Alte und neue Tabus

Die alte Kirche war vom Friedhof umgeben: Es war ein Tabu-Bezirk, von einer Mauer umgeben. Ältere erzählen vom «Schauder», den sie als Kind empfanden, und wie sie sich nicht getrauten, den Ball zu holen, wenn er über die Mauer fiel. Der Tod war tabu.

Dieses Tabu auf dem Friedhof hat sich später zur Pietät gewandelt. Es war nicht mehr religiös begründet, aber man nahm Rücksicht. Der Friedhof war ein besonderer Raum, der ein anderes Verhalten verlangte. Besondere Rücksicht war geboten bei der Begegnung mit Menschen, von denen man annehmen konnte, dass sie in Trauer waren.

Ent-Tabuisierung
Heute wird die Kirche Ambach einbezogen in die Planung des Naherholungs-Raumes der Stadt. Die Mauer wird tiefer gelegt, dass man darauf sitzen kann, die Treppe verbreitert. So wird man auf dem ehemaligen Friedhof sitzen und das mitgebrachte Take-Away-Essen verzehren. In der Moderne gibt es eine Ent-Tabuisierung. Da ist kein Platz für Geister und Heilige Bezirke.

Dazu hat gerade auch die Reformation als Teil der Modernisierungs-Bewegung beigetragen: Der Heilige Geist bindet sich nach Auffassung der Reformatoren nicht an Orte und Gegenstände, so dass man Räume und Kerzen weihen müsste. Diese sind aber auch nicht gott-leer. Nach Auffassung der Reformatoren ist Gott „ubiquitär“, überall gegenwärtig. Eine simple Profanisierung der Räume und Gegenstände, die mit der Kirche zu tun haben, kann sich also nicht auf die Reformation berufen.

Tabu-Bruch
Trotz der «Enttabuisierung» in der Moderne gibt es Reste von Tabus, die im gesellschaftlichen Verkehr eine Rolle spielen. Der Tabu-Bruch nahm eine eigene Dynamik an. Weil er einen Skandal hervorruft, weil er tiefsitzende Werte und Orientierungen der Menschen berührt und weil jede Verletzung den Menschen aufwühlt und Beachtung erzeugt, ist er ein ideales Reklame-Mittel für Produkte und politische Wahlkämpfe.

So hat auch das ehemals Heilige längst Warencharakter angenommen. Es folgt der Logik des Marktes, ist ein PR-Mittel zur Erzeugung von Aufmerksamkeit, sei es, dass ehemals heilige Dinge positiv aufgenommen werden (so wird das neue Waschmittel von Lichtglanz umstrahlt, der Star tritt im Glanz auf wie eine alte Theophanie), sei es, dass gegen ein Tabu verstossen wird. (Der Tabubruch steht aber nicht mehr im Dienst der Befreiung von heiligen Herrschaften. Es geht um den Tabubruch an sich und seine PR-Wirkung.)

Alte und neue Rede-Verbote
Die «political correctness» ist der Versuch, heute so etwas wie ein Tabu neu zu etablieren, auch wenn es nicht mehr mit der Angst vor Tod und Ansteckung hinterlegt ist oder mit der Scheu vor Religiösem, sondern mit der Sanktions-Wut der Internet-Gemeinde. Kennt das alte Tabu die Scham des Tabubrechers, so ist die Internet-Sanktion oft existenzvernichtend.

Gesucht ist das rechte Tabu, eine neue Art, Dinge mit einer Sphäre der Hochachtung und Unantastbarkeit zu umgeben, wozu auch ein Verhaltenskodex gehört. Es zeigt sich nicht nur in der Kleidung, die man an solchen Orten und zu solchen Gelegenheiten trägt. Es zeigt sich im Auftreten, in der Art, wie man anderen Menschen begegnet, in der Lautstärke des Redens, in dem Filter, den man seinem Reden vorspannt. Was man sagt, und was nicht „decent“ ist, bei einer solchen Gelegenheit erörtert zu werden, das müsste sich inkulturieren. Man müsste es der nächsten Generation beibringen, den Kindern vorleben. Bis es sich einnistet in Gewohnheit und Charakter, in ein Gefühl von Würde und Schamhaftigkeit.

Der Konflikt von aussereuropäischen Kulturen mit „dem Westen“ hat auch damit zu tun, dass der mit allen Wassern des kulturellen Relativismus gewaschene West-Tourist keine Tabus mehr kennt, in alle Fettnäpfchen tritt und die Scham-Grenze dieser Kulturen verletzt. Der Betroffene möchte in den Boden sinken, er hat das Gesicht verloren, weiss nicht mehr, wie er noch leben kann. Wir haben die alte Sprache für Scham verloren und eine neue noch nicht gelernt. So könnte ein Tabu eine Hilfe sein für ein gesellschaftliches Miteinander. Im Augenblick hat der Tabubruch noch zu viel Belohnung bei sich. Davon lebt die Werbung in Politik und Kommerz.

 

Aus Notizen 2011
Foto von RODNAE Productions