“ Handeln, „Nachfolgen“, Glauben durchaus gibt – aber nur innerhalb bestimmter Positionen und Richtungen, die sich in einem bestimmten Grundansatz schon einig fühlen; dass es aber so gut wie unmöglich ist, zwischen diesen „Sektoren-Kirchen“ einen Austausch, ein sinnvolles Streiten herbeizuführen.

 

– an zahllose Missionierungsversuche, sei es in Broschüren, die mir in die Hand gedrückt wurden, sei es in persönlicher Ansprache an der Wohnungstür oder in der Einkaufsmeile, denen ich mich verweigerte. Dazu gehören auch ethisch-politische Appelle, die im Namen des Glaubens an mich gerichtet wurden.

 

– an die Sprachlosigkeit des Glaubens in der heutigen öffentlich-politischen Debatte. Es gibt die „Makro-Ebene“ der Rede vom Reich Gottes und die „Mikro-Ebene“ der individual-ethischen Verantwortung, aber die mittlere Ebene einer strukturellen Analyse von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen fehlt.

 

Verständigung

Es fehlen die mittelfristigen Perspektiven, die es uns erlauben, uns mit unseren Verantwortungs-Möglichkeiten und unserem individuellen Handeln in einen grösseren Zusammenhang einzuordnen, so dass wir unser Handeln als sinnvollen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen auf dieser Welt erfahren können. Letztmals hat der Neo-Marxismus in den 60er Jahren Wirtschafts- und Gesellschafts-Analyse in diesem Sinn betrieben, der Neo-Liberalismus ist ihm gefolgt. Inzwischen vermögen beide Modelle nicht mehr, breite Zustimmung zu wecken.

 

In der Zwischenzeit hat ein „apokalyptisches“ Lebensgefühl der biblischen Kategorie der „Metanoia“ als Ruf nach „Umdenken“ vorübergehend zu einer Karriere als Leitbegriff der politischen Debatte verholfen. Die Umwelt-Debatte hat aber gezeigt, dass der ständige Appell an individuelles Umdenken nichts bewirkt ausser einer Aufladung der politischen Auseinandersetzung mit religiös-ethischen Gefühlen: die Untätigkeit wird als schuldhafte Lähmung und „Verhärtung“ wahrgenommen; statt den Weg zur Suche nach Alternativen freizugeben wird der Zustand durch Schuldgefühle und Bestrafungsängste noch verfestigt (was wiederum den apokalyptischen Untergangsängsten zugutekommt).

 

Das Problem

Die beiden Fragen nach Verallgemeinerung und Vereinzelung im Glauben sind heute nicht gleichermassen präsent.

  • Im allgemeinen Bewusstsein wie in der akademischen Debatte ist nicht

bestritten, dass der Glaube persönlich werden müsse. In „frommen“ Kreisen mögen hier Impulse des Pietismus und der Erweckungsbewegung weiterwirken, die in Abwehr eines „leeren Objektivismus“ von Amt und Dogma die persönliche Glaubensantwort betonten.

Amt und Dogma als „objektive“ Verkörperungen christlicher Tradition sind vom Frühkatholizismus im Kampf gegen „subjektivistische“ Strömungen entwickelt worden. So postulierte Irenäus im Kampf gegen den weltanschaulichen Wildwuchs der Gnosis das Römische Lehramt als objektive Institution formeller Letzt-Begründung in Glaubensfragen. Doch nicht nur das „charisma veritatis“ wurde an das durch Weihe und Geist-Sukzession konstituierte Amt gebunden, auch die Heilsmitteilung wurde in die Vollmacht des Amtes gelegt, im Gegenzug zu donatistischen Strömungen, wonach der Priester die Heiligkeit seiner Lebensführung sichtbar auszuweisen hatte, weil der Gläubige nur so der Gültigkeit der von ihm vermittelten Gnadengaben gewiss sein konnte.

In der Reformation befreiten die „Schwärmer“ den „Geist“ und seine charismatischen Gaben aus dieser „Monopolisierung“ im Amt. Jeder Christ sollte unmittelbar daran teilhaben können. Luther ging zwischen „katholischem Objektivismus“ und „schwärmerischem Subjektivismus“ einen Mittelweg, indem er die Vermittlung über das Amt wie die spiritualistische Unmittelbarkeit ablehnte und im Evangelium den Ort erkannte, in dem das “Testament Christi“ in Wort und Sakrament weiterwirkt.

Die Wirkungsgeschichte des neuen, reformierten Predigt-Gottesdienstes hat aber dazu geführt, dass auch diese sehr gemässigte Form von Verallgemeinerung heute nicht mehr mitgetragen wird. Gegenüber der „einseitigen Wort- und Kopflastigkeit des Gottesdienstes wird allenthalben nach „religiöser Erfahrung“, nach authentischen persönlichen Erlebnissen gerufen.

Spricht heute jemand in einer weiteren Öffentlichkeit von religiösen Dingen, so wird er von Gesprächspartnern, die selber mit solchen Fragen „nichts am Hut haben“, schon gar nicht nach kirchlicher Autorität oder dogmatischer Orthodoxie gefragt, sondern danach, ob er seine verbal deklarierte Anschauung mit seinem Leben auch tatsächlich einlöse. Subjektive Wahrhaftigkeit ist hier das Stichwort.

 

Diese Rücknahme traditioneller Geltungsansprüche auf das Modell der subjektiven Wahrhaftigkeit lässt sich selbst beim katholischen Amtsbegriff beobachten. Unter den Bedingungen des „nach-metaphysischen Denkens“ lässt sich heute nicht mehr so leicht einsichtig machen, inwiefern der Amtsträger durch seine Weihe einen besonderen Charakter erhält, aus dessen Vollmacht er ganz unbeschadet seines „natürlichen“ Charakters und seiner persönlichen Lebensführung dem Gläubigen Heilsgaben mit-teilen kann. Diese zuerst im Kampf gegen den Donatismus erfolgte Objektivierung kirchlicher Vollmacht wird zunehmend weniger verstanden. Das erklärt die „therapeutischen“ Versuche Drewermanns, der dem Klerus mit psychologischen Mitteln dazu verhelfen will, den Anspruch ihres Amtes mit mehr „Glaubwürdigkeit“ auszufüllen. Drewermann antwortet damit auf eine allgemeine Stimmung, die heute auch vom katholischen Priester ein vermehrtes Lebens-Zeugnis verlangt.

 

Dass Glaube „subjektiv“ angeeignet werden müsse, ist heute nicht nur für die Frömmigkeit selbstverständlich, das wird auch in der akademischen Theologie vorausgesetzt. Hier wirkt sich der späte Einfluss Kierkegaards aus. Dieser hatte die Forderung, „einzelner“ vor Gott zu werden, auf die Spitze getrieben, als er Abraham nicht als „ethischen Helden“, sondern als „Glaubens-Helden“ beschrieb. Abraham bestätigte also nicht die allgemeine Norm, als er seinen Sohn opfern wollte und seine Interessen zurückstellte, er hob die allgemeine Norm auf – doch nicht wie ein „Verbrecher“, der die Norm aus Eigennutz bricht, sondern wie ein „Glaubender“, der gegen alle göttliche Norm auf Gott vertraut. So konstituiert sich der „einzelne“ vor Gott gerade nicht über die Vermittlung allgemeiner Kategorien.

Solche Traditionen wirken auch in der heutigen akademischen Theologie fort über die Vermittlung der „Dialektischen Theologie“ und – dauerhafter – über Heidegger-Bultmann und die Debatte in der Hermeneutik.

  • Obwohl die Fragen nach Vereinzelung und Verallgemeinerung nur in Beziehung

aufeinander beantwortet werden können, wird das Problembewusstsein heute in Frömmigkeit und Theologie asymmetrisch mit dem zweiten Aspekt verbunden. Die tägliche Begegnung mit anderen Religionen, sei es in den Medien, sei es im Alltag, lässt die Wahrheitsfrage der angeblichen Privatsache Religion wieder lebendig werden. Wie verträgt sich der universelle Geltungsanspruch der Religionen mit ihrer faktischen Vielzahl und gegenseitigen Ausschliesslichkeit? Die institutionelle Kirche steht darüber hinaus vor der Aufgabe, den Glauben in Katechese und Tradition weiterzugeben, ihn apologetisch vor dem Wahrheitsbewusstsein der Zeit auszuweisen und eine polemische Norm für Einheit und Abweichung zu finden.

Die akademische Theologie teilt diese Aufgaben; nach ihrer Tradition und ihrem institutionellen Ort versucht sie aber, sich als Philosophie bzw. als Wissenschaft zu konstituieren. Verallgemeinerung erfolgt hier in Form der traditionellen philosophischen bzw. wissenschaftstheoretischen Geltungsansprüche. Wie sehr sich die Theologie hier in die Enge getrieben fühlt, zeigt sich etwa in der Bereitschaft, bisher für unverzichtbar Gehaltenes als „Ballast“ über Bord zu werfen – so in einigen „nicht-kognitiven“ Rekonstruktionsversuchen christlicher Theologie im Rahmen der „Analytischen Theologie“. Glauben wird hier zu einem Sprachspiel, das „Vertrauen“ ausdrücken soll oder eine bestimmte „Lebenspraxis“, ohne dass damit aber Behauptungen über Sachverhalte oder Verhaltens-Normen verbunden wären. So vertrauen sie denn in einen Gott, dessen Existenz sie mit ihrem Vertrauen nicht behaupten wollen. Oder sie halten sich bei all ihrem Tun und Erleben, das „Bild des Jüngsten Gerichts“ vor Augen, ohne damit aber bestimmte Verhaltensnormen vor andern auszeichnen zu wollen!

 

Standort der Debatte

Diese Asymmetrie des Problembewusstseins, das mit den Fragen nach Vereinzelung und Verallgemeinerung im Glauben verbunden ist, lässt sich wohl geschichtlich erklären. Offenbar stehen die heute geschichtswirksamen Kräfte noch immer im Protest gegen überzogene Verallgemeinerungen, die in vorangehenden Epochen unter Missbrauch theologischer Ansagen vorgenommen wurden. Der neuzeitliche Ausbau der Landeshoheit, der in Reformation und Gegenreformation auch das „ewige Seelenheil“ der Untertanen in obrigkeitliche Verwaltung nahm; der absolutistische „Policey-Staat“, der über Sittenmandate die „Sittlichkeit“ seiner Untertanen bis ins Fühlen und Denken hinein regelte; Intoleranz, konfessioneller Hass und Dogmatismus bilden den Hintergrund für den Aufbruch der Moderne. Diese hält dem Anspruch der Traditionsmächte Vernunft und Erfahrung als Begründungs- Instanzen entgegen.

 

Während die Theologie dem Anspruch der Vernunft durch das Vorlegen spekulativer Entwürfe noch einigermassen apologetisch zu begegnen wusste, entstand aus der Forderung nach Erfahrungs-Begründung in mehreren Wellen eine Metaphysik-Kritik, die auch die Theologie als Wissenschaft verabschieden wollte. Wenn die Fach-Theologie heute versucht, die „pragmatische Wende“ in der Philosophie nachzuvollziehen und sich auf sprachphilosophischer und handlungstheoretischer Grundlage neu zu formieren, so zeigt sie damit die apologetische Defensive, in der sie noch immer steht.

 

Diese Epochensituation, die noch immer im Zeichen einer historischen Antithese gegen eine Religion mit öffentlicher Bedeutung steht, zeigt sich aber nicht nur in der Fachtheologie, sondern auch im öffentlichen Bewusstsein. Wo überhaupt noch nach Religion gefragt wird, stehen Traditionen persönlicher Frömmigkeit im Vordergrund. Jeder darüber hinaus gehende Anspruch ist je nach der Dimension, in der er sich zeigt, als „sektiererischer Dogmatismus“, als „zwanghafter Moralismus“ oder als „totalitärer Fundamentalismus“ verpönt.

Viele Menschen wehren sich gegen Übergriffe, die sie historisch oder biographisch erfahren haben, indem sie Religion überhaupt von sich wegschieben. Und sofern sich Religion bei andern in der Öffentlichkeit zeigt, soll sie in Reservate verbannt werden, damit die wesentlichen Gestaltungsfragen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik von ihrem Einfluss frei gehalten werden.

Durch die Totalitarismus-Erfahrung des 20. JHs sind Einsichten der Kirchengeschichte weiter eingeschärft worden. Stellte die Aufklärung die Bedeutung von Gewaltenteilung und Menschenrechten heraus, so erscheint uns heute auch der „weltanschauliche Pluralismus“ von Staat und Gesellschaft, also die Nicht-Eindeutigkeit und Konkurrenz der Weltdeutungen und Lebensentwürfe, als eine wesentliche Stütze von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Die absoluten Wahrheitsansprüche der Religion sind – auch wenn das in der heutigen Verunsicherung kaum mehr einsehbar erscheint – von derartiger Sprengkraft, dass ihnen nur durch einen „normativen Pluralismus“ beizukommen ist – das ist die Normlosigkeit als Norm, die Gewaltenteilung im Denken, der Skeptizismus als Staats-Maxime.

 

Die Fragen

Diese wenigen Hinweise – so begrenzt sie sind – lassen es doch als vielversprechend erscheinen, über die Frage nach Vereinzelung und Verallgemeinerung im Glauben zusammenhängend nachzudenken. Wenn heute die Sprachlosigkeit des Glaubens beklagt wird, wenn gesagt wird, dass sich die Kirche erstmals in der Geschichte nicht mehr zutraue, den Glauben an die nächste Generation weitergeben zu können, dann stehen vor allem Fragen der Verallgemeinerung im Vordergrund.

 

Die Grenzen, auf die man bei der Suche nach einer möglichen Allgemeinheit des Glaubens heute stösst, lenken den Blick aber zurück auf die Frage nach der Vereinzelung. Wenn sie uns als unproblematisch erscheint, heisst das, dass sie in unseren Entwürfen auch „richtig“ erfolgt? Offenbar sind die Operationen der „subjektiven Aneignung“ und der Beanspruchung „intersubjektiver Gültigkeit“ wechselseitig voneinander abhängig.

 

 

 

Babylonischer Turmbau oder kurze Beschreibung des Problems

Die Babylonische Sprachverwirrung hat uns auch das Problem religiöser Verständigung eingebrockt. Kann der Mensch zusammenfügen, was Gott absichtsvoll verwirrte? Die Sprachphilosophie hat sich der Probleme der religiösen Sprache angenommen. Wenn von ihr auch kaum das Pfingstwunder allseitiger religiöser Verständigung zu erwarten ist, so hilft sie doch, das Desaster nüchtern zu betrachten. Wie David Krieger, Dozent an der Evangelischen Studiengemeinschaft Zürich, zeigt: greifen die meisten Problemanalysen heute zu kurz.

(David Krieger: Bekehrung und Dialog. Zur Sprachpragmatik interreligiöser Begegnungen. Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 46, 1990, Nr.4)

 

Wie lässt sich heute verbindlich vom Glauben reden? Traditionellerweise hat die Dogmatik versucht, die Wahrheit des Glaubens nach dem Modell der philosophischen Wahrheitsdebatte auszuweisen. Dieser Versuch gilt als gescheitert. Das „Volk“ assoziiert auf Dogmatik aufgrund dieser Wirkungsgeschichte schnell Dogmatismus und die theologische Disziplin hat ihre systematische Methodik gegen historisches Beschreiben und Verstehen eingetauscht.

Einfacher scheint Verständigung heute auf dem Feld der Ethik zu erzielen. Auch die Ökumene findet fast nur im Bereich der Diakonie zu einem problemfreien Zusammenarbeiten. Aber damit wird das Problem nur verschoben, und die Reduktion der Predigt auf Moral schlägt in Moralismus um, ein dauerndes Appellieren, das gerade wegen seines uneingestandenen Wissens um seine Unerfüllbarkeit einen gequälten Unterton erhält.

Wenn aber die theoretischen und praktischen Säulen bisheriger Glaubens-Versicherung wanken, liegt die Lösung vielleicht im Gottesdienst? Aber die in der Feier erlebte „communio“ setzt den Eintritt in die feiernde Gemeinde schon voraus. Der „babylonische Tatbestand“ einer Vielzahl von Bekenntnissen, Religionen und Richtungen setzt auch diesem Versuch eine Grenze. Die Sprachphilosophie hilft verstehen, warum diese traditionellen Versuche heute nicht mehr greifen; flapsig ausgedrückt: bei der Babylonischen Sprachverwirrung handelt es sich um ein Verstehens-Problem der „dritten Art“.

David Krieger hat die Ergebnisse der sprachphilosophischen Diskussion für die Probleme der religiösen Sprache in einem Drei-Ebenen-Modell zusammengefasst.

Ich versuche im Folgenden, dieses Modell für die Fragestellung des „Theodoranten“ fruchtbar zu machen.

 

Gibt es „Wahrheit“ ohne „Erkenntnis“?

Wie lässt sich die Allgemeingültigkeit religiöser Inhalte aussagen, ohne den einzelnen durch Dogmatismus oder Moralismus zu „vergewaltigen“? Wie lässt sich die Würde des einzelnen gegenüber der Macht der Tradition wahren, ohne diese in endloser Kritik aufzulösen und subjektiver Beliebigkeit auszusetzen? – Durch die Wahrheit! Das ist wohl der erste Einfall, der sich hier meldet. Sie bringt das Allgemeine dem einzelnen zur Evidenz, sie gibt uns Argumente zur Hand. Wir können Gründe angeben, weshalb etwas gelten soll. Der einzelne tritt durch ein „Aha-Erlebnis“ zwanglos in eine Erkenntnisgemeinschaft ein. Wo es Argumente gibt, werden „Wahrheits-Anspruch“ und „Für-Wahr-Halten“ zwanglos miteinander versöhnt. Und wenn Ethik wahrheitsfähig ist, lassen sich Wollen und Sollen ohne Zwangsgewalt aufeinander abstimmen. Visionen eines zwangsfreien Zusammenlebens werden sichtbar. Ein Reich der Gerechtigkeit bricht an…

Das Pathos der Aufklärung, demgegenüber wir heute skeptisch geworden sind. Dieses Modell der Versöhnung von allgemeinem und einzelnem, von Objekt und Subjekt durch die Erkenntnis, taucht in der Theologiegeschichte mehrfach auf. Immer aber, so zeigt sich, setzt es eine dogmatische Position voraus, die „Natur“ und „Gnade“ in ein harmonisches Verhältnis setzt. Die „Wahrheit“ ist dem einzelnen zugänglich, sie leitet seine Einsicht und sein Tun bis ans Ziel.

Demgegenüber behauptet sich immer wieder die Leiderfahrung dieser Welt, die sich solch sanfter Versöhnung nicht zu fügen scheint. So erweist sich der einzelne als ein höchst stachliges Gebilde, das sich weder durch „Bildung“ noch durch „Therapie“ so richtig einpassen lässt in die Rollen, die ihm die Allgemeinheit zur Verfügung stellt.

 

Also liegt die Allgemeinheit falsch! Aber sie ist nicht weniger widerspenstig, widersetzt sich jeder „Aufklärung“, lässt sich nicht zu einer Form revolutionieren, in der der einzelne sich zu seinem Glück entfalten könnte. In solchen Epochen des Rückschlags, der Resignation, tauchen dann die konfliktiven dogmatischen Positionen auf. Der unüberbrückbare Bruch zwischen Gott und Welt wird erkannt – unüberbrückbar, wenn nicht Gott selbst ihn heilt. (Aber dann ist Geschichte aufgehoben, die Schöpfung kehrt ins Paradies zurück. Wie ist die Aufhebung der Geschichte in der Geschichte zu denken und zu leben?)

 

Auch die Zeit der Aufklärung war nicht einseitig „optimistisch“ gestimmt. Den „Neologen“ standen die „Supranaturalisten“ gegenüber, die am Konflikt festhielten, wenn sie ihn auch nicht mehr philosophisch zu vermitteln wussten. Die religiöse Tradition geriet in eine Sprachkrise, das Reden vom Glauben verwickelte sich in Widersprüche. Je tiefer die Notwendigkeit der Rede von „Offenbarung“ und „Wunder“ empfunden wurde, desto weniger konnte diese Rede ausgerichtet werden. Wer so sprach, erschien den Aufgeklärten als „Ewiggestriger“.

 

Umgekehrt erfuhr auch die „Moderne“ ihr Menetekel in Gestalt des Erdbebens von Lissabon und der Entartung der Französischen Revolution zur Schreckensherrschaft. Danach konnte nicht mehr ungebrochen an den „Gang der Vernunft“ durch Natur und Geschichte geglaubt werden. Das gilt umso mehr für „Auschwitz“ und „Tschernobyl“, weshalb heute die Aufklärung selbst beschuldigt wird, die Übel hervorgebracht zu haben, gegen die sie sich wendet.

 

Ausweg auf der zweiten Ebene

Im 18. Jahrhundert versuchte Kant einen Ausweg, indem er die Ebene der Diskussion um theoretische Wahrheit und ethische „Richtigkeit“ verliess und die Verständigung auf einer zweiten Ebene suchte. Bevor die theoretischen und ethischen Geltungsfragen entschieden werden konnten, musste erst mal untersucht werden, unter welchen Bedingungen Aussagen als theoretisch „wahr“, ethisch „richtig“ und ästhetisch „schön“ gelten können. Wenn im Streit um religiöse Wahrheit Behauptungen sich widerstreiten, ohne dass sie entschieden werden können, dann liegt es nah, erst mal zu untersuchen, wie solche Fragen überhaupt entschieden werden können. Kant fand die Lösung in einer Rückbesinnung auf die Strukturen des Bewusstseins, durch die alle Erkenntnisse vermittelt sind. Bewusstseins-Inhalte mögen umstritten sein, die formalen Strukturen sind universell. Sie hängen nicht an einzelnen Kulturen, sondern sind ein menschheitliches Erbe, ja, gehen über die Menschheit hinaus.

Kants Vertrauen auf die universelle Vernunft, die aller Erkenntnis zugrunde liegt und sie ermöglicht, ging in der Folgezeit allerdings verloren. Hinter seiner universellen Vernunft ist ja unschwer der dogmatische locus der „Vorsehung“, das Erbe der Logos-Christologie, ja der altorientalischen Weisheit zu erkennen.

 

Als die Philosophie daran ging, sich von diesen „idealistischen“ Voraussetzungen zu befreien, als sie als „Oben-ohne-Philosophie“ ohne (versteckten) Gottesbegriff auskommen wollte, wurden die angeblich überhistorischen Strukturen Kants zunehmend historisiert. Die „apriorischen“ Voraussetzungen wurden vom „aposteriori“ eingeholt; was ein festes Fundament schien, wurde verflüssigt. Die Philosophie des universellen Bewusstseins wurde zur Philosophie bloss-menschlicher Sprache. Die Wende zum Erkenntnis-Subjekt entpuppte sich als „Pragmatische Wende„: nicht die formalen Strukturen eines angeblich universellen Bewusstseins liegen dem Erkennen voraus, sondern die Gelingens-Voraussetzungen menschlicher Kommunikation.

Von dieser zweiten Ebene her lassen sich nun die Bedingungen angeben, unter denen auf einer ersten Ebene sinnvoll über Wahrheit gestritten werden kann.

Dass man sich in „kommunikativem Handeln“ verständigen kann, setzt nach Jürgen Habermas erstens voraus, dass Geltungsansprüche erhoben werden. Habermas rekonstruiert die drei traditionellen Geltungsansprüche der Philosophie als Anspruch auf Wahrheit von dem, was gesagt wird; als Anspruch auf „Richtigkeit“ der Art und Weise, wie es gesagt wird und als Anspruch auf die Wahrhaftigkeit der Absicht des Sprechers, genau dies zu sagen.

Zweitens wird für eine gelingende Verständigung vorausgesetzt, dass gemeinsame Kriterien gegeben und anerkannt sind, auf die hin Ansprüche erhoben werden können. Erst dann lassen sich die Ansprüche einlösen, d.h. begründen. Es müssen also drittens Begründungsverfahren (Verifikationsprozeduren) bekannt sein, mit deren Hilfe geprüft werden kann, ob die Ansprüche den Kriterien entsprechen.

 

Als Kriterien dienen gemeinsame Überzeugungen davon, was zur „objektiven Welt“ der Tatsachen, zur „sozialen Welt“ von Handlungsmustern und zur „subjektiven Welt“ psychischer Innerlichkeit gehört. Diese Kriterien können selber nicht wieder in einem Wahrheits-Diskurs bestritten oder begründet werden, sie sind immer schon vorausgesetzte Bedingungen gelingender Verständigung.

 

Und bei Streit auf der zweiten Ebene?

Werden diese Grundüberzeugungen, die als Kriterien dienen, erschüttert, löst das eine „Sinnkrise“ aus, die durch traditionelle Mittel der Wahrheitsfindung in Theorie und Praxis nicht mehr behoben werden kann. Die Sinnhorizonte, die jene Kriterien festlegen, werden nicht durch Einsicht erworben, sondern durch kulturelle Tradition weitergegeben und durch Sozialisation in der Kindheit übernommen. Die Vermittlung geschieht nicht durch Argumentation, sondern durch Verkündigung und Mission. Der Anklang an die religiöse Sprache ist nicht zufällig, weil die Religionen jene Sinnüberzeugungen einer Kulturgemeinschaft letztlich umschreiben.

Sie konstituieren in ihren Symbolen, Erzählungen und Mythen jene „objektive Welt“ der Tatsachen, die „soziale Welt“ möglicher und gebotener Handlungsmuster und die „subjektive Welt“ seelischen Erlebens. Vor dem Hintergrund dieser Welten können Tatsachen-Behauptungen erhoben und bestritten werden, und die Kultur-Genossen teilen ein Verständnis darüber, wie eine solche Überprüfung vorgenommen werden kann. Desgleichen kann sinnvoll über gebotene und verbotene Handlungen gestritten werden, und auch für die Frage subjektiver Wahrhaftigkeit gibt es Massstäbe und Orientierungen. Der einzelne findet zu einer Identität, die er nach innen stabilisieren und nach aussen darstellen kann.

 

Nach einer Sinnkrise, in der überlieferte Orientierungen verloren gehen, so dass nicht mehr fruchtbar über die Beschreibung der Welt oder die gesellschaftliche Praxis gestritten werden kann, wo alte Identitäten ihre Leitbilder verlieren, wird der Erwerb einer neuen Symbolwelt daher als tiefschürfendes Erlebnis erfahren. Es wird ein neuer Lebenssinn gesetzt und in entsprechenden Initiations-Riten auch häufig als Tod und Wiedergeburt dargestellt. Taufe, Verkündigung und Mission lösen so eine Krise auf der ersten Ebene. Religiöse Meinungsverschiedenheiten auf der zweiten Ebene selbst können auf diese Weise aber nicht mehr behoben werden. Denn hier besteht die Krise ja nicht darin, dass das, was „Welt“ ist, diffus geworden wäre, hier stossen zwei verschiedene Weltsetzungen zusammen.

 

Schon gar unmöglich ist es, eine solche Krise über einen Wahrheits-Streit zu beheben. Religiöse Verunsicherung dieser Art ist für dogmatische Wahrheits-Argumente nicht zugänglich, da diese nur für den Überzeugungskraft haben, der die fundamentalen Grund-Überzeugungen schon teilt. Auch die Ethik ist nicht einfach jene universelle Brücke zwischen den Religionen, wie es die Aufklärung behauptete und wie es noch heute Projekten für eine interreligiöse Verständigung zugrunde liegt. Wenn James Bond einen japanischen Karate-Kämpfer in der schutzlosen Phase der rituellen Verneigung niederschlägt, wenn gewisse Staaten im Widerspruch zur abendländischen Völkerrechts-Auffassung Geiseln nehmen, dann wird deutlich, dass auch Handlungsgemeinschaften solcher gemeinsamer Grund-Überzeugungen bedürfen. Sonst fehlen die Voraussetzungen für einen Streit um „richtiges“ oder „falsches“ Verhalten. Der Faustschlag repräsentiert einfach eine bestimmte Wert-Welt und der Karate-Tritt eine andere, beide stehen in „Missions-Konkurrenz“, zwei Kulturen stossen konfliktiv aufeinander, aber der Konflikt kann nicht mit Argumenten ausgetragen werden, da Argumentation immer erst innerhalb eines gemeinsamen Sinnhorizontes möglich wird.

 

Eine «Begegnung der dritten Art»

Als Gott die Sprachverwirrung über Babylon verhängte, kamen die Weisen und Schriftgelehrten zusammen und berieten, was zu tun sei. Bald zerstritten sie sich, aber sie konnten sich nicht einmal auf eine gemeinsame Beschreibung des Problems einigen. Auf der Baustelle stritt man sich derweil über Arbeitsbedingungen. Aber alles Reden half nichts, weshalb die Kontrahenten mit Fäusten aufeinander losgingen. Das lag daran, dass Gott die Sprachverwirrung nicht wegen der Gottlosigkeit der Menschen verhängt hatte, sondern im Gegenteil: Sie hatten zu viele Götter. Mit den gemeinsamen Grund-Deutungen fehlte ihnen die Möglichkeit eines friedlichen Streitens.

Da half auch ein Rückgang auf die „Meta-Ebene“ nicht weiter, sei es im Sinne Kants durch eine erkenntnistheoretische Besinnung auf die „Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis“, sei es wie seit der „Pragmatischen Wende“, durch Rückgang auf die Pragmatik der Überzeugung, die Bedingungen der Mission.

Denn die Probleme lagen hier ja auf der Meta-Ebene selbst, das Problem war ja, dass sich zwei Missionen konfliktiv gegenüberstanden und jede ihre Wahrheit als Grundlage gemeinsamer Verständigung absolut setzten wollte.

Wohl brachten die Weisen verschiedene Lösungsvorschläge vor, doch vermochte keiner zu überzeugen. Die „Inklusivisten“ sprachen von „Natürlicher Theologie“ und von „Ähnlichkeits-Beziehungen zwischen Natur und Gnade“ weshalb auch dem „natürlichen Menschen“ eine gewisse Gotteserkenntnis möglich sei. So hätten auch Fremdreligionen einen gewissen Wahrheitswert, der allerdings erst in der eigenen Offenbarung zur Fülle gelange. Die „Relativisten“ meinten, dass jede Religion in ihrem “Kontext“ wahr sei, aber gerade deshalb seien sie unvergleichlich. Wieder andern war das zu spitzfindig. Sie antworteten auf jede Infragestellung mit einer Repetition ihrer Glaubensformel und beharrten „exklusivistisch“ auf ihrem alleinigen Wahrheits-Anspruch…

Ein Konflikt auf der zweiten Ebene kann also weder durch Rückgang auf die erste Ebene noch auf der zweiten Ebene selbst behoben werden. Er ist weder zugänglich für Argumente noch für Missions-Strategien und Taufbefehle. Wenn der Ausweg nicht in Gewalt liegen soll, ist eine dritte Ebene notwendig, von der her eine friedliche Begegnung auf der zweiten Ebene möglich wird. Fehlt diese dritte Ebene, so werden nicht nur alle interkulturellen Begegnungen zur gegenseitigen Polemik verurteilt, es hat auch katastrophale Folgen für die erste Ebene: der Wahrheits-Diskurs schliesst sich ideologisch ab, wird von aussen nicht mehr kritisierbar, er verliert seinen potentiell universellen Anspruch. Das Reden wird zu einer „Privatsprache“, zur „Idiotie“ im Sinn von Eigenheit, zum Symptom, zum Autismus.

 

Krieger nennt das Gespräch auf der ersten Ebene „argumentativen“ oder „dialogischen Diskurs“, das der zweiten Ebene „Grenzdiskurs“, weil hier Identitäten gesetzt und umgrenzt werden, und er fordert auf einer dritten Ebene einen „Erschliessungsdiskurs“, der eine Verständigung über die Grenzen kollektiver Identitäten hinaus ermöglichen soll. Die Verständigungsmittel dieser dritten Ebene sind dem einzelnen nicht so zur Hand wie jene der ersten Ebene. Der „Wahrheits-Diskurs“ lässt sich ja operationalisieren und in Methoden zusammenfassen. Schon die Verständigung auf zweiter Ebene verläuft anonymer: die Einweisung in einen kulturellen Sinnhorizont erfolgt durch Sozialisation, aber auch durch Riten wie die Taufe. Eine „Begegnung der dritten Art„, auf der dritten Ebene, ist aber weder durch „interreligiösen Dialog“ möglich (Dialog findet nur auf der ersten Ebene statt), noch durch kulturelle Uniformierung der ganzen Welt.

 

Krieger sucht eine Lösung auf der Basis von „Brücken-Symbolen„. Die verschiedenen kulturellen und religiösen Symbolsysteme könnten vielleicht über bestimmte zentrale und in allen Religionen vorkommende Symbole miteinander kommunizieren. Offensichtlich erfordert das einen Prozess welthistorischen Ausmasses. Begonnen hat er ja in der Urgeschichte: mit der Sprachverwirrung in Babel.

 

 

„Wir müssen die Glaubenssprache wie eine tote Sprache wieder lernen“

Gespräch mit Professor Geisser

 

Wie reden wir nach der „Babylonischen Sprachverwirrung“ vom Glauben? „Wir müssen die Glaubenssprache neu lernen, fast wie eine der toten, alten Sprachen!“ Zu diesem Schluss gelangt Hans Geisser, Professor für Systematische Theologie, Dogmengeschichte und Symbolik an der Universität Zürich, in einem Gespräch mit dem „Theodoranten“, das im Folgenden in Auszügen wiedergegeben wird.

 

Die Theologie habe den Schatz überlieferter Traditionen ausgebeutet wie nicht-erneuerbare Ressourcen. Die Suche nach „erneuerbaren Quellen“ bedeute aber methodologisch, dass wir uns auf das „Wagnis dogmatischer Setzungen“ wieder einlassen müssten. Das hätte auch Folgen für die Pfarrausbildung…

 

Theodorant„: Bedeutet das für die Theologie die Rückkehr zum Traditions- und Autoritätsbeweis?

Geisser: Ja, aber nicht, indem man wie in alten Zeiten autoritär sagt: „so ist das…!“, sondern indem man sich auffordert, einlädt, sich gegenseitig dabei behaftet: „wenn Du Dich als einzelner in die christliche Theologie oder Kirche einbringen willst, dann musst Du Dich an gewisse gemeinsame Spielregeln halten. Die sind variationsfähig, aber das Spiel geht nur, wenn dabei gewisse Regeln eingehalten werden.“

Th: Sie sagen, man kann hypothetisch formulieren: „wenn – dann“, „wenn Du schon mitreden willst in der christlichen Theologie, dann musst Du Dich an die Spielregeln halten.“ Das setzt voraus, dass es einen bestimmten Bestand von Traditionen gibt, die man akzeptieren muss, um im christlichen Gespräch zu bleiben. Aber die Frage ist: wie findet man diesen Bestand? Der Bezug auf die Tradition kann die normative Frage nach dem „Richtigen“ oder „Verbindlichen“ nicht ohne weiteres beantworten, denn diese Norm wird ja schon benötigt, um die normativen Traditionen benennen und ausscheiden zu können?

Kann die Berufung auf das „Sprachspiel des Glaubens“ diese normative Frage aus der Welt schaffen? In der Sprachphilosophie taucht das Problem ja auch wieder auf: ob die Religion ein gesondertes Sprachspiel darstelle oder wie sie mit den andern Sprachspielen zusammenhängt?

Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit

G.: Die christliche Verkündigung und Lebensgestaltung hat immer diesen Anspruch gestellt, dass sie allgemeingültig sei, mindestens hat sie den Anspruch gestellt, dass sie nicht Sondersprache sei in dem Sinn, dass sie völlig abgekoppelt gelebt werden könnte von der „Wirklichkeit“, wie sie auch andere Menschen erleben.

Deswegen hat sich das Christentum einst beim Übergang aus dem jüdischen in den hellenistischen Horizont auf die Metaphysik und die Philosophie eingelassen, um diesen Anspruch plausibel zu machen. Für unsere sog. „postmoderne“ Zeit stellt sich die Frage: Ist das nur eine veraltete Marotte des Christentums – gespeist aus jüdischer Apokalyptik und griechischer Metaphysik -, sich in dem Sinn in Korrelation zur gesamten Wirklichkeit zu sehen, oder ist es unaufgebbar? Ich würde sagen, es ist unaufgebbar, aber es geht nicht mehr im alten Stil.

In diesem Sprachspiel ist also immer auch gespielt worden – z.T. mit grosser Selbstverständlichkeit und sehr naiven Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit – die Überzeugung: Dieses Spiel spielt Gott mit, oder: diese Geschichte, in der wir hier stehen, in die wir hier einsteigen, ist nicht einfach nur unsere Spezialgeschichte, sondern es ist die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung. Und das würde heissen: dieses Spiel – bei allem Risiko, bei aller Variationsbreite, die innerhalb eines bestimmten Grundmusters doch da ist, bei aller Veränderbarkeit – dieses Spiel passt zur Wirklichkeit der Welt, zu Gottes Schöpfung. Wir riskieren bei diesem Spiel vieles – man kann auch verlieren bei einem Spiel -, aber der Anspruch ist überall mitenthalten, dass es ein Spiel ist, bei dem schliesslich doch alle gewinnen, das also der Wirklichkeit angemessen ist.

 

Nur: dieser Anspruch lässt sich nicht mehr in der alten Selbstverständlichkeit proklamieren, er lässt sich nicht wissenschaftstheoretisch oder historisch erweisen. Aber er lässt sich spielen. So würde ich meine Antwort mal versuchen. Aber die Probe aufs Exempel wäre dann doch wieder eine pragmatische: ob man für diesen Konsens, mitspielen zu wollen und zu können, auch eine Sprache findet. Das wäre die „Verifikation“ dieses Anspruchs.

 

Gibt es da eine Sprache, die nicht Sondersprache eines isolierten einzelnen ist, nicht nur Sondersprache von sektiererischen Gruppen, sondern eine Sprache, die in einem durchschnittlichen volkskirchlichen Gottesdienst gesprochen werden könnte, ohne dass der Prediger oder die Predigerin die Sondersprache nur der Jungen, der Senioren, der Grünen oder Konservativen redet? Gibt es die, oder ist sie verloren gegangen, verschlissen in den Pluralismen unserer Gegenwart?

 

Th: Hat dieses neue Gebäude der Sprachphilosophie nicht irgendwo eine Besenkammer, in der die alte dogmatische Methode verborgen steckt? – Es ist ein Geltungsanspruch da. Sie sagen, man kann ihn heute nicht mehr proklamieren, weil man ihn auch nicht mehr wissenschaftstheoretisch einlösen oder historisch begründen kann, man kann ihn nur noch spielen. Aber wenn die Geschichte gezeigt hat – Stichwort historisch-kritische Methode -, dass man aus historischen Beschreibungen niemals zu normativen Aussagen gelangt, müsste man da nicht sagen, dass wir wieder lernen müssen, dogmatisch zu reden? Wenn wir eine Methode wollen, die nicht zu historischen Beschreibungen, sondern zu theologischen Sätzen führt, dann müssen schon am Anfang theologische Sätze stehen, da sich diese nicht von etwas Aussertheologischem ableiten lassen. D.h. sie müssen dogmatisch gesetzt werden.

 

G: Sie haben vollkommen recht. Ich würde das auch an die eigene Adresse zurück spedieren. Das gilt nicht nur von den Exegeten mit ihrer historisch-kritischen Methode, sondern auch von uns Systematikern: Wir haben in der Theologie – und tun das bis heute -, viel zu selbstverständlich davon gezehrt, dass das Sprach-Spiel christlicher Glaube, auch die Frömmigkeitssprache, die Weitergabe im Katechismus-Unterricht, dass das alles noch spielt, und haben auf dieser Basis unser Sonderspiel historisch-kritische Methode, Rückfragen, Infragestellungen usw. spielen können. Wir haben vielleicht zu spät bemerkt, dass unsere Voraussetzung gar nicht mehr gegeben ist, dass also unser Sonderspiel akademische Theologie ein bisschen in der Luft hängt.

 

„Geschichte“ ist anders

Th. Sie haben erwähnt, dass sich die historisch-kritische Methode (HKM), jedenfalls in ihrer Anwendung auf Theologie, dem Idealismus verdanke. Wenn ich dieses System zugrunde lege, diesen „Weltgeist“, der sich geschichtlich entfaltet und die Welt aus sich herausbringt, dann ist die HKM nicht nur eine historische, sondern auch eine theologische Methode, denn die historische Erkenntnis ist von der theologischen Erkenntnis nicht verschieden, weil es ja „Gott“ ist, dieser „Weltgeist“, der sich in der Geschichte entfaltet.

Wenn ich jetzt aber eine „Oben-ohne-Philosophie“ daraus mache, wenn ich Gott rausnehme, der hinter dieser Entwicklung steckt, dann zerfällt das doch in einen Relativismus von verschiedenen Epochenäusserungen, so dass auch die HKM nur noch relativieren kann. Sie kann dann wohl noch Behauptungen kritisch zurückweisen, aber sie kann die Begründungsaufgabe nicht mehr leisten. Sie erzeugt keine theologischen Sätze mehr, eignet sich nicht mehr zu einer theologischen Methode.

Daher wird ergänzend die Hermeneutik neben die HKM gestellt, aber beide sind nicht wirklich zu einer theologischen Methode integriert – das ist jedenfalls der Eindruck, den ich als Student erhalten habe. Historisch-kritisch wird vor allem die Kritik betont; damit kann man dogmatische  Ansprüche seitens der Kirche zurückweisen oder seitens sektiererischen Gruppierungen. Das Methodische, das Erzeugen von Sätzen mit einem theologischen Geltungsanspruch, das macht man dann mit der Hermeneutik. Aber so, wie die HKM sich dem Idealismus verdankt, ist die Hermeneutik noch in dessen Gegenposition verankert: wenn Hegel die Objektivität des Allgemeinen betonte, strich Kierkegaard die Subjektivität des einzelnen heraus; wenn Hegel den einzelnen über das Allgemeine vermittelte, gibt es bei Kierkegaard allgemeines nur qua einzelnes. Während Hegel das Was-Sein, die Essenz, aus der Geschichte abliest, wollen die Existenzphilosophen der Geschichte in ebensolcher Einseitigkeit nur die Existenz, das Dass-Sein, anvertrauen. „Geschichte“ wird so zu einer absoluten Freiheits-Geschichte, die überhaupt nichts Allgemeines, Bedingendes, Verbindliches mehr enthält, sondern in Myriaden inkommensurabler Einzelheiten zerfällt.

Kann ein derart übersteigerte Subjektivitäts-Gedanke ausgerechnet als Brücke zum Allgemeinen dienen? Kann ein solcher Ansatz der Aufgabe der Hermeneutik wirklich gerecht werden, die – jenseits aller philosophischen Selbstverständigung – ja auch theologische Methode sein soll? Das blosse Wort „Methode“ beansprucht ja, dass jedermann, der diesen „Weg“ geht, zum selben Ziel gelangt. Wird hier nicht verstohlen ein Kaninchen in einen Hut gesteckt, das man dann mit Hokuspokus daraus hervorzieht? Zuerst erzeugt man ein hermeneutisches Scheinproblem, indem man die Glaubenssätze historisch bzw. historistisch distanziert, dann entsteht die Frage: ja, worin besteht denn heute noch die Geltung von dem, was ich eben historistisch distanziert habe? Aber diese Frage nach der bleibenden Gültigkeit wird dann sehr dadurch kompliziert, dass wir eben die Distanzierung schon falsch vornehmen, nämlich nicht historisch, sondern historistisch, mit einem Geschichts-Begriff, der in sich hoch ideologisch ist, wo alles auf seine „Einmaligkeit“ begrenzt wird. Aber es ist die Frage, ob das „Geschichtliche“ wirklich derart vereinzelt und in sich „kontingent“ ist, wie das hier angenommen wird. Es ist also eine Frage nach der Geschichts-Auffassung, nach dem Geschichts-Begriff.

 

G.: Das ist zuzugeben was Sie mit der historistisch betriebenen HKM meinen, die höchst ideologisch bleibt. In einem anderen Punkt sehe ich noch nicht recht, ob wir uns da einig sind, wenn Sie die historische Kontingenz in Frage stellen. Habe ich richtig verstanden, dass Sie das bestreiten wollen?

 

Th: Ja, weil ich denke, dass sich die Rede von der „Kontingenz“ einem bestimmten Geschichtsbegriff verdankt, in dem verschiedene Traditionen und Interessen nachschwingen:

  • Da ist die Abwehr der Aufklärung in der Romantik.

So wie die Aufklärung als Offensiv-Ideologie die Besetzung Europas durch die napoleonischen Truppen rechtfertigen sollte – „wir bringen euch Freiheit und Fortschritt“- , so diente der Historismus als Defensiv-Ideologie in den Preussischen Befreiungs-Kriegen: „Es gibt nicht nur die allgemeine, menschheitlich-fortschreitende Vernunft; jedes Volk und jede Epoche hat ihren eigenen Geist, ist ‚unmittelbar zu Gott‘.“

  • Da ist die Abwehr des aus dem Empirismus herstammenden Positivismus,

der alle Wissenschaften über den Leisten der Naturwissenschaft schlagen wollte. Geschichts- und „Geistes-Wissenschaften“ wehrten sich durch Rekurs auf jene „historischen Individualitäten“, die nur „beschrieben“, nicht „erklärt“ werden könnten, weshalb sie „idiographisch“, nicht „nomothetisch“ verfahren müssten.

Historismus und Hegelianismus erklären historische Phänomene also zu Manifestationen des „Geistes“. Philosophisch muss das in Positivismus und Relativismus umschlagen: wenn alles „gleich gültig“ ist, ist alles „gleichgültig“, alles ist jetzt geheiligt, der kritische Massstab fehlt. Aber die relativistische Vergleichgültigung aller Geltungen ist nur eine schlechte Ironie auf eine wirkliche Kritik, die ein Begründen von Geltungen nicht verhindert, sondern ermöglicht.

 

  • Mit diesem Hintergrund lässt sich die HKM auch für eine politische Gängelung

der Theologie einsetzen: der Relativismus bricht jeder aus dem Evangelium abgeleiteten Forderung das Kreuz; und der Positivismus, der nur die Kehrseite des Relativismus darstellt, liefert das Blattgold, mit dem sich jede historische „Tatsache“ vergolden lässt.

Polemisch zugespitzt: die historisch-kritische Methode verfährt gar nicht historisch-kritisch, sondern historistisch-kritizistisch, da sie einen ideologischen Geschichtsbegriff zugrunde legt, der die Phänomene auf eine Weise vereinzelt, welche eine Verallgemeinerung nicht mehr ermöglicht. So wird „Geschichte“ als eine Sammlung in sich „kontingenter“ Einzelphänomene dargestellt, über die überhaupt nichts Allgemeines mehr ausgesagt werden kann. Also lässt sich auf dieser Grundlage auch keine theologische Methode aufbauen, ja nicht einmal eine taugliche historische Methode, wie schon die Grundlagendebatte in der Geschichtswissenschaft der 70er Jahre festgestellt hat.

 

G: Aber woher kam dieser Umschlag in Positivismus und Relativismus, von dem Sie im Blick auf das letzte Jahrhundert eben gesprochen haben? Daher, dass die vom Deutschen Idealismus geprägten Denker zu wenig dem Allgemeinen nachgedacht hatten? Ich meine: eher zu viel. Sie wollten zu genau das geschichtsphilosophische und -theologische Gras wachsen hören. D.h., sie wussten zu gut Bescheid über die Logik, nach der der absolute Geist – oder ein befreites Menschsein – sich notwendig in der Geschichte manifestieren und verwirklichen müsse. So wussten sie auch allzu gut, was einzelne geschichtliche Erscheinungen und Überlieferungen wert oder nicht wert waren, also z.B. welche Durchgangsstufen sie auf dem Weg zum Ziel der Geschichte repräsentierten. Diese Perspektive ermöglichte eben eine distanzierte historisch-kritische Betrachtung des einzelnen. Und sie provozierte im Gegenzug allerdings auch dazu, geschichtliche Einzelphänomene willkürlich emporzustilisieren – oder aber sie nivellierend unterzupflügen. Doch heisst das, dass wir dagegen nun wieder neue Gesamtdeutungen und Ganzheitsentwürfe aufbieten müssten?

Unser Problem ist doch eher: wie können wir uns auf die Kontingenz der Geschichte einlassen, also auf eine nicht abschiessend deutbare oder gar machbare Geschichte, in der aber der „Konflikt der Interpretationen“ (Ricoeur) und der Konflikt der Interessen kontinuierlich weiterläuft? Wie können wir das, wenn wir nicht mehr über das sichere ideologische Wissen (à la Hegel, David Friedrich Strauss, Karl Marx, Neomarxismus oder wie immer) verfügen? Heisst das, dass wir – Stichwort „Postmoderne“ – uns der Relativität und Beliebigkeit der geschichtlichen Lebensformen überlassen müssen und dürfen?

 

Oder ist es so, dass uns – wie es der christliche Glaube meint – gerade aus einer ganz bestimmten, einzelnen und kontingenten Ecke der Weltgeschichte ein Angebot und ein Anspruch begegnet, ja förmlich nachläuft – das Angebot und der Anspruch nämlich, uns in eine besondere, aber aufs Ganze gehende Geschichte Gottes mit seiner Welt und seinen Menschen einbeziehen zu lassen? Diese Geschichte wäre es dann, die uns mitsamt unserer ganzen Kontingenz trägt. Und wir wären entlastet von der Überforderung, mittels unserer Verallgemeinerungen den Sinn des Ganzen entwerfen oder vollstrecken zu müssen. Darum dreht sich die Frage, das ist das Spiel.

 

Das ist ja das Interessante, dass das Christentum – mindestens in bestimmten abendländischen Formen – die Möglichkeit hervorbrachte, auf sich selbst zu reflektieren, sich in der eigenen Relativität und geschichtlichen Bedingtheit zu sehen, ohne sich dadurch aber in das Chaos einer Sinnlosigkeit stürzen zu sehen. Denn hier wird erkannt, dass diese Kontingenz unser geschöpfliches Los ist. Aber Geschöpflichkeit heisst auch, dass sie in Gott begründet ist. Es kann also dann das letzte Allgemeine, das letzte Ganze von uns dahingestellt bleiben; wir müssen es uns nicht in Theorien und Programmen präsentieren oder der Umwelt oder Nachwelt aufzwingen.

 

Th: Mit den Stichworten „Kontingenz“ und „Ganzheit“ bewegen mir uns zwischen zwei Extrempunkten der Geschichts-Auffassung. Von meinem Glaubensverständnis her würde ich sagen: Gott steht in einem bestimmten Verhältnis zur Geschichte. Weder geht er völlig in ihr auf, wie der Idealismus meinte, noch ist er völlig von ihr abgezogen, so dass er die „Geschichte“ nur noch als leere Bühne menschlicher Selbstverständigung zurückgelassen hätte, wie es die Reaktion behauptete.

Eine theologische Besinnung müsste heute also wohl auch beim Geschichtsbegriff ansetzen, nicht nur wegen der exegetischen Methoden, sondern auch zur Klärung so grundlegender Begriffe wie „Kirchengeschichte“ und „Geschichte Israels“. Hier stehen theologische und historische Kategorien unvermittelt nebeneinander, so dass Geschichte nichts über das „Volk Gottes“ aussagt und das „Volk“ – wo es theologisch ernst genommen wird – keine wirkliche Geschichte hat. Wenn „Kirche“ an der christologischen Doppelnatur teilhat, so stehen „Mensch“ und Gott“ nebeneinander – ein Dualismus im konträren Gegensatz zum christlichen Bekenntnis.

 

Glaubensverbindlichkeit?

Sie haben vom „Christus-Ereignis“ gesprochen. Damit sind wir wohl wieder am Ausgangspunkt unserer Diskussion: dass wir wieder lernen müssen, dogmatisch zu reden. Denn dass uns in dieser „kontingenten“ Geschichte etwas begegnet, das diese Kontingenz trägt – das Christusereignis -, das kann man nicht aus der Geschichte begründen, das muss man dogmatisch sagen.

G: Ja, aber dieses dogmatische Reden, das haben wir uns nicht aus den Fingern gesogen, das haben wir uns nicht ausgedacht. Das haben wir uns vor allem nicht als einzelne ausgedacht, sondern das kommt uns ja durch eine Überlieferung zu, welche wir kritisch analysieren und in ihrer Kontingenz und Relativität durchschauen müssen.

Th: Aber doch: wenn am Schluss der Argumentation nicht ein historischer Satz dastehen soll, sondern ein Satz, der Glaubens-Verbindlichkeit beansprucht, dann muss am Anfang schon eine dogmatische Setzung stehen, denn ohne Geschichts-Theologie kann man aus der Geschichte keine dogmatischen Sätze pressen?

G: Ja das ist vollkommen richtig.

Th: Wie reagiert wohl die Öffentlichkeit, wenn es heisst: an der Uni Zürich denkt man an einer „neuen dogmatischen Methodologie“ herum?

Dogmatische Erneuerung der Methodologie?

G: Ja, erstens denkt man an der Uni Zürich gar nicht so scharf an der Frage herum, sondern eher wo anders, und zweitens, wenn man schon da herumdenkt, kann man das sehr wohl korrekt in wissenschaftlicher Verantwortung tun. Denn das ist doch klar: Wenn wir uns da gegenseitig zustimmen, dass am Anfang eine dogmatische Setzung stehen kann, dann ist das nicht eine Setzung, die deshalb gilt, weil da irgendeine Instanz wäre, die sich dafür instand gesetzt, berufen und fähig hält, diese Setzung allgemeingültig vorzuschreiben.

Diese Setzung ist vielmehr suggeriert durch Überlieferung, und das heisst auch, dass wir kritisch auf diese Überlieferung reflektieren – das ist das Unaufgebbare an der historisch-kritischen Methode. Das heisst weiter, dass wir wissen: diese Setzung ist nicht einfach da, sie ist nicht einfach von einer Instanz hinzunehmen, sondern sie ist angewiesen auf Konsens. Sie lebt also von der kritischen Zustimmung, von dem Mitspielen sehr vieler einzelner.

 

Dafür gibt es Regeln, und die gilt es zu kennen und zu beachten. Inwiefern ist das, was wir theologisch sagen, der Zustimmung anderer (in der Kirche aber auch ausserhalb der Kirche) fähig – und inwiefern ist es dies nicht? Wir müssen die Bedingungen der Zustimmungsfähigkeit dieser „dogmatischen Setzungen“ in der heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Situation in unsere Reflexion miteinbeziehen.

Aber das war ja im Grunde auch früher nicht anders. Wenn wir die Vergangenheit nach ihren historischen, soziologischen und wissens-soziologischen Bedingungen etc. analysieren, dann sehen wir, dass auch früher diese „dogmatischen Setzungen“ nicht einfach deshalb galten, weil da etwa ein Schriftprinzip im primitiven Sinn – ein vom Himmel gefallenes Heiliges Buch – war, oder weil es da ein päpstliches Lehramt gab, sondern da spielten immer alle möglichen Mechanismen der Konsensfindung. Auch die alten Dogmatismen unterstanden verschiedenen Bedingungen der Konsensfähigkeit.

 

Th: Aber was sind denn heute diese „Bedingungen der Zustimmungsfähigkeit“?

Wie finden wir den Konsens? Wir haben ja im Raum der evangelischen Kirchen über die vergangenen Jahrhunderte eine ganze Folge von solchen Modellen gehabt, die versuchten, ohne institutionellen Zwang, ohne autoritative Setzung, aus der Überlieferung selbst solche Bedingungen der Zustimmungsfähigkeit zu entwickeln, aber die sind historisch relativ geblieben. Und zwischen relativ und Relativismus ist es nur ein Schritt. Wie lässt sich ein neuer dogmatischer Ansatz finden, der nicht wieder in diesen Relativismus hineinfuhrt?

 

G.: oder wieder in Dogmatismus umschlägt? Absolute Garantien, das zu verhindern, gibt es nicht. Die bisherigen Versuche, die das eine oder das andere vermeiden wollten, sind vielfach wieder ins Gegenextrem gerutscht. Aber die Erfahrung zeigt doch: es hat sich – eigentlich sehr früh schon ein bestimmtes Grundmuster eingespielt, das man durch eine Doppelbewegung charakterisieren könnte. Ich formalisiere jetzt einmal sehr stark:

Christlicher Glaube, die christliche Religion ist Christus-Religion, das ist die Orientierung an Jesus Christus, von dem man weiss, dass er als endlicher Mensch auf dieser Erde lebte. In ihm wusste man das letztgültige und insofern allgemeingültige Handeln Gottes geschehen, in ihm wusste man Gott selbst, Gottes Sohn, Mensch geworden. Hier finden wir diese Doppelbewegung:

Einmal die Orientierung an einem geschichtlichen Menschen in einer geschichtlichen Kontingenz (Stichwort Christusereignis). Diese Grundorientierung galt als verpflichtend, als anzuerkennen und anerkennbar durch die, die hier dazu gehören wollen oder sollen. Diese Grundorientierung macht das eine aus und bedeutet eben die tiefe Verwurzelung des christlichen Glaubens in Geschichte, und zwar in einer kontingenten Geschichte, und seine Bindung an eine geschichtliche Person.

Und zum andern begegnet uns hier der Anspruch, dass sich in dieser geschichtlichen Person, unbeschadet ihrer Geschichtlichkeit und unaufgebbaren Menschlichkeit, Gott gezeigt habe, und zwar nicht irgendeine Gottheit, sondern der Schöpfer Himmels und der Erde, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, also der ganzen Welt in ihrer materiellen und spirituellen Dimension.

Hier entsteht aber die Frage: wie kann das verkündigt, mit einiger Plausibilität verkündigt und beansprucht werden? Das ist die andere Grundverpflichtung des christlichen Glaubens. So lange der christliche Glaube die beiden Grundverpflichtungen, die in dieser christologischen Orientierung liegen, präsent hält und keine – auch nicht eine auf Kosten der andern – preisgibt, solange er die ideologische Fixierung der einen wie der andern vermeiden kann, oder, wenn sie schon nicht vermieden werden kann – meist konnte sie es nicht -, dann auch wieder überwinden kann, solange er das kann, bleibt er a) mit sich identisch und b) kann er das Beste für das Allgemeine, z.B. für das Schicksal der Menschheit, beisteuern. Das letzte ist freilich wieder ein Anspruch, der nicht bewiesen werden kann. Aber eine gute theologische Hermeneutik könnte explizieren, inwiefern er sinnvollerweise erhoben werden kann.

Verallgemeinerung, Vereinzelung, aber „richtig“

Th: Ich möchte zu einem Abschluss kommen. Wenn Sie den Verlauf des Gesprächs überblicken, gibt es ein Ergebnis, das Sie zusammenfassen könnten als Antwort auf die Frage: Verallgemeinerung, Vereinzelung, aber „richtig“?

G: Das Ergebnis wäre in der Tat, dass der Diskurs in der christlichen Glaubens-Gemeinschaft, Sprach-Gemeinschaft, Handlungs-Gemeinschaft und Leidens-Gemeinschaft in ihren heute sehr auseinanderstrebenden Fraktionen und Regionen davon lebt, dass dogmatische Setzungen gewagt werden.

Sie müssen also, im Bewusstsein ihrer Angewiesenheit auf Konsens, probiert werden, aber hoffentlich dann auch im Wissen um die Bedingungen ihrer Konsensfähigkeit (nicht einfach nur mit der Abrufung angeblicher Evidenzen, „die doch eigentlich jeder vernünftige Mensch einsehen muss“, und wer’s nicht einsieht, ist dann halt kein vernünftiger Mensch). So können solche Setzungen vielleicht gelingen – für eine gewisse Zeit.

 

Das ist mehr das Formale; inhaltlich müssen diese Setzungen, in variabler Form, die Bezugnahme auf Jesus Christus durchspielen, und das heisst – entsprechend der oben genannten Doppelbewegung – zweierlei: Bezugnahme sowohl auf das, was von Jesus historisch mit den Methoden gerade auch unserer historischen Kritik erkennbar ist, was aber als solches nicht den Glauben begründen kann, aber zu seiner Gestalt gehört, wie auch Bezug – und jetzt konstitutiv – auf das Christus-Zeugnis der Generationen Und das ist eigentlich das entscheidende Kriterium für diese dogmatischen Setzungen: sind sie christusgemäss?

 

Das Kriterium

Daran entscheidet sich auch, ob darin „richtige“ Vereinzelung, „richtige“ Verallgemeinerung zur Sprache kommt. Vieles beansprucht natürlich, „christusgemäss“ zu sein, aber da herrscht nicht solche Finsternis, dass alle Katzen grau wären. Das Kriterium ist also: artikuliert sich in ihnen – mit einer Abbreviatur von Eilert Herms gesprochen – das „Schicksal der christlichen Freiheit“? Das ist nicht eine selbstgewählte oder im Subjekt selbst begründete Freiheit, sondern eine zugeschickte und auferlegte Freiheit, die letztlich in Bindung und Abhängigkeit gründet. Das heisst, was als Kategorie des einzelnen dazugehört, ist nicht in sich selbst, sondern in Christus begründet, und das ist nicht zuerst für den isolierten einzelnen da, sondern für eine Gemeinschaft der Glaubenden.

 

Th: Bedeutet das auch, dass die Methoden an der Fakultät einer Prüfung unterzogen werden müssen, weil wir in eine Sackgasse geraten sind?

G: Sackgasse würde ich nicht sagen, aber Stagnation, insofern wir gewisse Methoden immer noch – obwohl man eigentlich hellhörig geworden sein könnte – zu naiv, zu selbstverständlich gehandhabt haben und uns nicht hundert-prozentig klar waren, was sie leisten und nicht leisten können. Dadurch sind wir in eine gewisse Stagnation geraten, und dass wir mal wieder den Kopf ein bisschen über den eigenen Kirchturm-Horizont herausstrecken, das ist allerdings nötig. Vielleicht kommen jetzt wieder Momente, wo man das wieder mal entschlossener gemeinsam tut.

Konfirmanden-Unterricht“ für Studierende?

Th: Hat das auch Konsequenzen für die Pfarr-Ausbildung?

G: Da würde ich zweierlei darauf sagen. Einmal: hier an der Fakultät geschieht nicht die ganze Ausbildung, da geschieht sozusagen ein Stück Vorbildung. Das andere müsste dringend geschehen nach dem Studium, in der Vikar-Ausbildung und in der Begleitung der ersten Praxisschritte – wie es da mit der Akzeptanz steht, das ist eine andere Frage.

Und jetzt speziell im Blick auf das, was wir hier als Vorbildung für das Amt in einer heutigen Volkskirche leisten. Da liesse sich, etwas provokativ, eine ganz schlichte Konsequenz formulieren: Wir müssen in unser Lehrangebot – neben all dem, was sowieso drin ist und was sonst noch gefordert wird an alternativen Methoden etwa – einen „Konfirmandenunterricht für die reifere Jugend“ aufnehmen, also für Theologie-Studierende, die ja überwiegend keinen Konfirmanden-Unterricht im Sinn einer Weitergabe des christlichen Glaubens, einer Einübung in christliche Glaubenssprache gehabt haben.

Sie müssten eigentlich bereit sein, einen solchen Unterricht – jetzt nicht einfach über sich ergehen zu lassen, aber mitzumachen, so wie sie auch wohl oder übel bereit sind, die drei Sprachen nachzulernen. Viel wichtiger wäre es, die Glaubenssprache nachzulernen, die man in der ursprünglichen religiösen Sozialisation in den schweizerischen Landes-Kirchen nicht mehr gelernt hat, so wie man auch die klassischen Sprachen kaum mehr wie einst an einem humanistischen Gymnasium schon vorher gelernt hat.

Aus „Theodorant“ Febr. 1991

In dankbarer Erinnerung an Professor Hans Geisser

 

 

 

Das Symbol – der sanftere Weg

Eine Bilanz nach dem Suchweg dieses „Theodoranten“

 

In verschiedenen Beiträgen dieser Nummer wurde gefragt, wie sich angesichts der Privatisierung der Religion und des Pluralismus von Entwürfen das «Allgemeinverbindliche“ des Glaubens heute zur Geltung bringen lasse, ohne dadurch wieder in alte Zwangsformen von Amtskirche, Dogmatismus oder Moralismus zurückzufallen.

Ich versuche im Folgenden, einige Linien miteinander zu verknüpfen. Viele Sätze kommen daher, als ob ich meiner Sache fraglos sicher wäre. Aber es sind eher tastende Bewegungen im Dunkeln, die auf Widerstand und Widerspruch angewiesen sind, wenn sie einen gangbaren Weg ertasten sollen.

 

„Wenn du mit deinem Munde Jesus als den Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.» (Röm. 10,9) Die urchristliche Verkündigung kennt das Heil für den ganzen Kosmos und kann es daher auch jeder Angesprochenen zusprechen. Hier ist der Gehalt des Glaubens „objektiv“ gegeben als etwas, das der Angesprochenen gegenübersteht; und es ist doch zutiefst „subjektiv„, weil die Angesprochene nach dem Anspruch der Missionsrede erst so überhaupt zu der wird, die sie nach ihrer Vollgestalt ist.

 

Als sich das Christentum in der Antike auf eine Weltreligion hin entwickelte, stand es im Umfeld der Frage nach dem wahren Gott und der wahren Sittlichkeit. Klar, dass es im Wettbewerb der Religionen und Philosophien seine Stimme erhob und beanspruchte, diesen „wahren Gott“ zu kennen. Damit war es aber vor die Aufgabe gestellt, diesen Anspruch mit den Denkmitteln der Antike auszuweisen.

Im Umfeld des griechischen Denkens ist das die Frage nach dem „Wahr-Gut-Schönen“. Gott wird hier vorgestellt als Inbegriff allen Seins, in dem die theoretische  Frage nach der Wahrheit, die ethische Frage nach dem richtigen Leben und die  ästhetische Frage nach der Schönheit zum Ziel gelangen.

 

Die drei Geltungsansprüche

Seither wird versucht, den ursprünglichen Anspruch des christlichen Kerygmas im Rahmen dieser drei traditionellen Geltungsansprüche der griechischen Philosophie auszuweisen. Wie die Beiträge dieser Nummer gezeigt haben (Krieger, Geisser), wird dieser Versuch heute als gescheitert aufgegeben.

 

Daraus entstehen zwei Fragen:

  1. a) Soll die christliche Glaubensrede die drei Geltungsansprüche als unerfüllbar einfach abschreiben? So versuchen es einzelne „nicht-kognitive“ Rekonstruktions-Versuche der Theologie im Gefolge der Sprachphilosophie.
  2. b) Lässt sich der ursprüngliche Anspruch der kerygmatischen Glaubensrede anders rekonstruieren als im Sinn von Wahrheit, Richtigkeit, Schönheit?

 

„Zwischen Wahn und Wirklichkeit“ 

Zu a) Geisser hält das Festhalten an den drei Geltungsansprüchen für unverzichtbar, da sich christliches Leben in dieser Welt bewähren muss und sich daher am Streit über wahre Weltbeschreibung oder richtiges Handeln beteiligen muss.

Ohne Festhalten an diesen drei Geltungsansprüchen kann sich Kirche nicht behaupten, wie die Erinnerung an eine ihrer grössten Herausforderungen der jüngeren Vergangenheit zeigt: ihre Infragestellung durch die totalitäre Ideologie des Dritten Reiches. In Deutschland wird diese Erfahrung im Religionsunterricht aufgearbeitet; ein Unterrichtswerk über den Kirchenkampf trägt als Untertitel die drei Zeilen: „zwischen Wahn und Wirklichkeit“, „zwischen Schuld und Widerstand“, „zwischen Anpassung und Verfolgung“. Hier werden haargenau jene drei Geltungsansprüche reklamiert:

 

Kirche kann sich nicht abmelden vom Streit um die Wahrheit (Wahn oder Wirklichkeit?). Sie kann sich niemals aus der Debatte um Recht oder Unrecht zurückziehen, nur weil sie sich nicht mehr zutraut, diesen Geltungsanspruch einzulösen (Schuld oder Widerstand?). Die Frage nach „Anpassung oder Verfolgung“ bezieht sich auf den dritten Geltungsanspruch, den Habermas als Anspruch auf subjektive Wahrhaftigkeit rekonstruiert.

 

Die Kirche, die in ihrem Kerygma das Heil der ganzen Welt verkündigt, kann dieses Heil also nicht an diesen drei Geltungen vorbei verkündigen. Aber offensichtlich lassen sie sich nicht mehr auf die alte Weise davon ableiten. Der Anspruch auf Wahrheit, Richtigkeit und Schönheit ist auf eine indirektere Weise mit dem „kerygmatischen Anspruch“ verknüpft.

 

Weisheit oder Bekenntnis

Zu b) Lässt sich denn der ursprüngliche kerygmatische Anspruch auf andere Weise aufrechterhalten als über Rekurs auf das Wahr-Gut-Schöne der griechischen Philosophie und die drei davon abgeleiteten philosophischen Disziplinen Theorie (darin steckt die Frage, ob Theologie als Wissenschaft möglich sei), Ethik und Ästhetik? Und was wäre dann die Beziehung des „Kerygmatischen Anspruches“ (mit dem das Evangelium der ganzen Welt verkündet wird) zu diesen drei Ansprüchen? Haben wir in Gott nicht die Antwort auf alle Fragen?

 

Gott in der Welt

Die griechische Rede vom Wahr-Gut-Schönen steht über die altorientalische Weisheit in Zusammenhang mit dem kosmogonischen Denken, nach dem die Welt durch Teilung aus dem Ur-Einen entsteht. Dieses Ur-Eine, die Arché, „zeigt sich“ im Vielen, es „erscheint“, es wird in der „Aisthesis“ wahrgenommen. Da auch der Mensch in diesem kosmogonischen Prozess steht, der das viele aus dem einen hervorgehen und wieder in es zurückströmen lässt, kann er diesen Weg nachvollziehen. Das „dialektische“ Teilen und Vereinen ist damit zugleich der Weg der Erkenntnis wie die auf diesem Weg aufgehellte Struktur des Seienden.

 

Gott über der Welt

Das christliche Bekenntnis kann sich in diese Denktradition nicht unvermittelt einfügen, oder es gerät in Widerspruch mit sich selber. Denn die Grundlagen des christlichen Bekenntnisses in Altem und Neuem Testament (AT und NT) haben das kosmogonische Denken nicht auf diese Art aufgenommen. Gott ist nach AT-Zeugnis nicht Ursprung der Welt, er geht nicht als Arché in ihr auf. Er steht der Welt frei gegenüber, freilich nicht total von ihr gelöst: sie ist seine „Schöpfung“.

Das NT und die frühe Kirche antworten christologisch auf diese Frage: Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch, in derselben Einheit und Differenz der beiden „Naturen“, wie sie auch in der AT-Schöpfungslehre zum Ausdruck kommt.

 

Christliche Rede kann also die Vorstellung übernehmen, dass in Gott das „Wahr-  Gut-Schöne“ zur Vollendung gelange (und insofern hatten die Apologeten recht,  dass im christlichen Bekenntnis der „wahre Gott“ und das „richtige Leben“ zu  finden sei); aber dieses Wahr-Gut-Schöne ist aus Welt und Mensch nicht so einfach zu erheben: weder geht es „ontologisch“ in sie ein, noch kann es aus dem Vielen der Erfahrung oder aus dem Einen der Vernunft „erkannt“ werden.

 

Auch nach christlichem Bekenntnis kann Gott in der Welt „erscheinen“, aber nicht nach der Art der Aisthesis, die im Einzelnen eine Manifestation des Einen wahrnimmt. Als Gottes Schöpfung gehört die Welt zu Gott und ist doch von ihm verschieden. In ihr „erscheinen“ heisst also zugleich, sie aufheben: wo Gott erscheint, wird die Welt „heil“. Deshalb feiert das Christentum ja Gottes Erscheinen in der Welt – das Christusereignis – als einmaliges Heilsgeschehen. Und das bezeichnet auch den „kerygmatischen Anspruch„: er unterscheidet sich von jedem Anspruch auf das Wahre, Gute oder Schöne, der sich auf nur „weltliche“ Prinzipien bezieht.

 

Verschiedene religiöse Erfahrungen

Die „Religiöse Erfahrung, in der das „objektive“ Heil dem „Subjekt“ zuteil wird, ereignet sich im kosmogonischen Kult der Antike in dieser Aisthesis: kraft jenes „geistigen Auges“ im Menschen, das selber aus jener „Arché“ stammt, nimmt er im Vielen dieser Welt das Eine wahr. Die Zeit ist aufgehoben, im Einen ist alles ewig, unwandelbar. Der Kultteilnehmer wird blosses „Auge“, reine Kontemplation, das Handeln ist an sein Ziel gelangt, hier ist Welt wie sie sein soll. Auch der Kultteilnehmer ist am Ziel: als einzelnes, das zum vielen der Welt gehört, ist er Manifestation des einen, hat Teil an der göttlichen Natur. Und „Gott“, die Arché, lebt in ihm selbst. Er „erkennt“, dass Gott und er eins sind. Es braucht keinen „Erlösungsweg“, nur einen Erkenntnisakt, der ihm sein Erlöst-Sein in Erinnerung ruft…

 

Die Religiöse Erfahrung im Christentum scheint da vielleicht weniger spektakulär.  Allgemeines und einzelnes oder das Eine und Viele gehen da nicht so unvermittelt auseinander hervor. Gott ist zwar in der Welt erschienen (in Jesus Christus), hat sich aber nicht derart in die Welt eingestiftet, dass diese nun bloss kraft ihres Weltseins an Gott teilhätte; und „Glaube“ entsteht nicht durch eine blosse Erinnerung an „Gott in mir“. Das Christusereignis ist noch in Gang, insofern die einzelnen durch Verkündigung noch daran teilhaftig werden sollen und können. Es bedarf einer „Berufung“, eines „Hinausgehens“ aus der Welt, einer „Nachfolge“ auf dem Weg durch Tod und Auferstehung, bis die Schöpfung „endgültig“ an ihr Ziel gelangt.

 

Christlicher Kult kann somit nicht „Aisthesis“ und Erkenntnis feiern, aber er kann das in Christus begonnene Heilsgeschehen vergegenwärtigen. Der Auferstandene lebt und die Kirche versammelt sich in der Gewissheit, dass er „gegenwärtig“ ist, wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind. Und diese Gegenwart ist nicht bloss frommes Gefühl oder Erinnerung an ein bloss-historisches Christus-Geschehen. Mit Gottes Erscheinen in der Welt hat diese (nach diesen Bekenntnisgrundlagen) begonnen, heil zu werden, ist in einen allgemeinen „Auferstehungsprozess“ eingetreten.

Die Welt „ist“ also noch nicht, wie sie sein „soll“. Die Ethik ist noch nicht am Ziel wie im kosmogonischen Kult; sie ist aber auch nicht völlig absolut gesetzt wie in der Reduktion des Christus-Ereignisses auf das „Auftreten des historischen Jesus“, dem wir moralisch nachzueifern hätten. Das Kommen Gottes in die Welt setzt sich in der Verkündigung fort, in der Zuwendung (oder Nicht-Zuwendung) der Welt zu Gott. Wir sind also auf jenen Nachfolge-Weg gerufen, auf dem wir eigene Schritte tun müssen (das bleibt unsere Verantwortung), auf dem wir aber doch ein Ziel erreichen, das wir auf eigenen Beinen nie erreichen würden (das Heil wird uns im Glauben gegeben).

 

Damit ist auch die christliche religiöse Erfahrung mit dem Erlebnis des Wahr-Gut-Schönen verknüpft; damit steht auch die christliche Glaubensrede in einem Verhältnis zur theoretischen Wahrheitsbehauptung, zur ethischen Verpflichtung und zur ästhetischen Schönheitserfahrung. Aber während in der Aisthesis (die der „Ästhetik“ den Namen leiht) das „Wahre“ erscheint und die Ethik am Ziel ist, erfährt sich die Kultgenossin christlicher Gottesvergegenwärtigung auf einen Weg gerufen, der sie „wahr macht“, insofern sie mit ihrer Antwort teilhat am Christusereignis. Diese Wahrheit wird nicht „erinnert“ und „erkannt“, sondern im Glauben in Gang gesetzt, so dass sie im Vertrauen die Schritte tun kann, die von ihr zu tun sind, nach jenem Spannungsverhältnis von Vertrauen und Verantwortung, Glaube und Ethik, „Gesetz und Evangelium“, das christliche Theologie im Nachdenken über den Glauben entfaltet hat.

 

Objektiv und subjektiv

Das Gläubig-Werden bzw. die Verkündigung ist also zugleich ein „objektiver“ und „subjektiver“ Prozess, insofern es das Zur-Welt-Kommen Gottes fortsetzt, durch welches die Welt heil wird. Das Evangelium als Verkündigungs-Tradition tritt dem einzelnen mit dem Anspruch gegenüber, dass auch er hier mit dem ganzen Kosmos sein Heil finden könne (und auf Tradition als Vermittlungsweg ist das Evangelium auch angewiesen, da Kirche ja auch menschlich-historische Gemeinschaft ist).

Die Tradition allein kann aber das Evangelium nicht ausrichten, denn „Evangelium“ ist jenes vollmächtige Wort, das tut, was es sagt, indem es ausgesprochen wird: das Wort, durch das Gott die Schöpfung ins Leben ruft und vollendet. So verkündigt es sich nicht allein durch Tradition, sondern auch durch „Palingenese“, in der das Heilsgeschehen an Christus „wiederum geschieht“.  Es ereignet sich in der Gemeinschaft an Christi Heilsweg.

 

Zwischen Objektivismus und Subjektivismus

Damit hat Tradition ein objektives Moment gegenüber den Angesprochenen, sie kann den einzelnen aber nicht völlig bestimmen und im Sinn eines „Objektivismus“ vergewaltigen, da Tradition allein nicht über jenes Wort verfügt. Sie ist für die Verkündigung nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung (was die Kirche damit ausdrückt, dass sie die Missionsrede in eine Taufe ausmünden lässt, in der der Täufling in ein unmittelbares Verhältnis zu dem in der Epiklese gegenwärtigen Herrn tritt).

Dieses unmittelbare Gottesverhältnis gibt umgekehrt aber auch nicht die Basis ab für eine „subjektivistisch“ Vereinseitigung christlichen Glaubens. Während im kosmogonischen Modell jedes einzelne eine Manifestation des Einen und Göttlichen ist, steht der Christ in jener geschilderten Einheit und Differenz von Gott und Welt, die erst über einen „Nachfolgeweg“ zur vollen Einheit findet. Und diesen Weg teilt der Christ mit andern. Er bleibt auch auf das Zeugnis der Tradition angewiesen, wenn er ihm auch nicht „objektivistisch“ ausgeliefert ist.

 

Was ergibt sich also für die Frage nach dem Einzelnen und dem Allgemeinen im Glauben?

  1. a) In dogmatischer Hinsicht zeigt sich hinter dem kerygmatischen Anspruch („hier ist das Heil der Welt, in dem auch Du heil werden kannst!“) eine „objektive“ Grösse, jenes „extra nos“ des Heils. Das kann die Verkündigung vor den einzelnen hinstellen; daraus gewinnt ihre Anrede einen ganz speziellen Geltungsanspruch. Diese Objektivität kann jedoch nie in Objektivismus umschlagen, wenn die Verkündigung nicht in Widerspruch zu ihren Grundlagen geraten will.

lm Unterschied zum kosmogonischen Modell wird Gott in AT und NT ja nicht an eine weltliche Entität gebunden. Daher kann die Heilszusage an den einzelnen diesen nie von einer weltlichen Grösse bedingt sein lassen. Der einzelne wird einzelner vor Gott gerade nicht durch seine Zugehörigkeit zur Welt. Seine Würde kann daher auch nie von anderen Menschen verwaltet werden.

 

Damit ist der Kritik gegen alle möglichen totalitären Entgleisungen christlicher Verkündigung in der Kirchengeschichte Rechnung getragen. Damit kann sich Kirche auch gegen jeden fremden ideologischen Totalitarismus zur Wehr setzen.

 

Andererseits stellt das Kerygma der Angesprochenen in Aussicht, hier wirklich eine einzelne zu werden, in einer Würde, die im kosmogonischen Modell nicht vorstellbar ist. Denn dort hat sie wohl Teil an der „göttlichen Natur“, bleibt aber doch der „Welt“ und ihren Bedingungen verhaftet, weil „Welt“ selbst eine Manifestation des Göttlichen ist. In christlicher Verkündigung wird sie „Subjekt“ ohne Gefahr des Subjektivismus, weil sie nun nicht kraft ihrer „Gottunmittelbarkeit“ sich selber zum Massstab aller Geltungen machen kann.

Damit ist dem Bedürfnis nach „Verbindlichkeit“ der Glaubensrede Rechnung getragen. Wenn auch die Geschichte des Staats-Kirchenrechts die Religion zur „Privatsache“ gemacht hat, dogmatisch ist der einzelne nicht Herr über seinen Glauben. Das Glaubens-Subjekt wird anders konstituiert als das Rechts-Subjekt.

 

Welcher Weg?

  1. b) Methodologisch geht es um die Frage, wie dieser Kerygmatische Anspruch („das Heil für die Welt und auch für dich!“) in seinem objektiven und subjektiven Gehalt zur Sprache gebracht werden kann. Wie finden wir zu Aussagen, die diesen Anspruch dem einzelnen entgegen-halten und ihm doch erlauben, in ihnen im eigentlichsten Sinn sich selbst zu werden? Wie sich zeigte, hat das Evangelium, die Verkündigung, zwei Vermittlungswege: sie ist im Sinn der Tradition auf menschliche Vermittlung angewiesen, beansprucht darin aber auch, dass Heil von Gott her geschieht, dass der Angesprochene „gerettet werden kann“ (Röm. 10,9), dass er also nicht nur an menschlicher Tradition, sondern an göttlichem Heil teilhat. Für dieses die Tradition übersteigende Moment stehen die Chiffren „Palingenese“ oder „Geist“. Die Kirche ändert hier die Sprachebene, sie handelt “ kultisch, feiert Sakramente; sie lässt die Missionsrede in eine Tauffeier übergehen.

 

Verkündigung muss also beides verknüpfen: Tradition und Vergegenwärtigung Gottes, das Zeugnis der Generationen und den Gottesdienst. Aus der Tradition allein kann Verkündigung also nicht zum Ziel kommen, d.h. Tradition verdient nicht nur Glauben, weil sie mit zur Verkündigung gehört, sondern auch Kritik, weil sie Verkündigung allein nicht leisten kann und  daher in Verfallsformen übergeht, wo sie sich absolut setzt.

 

In Bezug auf die Tradition geht es methodologisch also um die Frage, wie Tradition kritisiert werden kann (auch die biblische Tradition), ohne dass dadurch ihre bleibende Gültigkeit verdunkelt wird. Dass „historistische Kritik“ und „existenziale Hermeneutik“ diese Doppelaufgabe nicht leisten können, ist deutlich geworden. Die historistische Vergleichgültigung der Tradition als bloss-historischer Ausprägung in einem einmaligen, unwiederholbaren Kontext betreibt einen Kahlschlag, auf dem keine Bäume überdauernder Bedeutung mehr stehen bleiben.

Liesse sich denn ein Wahrheits-Kriterium finden, das uns instand setzte, sowohl die Tradition kritisch zu sichten und unberechtigte Ansprüche zurückzuweisen, als auch die bleibende Wahrheit für unsere Zeit herauszustellen? Die Wahrheitsfrage gehört zum philosophischen Modell der Weltdeutung. Sie ist ein Erbe der griechischen Philosophie und gehört letztlich dem kosmogonischen Denkmodell an, d.h. lösbar und sinnvoll ist die Wahrheitsfrage in Bezug auf Gott nur unter der Voraussetzung, dass Gott sich als Urgrund in diese Welt selber eingestiftet hat und als ihr Einheitsgrund aus ihr erkannt werden kann.

 

Die Methodik müsste dogmatisch also auf einer biblischen Sicht aufbauen, nach der Gott der Welt frei gegenübersteht, sie als seine Schöpfung aber doch in Händen hält. Dieser dogmatischen Einsicht entspricht auch der sprach-philosophische Befund, dass religiöse Rede selbst nicht im Wahrheits-Diskurs geklärt werden kann. Religion als Sinn-Horizont sprachlicher Verständigung setzt zwar die Kriterien, die es allererst erlauben, einen Wahrheits-Streit auszufechten (vgl. Krieger), auf die Kriterien selber ist dieser Streit aber nicht anwendbar. Die nächsthöhere Ebene wird nicht durch Wahrheits-Argumente, sondern durch Symbole charakterisiert.

 

Sprache der Symbole

Die Suche nach einer Methode zum Umgang mit der Glaubenstradition, welche die  Verfallsformen des Objektivismus wie des Subjektivismus vermeidet, müsste  also beim Symbol ansetzen.

 

Ist es Zufall, dass die frühe christliche Verkündigung (und die Evangelien) in einer Symbol-Sprache reden? Gehört das zu dem historisch-relativen „kulturellen Kontext der antiken Welt, weshalb die Symbole heute entmythologisiert und in philosophische Wirklichkeits-Deutung übersetzt werden müssen? Offensichtlich nicht. Philosophische Rede, ob sie nun metaphysisch daher kommt oder im Jargon der Existenzphilosophie, macht etwas eindeutig, was nicht eindeutig ist: sie verstösst gegen den dogmatischen Befund der Einheit und Differenz von Gott und Welt. Diese Spannung wird aber gerade in symbolischer Rede aufrechterhalten.

 

Ein religiöses Symbol ist ein Element der „Welt“, das auf „Gott“ verweist.  Anders lässt sich in einer Welt, die nicht Gott ist aber zu Gott gehört, gar nicht von Gott reden. (Zwar hat mit dem „Christusereignis“ ein Weg zur Eindeutigkeit begonnen, daher ist symbolische Rede auch kein beliebiges Reden „als ob“ – im Sinn einer schöngeistigen Allegorie mit austauschbaren Inhalten, aber solange wir Gott nicht „von Angesicht zu Angesicht schauen“, bleibt die Glaubenssprache auf das Symbol verwiesen.)

 

Was leistet symbolische Rede? Wodurch ist sie vom objektivistischen oder subjektivistischen Missverständnis geschützt? 

– Symbolische Rede (Feier) ist immun gegen einen Objektivismus, sei es im biblizistischen Sinn, der den „Buchstaben“ der Tradition absolut setzt, sei es in einem philosophischen Sinn, der den „Geist“ zu entschlüsseln meint.

Die Verkündigung steht heute unter anderem deshalb in einer Sackgasse, weil viele Menschen die von ihr mitgeschleppten metaphysischen Bilder von „Jenseits“, „Geist“ und „Seele“ etc. nicht mehr nachvollziehen können. Den existenzphilosophischen Jargon mag aber auch niemand mehr hören. Symbolische Rede gibt sich dagegen nie als Wirklichkeits-Rede im Massstab 1:1 aus, sie ist immer mit dem Bewusstsein verbunden, bildhaft auf etwas hinzuweisen, das erst anfängt, handgreifliche Wirklichkeit oder denkbare Wahrheit für uns zu werden.

 

– Symbolische Rede (Feier) ist aber auch immun gegen subjektivistische Aneignungen. Denn ein Symbol ist eine „objektive“ Grösse. Im Unterschied zu einem „Symptom“, das zu einer privaten Geschichte gehört, zu einer Privat-Sprache, wird das Symbol von einer Symbol-Gemeinschaft geteilt (das „symbolum“ ist ihr Erkennungszeichen). In dieser Gemeinschaft besitzt es aber nie jene falsche Eindeutigkeit, mit der Biblizisten den Finger auf Verse legen oder Philosophen Wahrheits-Ansprüche aufrichten; mit ihm kann kein Zwang über den einzelnen legitimiert werden.

Symbole fordern nicht ethisch zu einem bestimmten Handeln auf, sie stellen aber ein Bild gelingenden Lebens vor Augen, das auf Fragen des einzelnen antwortet. Ein Symbol will den theoretischen Streit über die Welt nicht entscheiden, es unterscheidet sich ja vom „Zeichen“, das zur Begriffssprache und damit zum philosophischen Modell gehört. Es nimmt aber gleichnishaft Bezug auf die Welt, in der wir leben, und überschreitet sie im Hinweis auf absolute Geltungen, die aber doch nur hinweishaft, nicht besitzweise zu unserer Verfügung stehen.

 

Und doch ist ein Symbol auch „subjektiv„. Das Symbol gibt mir jenen Deute-Horizont, vor dessen Hintergrund mir „Widerfahrnisse“ erst zu „Erlebnissen“ werden. Das im Symbol vor Augen gestellte Bild des gelingenden Lebens (durch alle Konflikte hindurch) lässt mich neu verstehen, wer „ich“ eigentlich bin. Ich kann meine Lebensgeschichte neu schreiben, meine Identität wird neu umgrenzt. Ich werde zum „Subjekt“, aber nicht für mich allein. Wer „ich“ bin, das kann ich vor jener Symbolgemeinschaft darstellen. Das Symbol eröffnet uns auch untereinander einen Verstehens-Zugang. („Geschichte“ erweist sich damit auch als eine Grösse, die dem Glauben nicht vorgelagert ist – wie in den Denkvoraussetzungen der historistisch-kritizistischen Methode -, sondern die sich unter den Deutungen des Glaubens allererst konstituiert).

 

Vor allem aber lässt sich das Symbol nicht nur bereden, sondern auch feiern. Damit transportiert es Tradition (gerade die tiefsten Symbole werden nicht  einfach neu erfunden); in der Feier ist das Symbol aber auch offen für die Einsicht, dass das Evangelium nicht allein über Tradition zur Erfüllung  kommt, dass die Welt bei aller Tradition nicht heil wird, wenn Gott nicht selbst  zu ihr kommt.

 

So schlägt das Symbol eine dreifache „hermeneutische Brücke“: zwischen den „Subjekten“ der Symbolgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit (synchron) aber auch durch die Zeiten hindurch (diachron), und es öffnet die Gottesdienst-Gemeinde für das Bewusstsein von Gottes Gegenwart (auch wenn diese nicht mehr mit dem Götterboten „Hermes“ als Ahnvater der „Hermeneutik“, sondern mit dem Gottessohn Christus bezeichnet wird). So erlaubt das Symbol eine kritische Begrenzung von Traditionsansprüchen, ohne diese aber gleich historistisch zu vergleichgültigen. Damit wird es der Tradition gerecht, indem es ihre bleibende Gültigkeit auch an uns zur Wirkung bringt.

 

Foto von Flo Maderebner, Pexels

 

Beachten Sie: Das Allgemeine im Glauben, Blogbeitrag

 

Die Beiträge wurden veröffentlicht in: Theodorant 91/1, Zeitschrift des Theologischen Fachvereins der evangelischen theologischen Fakultät Zürich, 13. Jahrgang