Dornröschen und seine Gäste

Wie kann Friede werden untear Menschen, die seit Generationen unter Konflikten leiden?

Ein biblisches Rätsel
Eigenartig, diese Stellen in der Bibel, wo Gott die Menschen „verstockt“. Er schickt einen Propheten zu ihnen, aber sie sollen nicht hören. Er schickt einen Boten, aber sie sollen nicht umkehren, nein, sie sollen sich verstocken und schuldig werden, damit das Unheil seinen Lauf nimmt. Und sie verharren wie gelähmt und sehen das Unheil aufziehen.

„Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschliesse und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt.“ (Jesaja 6, 9ff)

Wie kommt es, dass wir manchmal in unser eigenes Unheil rennen? Warum sind wir wie gelähmt? Warum befördern wir das, was uns zerstört?

Der ungebetene Gast
Ich lese ein Buch aus meiner Jugendzeit: Alexandre Dumas „Der Graf von Monte Christo“. Dumas, der in der Zeit der grossen Umwälzungen in Frankreich lebte, deutet die nicht eingeladene Fee im „Dornröschen“ vom Schatten her.

Dumas verarbeitet den schnellen Wechsel der Schicksale in der Revolutions- und Restaurations-Zeit, die wieder von einer Revolutionszeit abgelöst wurde. Ihm muss das auffallen: Der Gast, der nicht eingeladen wird, ist der, dessen Präsenz man nicht aushalten würde, weil er aus der eigenen unversöhnten Vergangenheit auftaucht. Er ist mit Schuld, Scham und Bestrafungsangst verbunden, aber auch mit traumatischen Erinnerungen, denen man nicht gewachsen wäre. Oder man müsste abtauchen in ritualisierte, zwanghafte Angstabwehr-Mechanismen, deren Abspulen wiederum Scham und Demütigung auslösen würden.

Der gebetene Gast
Wenn nicht das ganze Dornröschen-Reich in Schlaf versinken und alles gelähmt sein soll, muss der Gastgeber diesen Gast einladen. Aber wie? Wie lade ich die Ängste ein, dass sie als Gast am reich gedeckten Tisch sitzen können? Wie halt ich das aus? Wie halte ich ihre Gegenwart aus, wenn ich schon ihre Abwesenheit nicht aushalte, weil sie von dort her immer Störmanöver senden? In der Abwesenheit nehmen sie noch viel grössere und schrecklichere Züge an. Besser ihnen in die Augen blicken, besser, die Auseinandersetzung jetzt annehmen. Dann kann ich vorbringen, was ich zu sagen habe, und hören, was sie gegen mich vorbringen, auch wenn es unangenehm ist!

Wenige Seiten später erzählt Dumas den Mythos von Ganymed, auch für ihn findet er eine andere Deutung. Auch diese stammt aus der Leidenserfahrung jener generationenlangen Revolutions- und Kriegszeit.

Warten auf den Himmel?
Auch für Ganymed hat Dumas eine eigene Deutung. Dieser „schönste aller Sterblichen“ wurde nach antiker Sage als Hirtenknabe von Zeus auf den Olymp entführt, damit er Mundschenk für die Götter sei und dort ewig lebe. In der Moderne wurde der Mythos unter „Knabenliebe“ verhandelt. Dumas, der das Leid der grossen Umbruchzeit gesehen hat, sieht darin ein Gleichnis für die leidende Seele, die sich Gott zuwendet, weil sie hier keine Hoffnung mehr findet. Das Unglück führt den Menschen dem Himmel zu. Das muss nicht im Sinn einer Daseinsflucht verstanden werden.

Die Welt übersteigen
Wenn die Welt undurchdringlich scheint für die Hoffnung, das Recht und die Barmherzigkeit, so verdunkeln sich diese Intuitionen nicht, sie strahlen im Gegenteil erst recht hervor. Denn sie sind denk- und lebenswichtig. Nicht die Erfahrung, dass sie in der Welt verwirklicht werden, ist die Quelle dieser Intuitionen, sie sind mit dem Menschsein gegeben. Und sie strahlen gerade dann hervor, wenn sie in der empirischen Welt verloren scheinen: kontrafaktisch, unter dem Kreuz. Das ist der anthropologische Anknüpfungspunkt für die Rede von der Auferstehung.

Diese übersteigt die Welt und ihre Kategorien, so wie die Gerechtigkeit jedes Recht übersteigt, das hier gefunden wird, und die Schönheit jedes hergestellte Ding. Aber diese Hoffnung gibt die Welt nicht auf. Im Gegenteil, sie findet den Weg aus Schlaf und Traum, aus Lähmung und Angst und zu neuer Wirksamkeit.

Verbitterung
Ich lese in der Bibel:

»Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht, wie es geschah bei der Verbitterung am Tage der Versuchung in der Wüste, wo mich eure Väter versuchten und prüften und hatten doch meine Werke gesehen vierzig Jahre lang. Darum wurde ich zornig über dieses Geschlecht und sprach: Immer irren sie im Herzen! Aber sie verstanden meine Wege nicht, sodass ich schwor in meinem Zorn: Sie sollen nicht zu meiner Ruhe kommen.« (Psalm 95, 7-11)

Der Psalm ist eine stille Predigt. Sie lädt mich ein, mich einzubeziehen.

Wir alle sind wie das Volk in der Wüste, so verstehe ich. Die einen hören seine Stimme, die andern nicht. Einmal können wir glauben, ein anderes Mal können wir nicht vertrauen. Wir versuchen Gott. Das geschieht v.a. in der Verbitterung, wenn wir ein Erlebnis nicht verarbeiten können, uns nicht versöhnen mit der Wirklichkeit, mit Gott und unserem Leben. So kehren wir uns nicht davon ab, wir verstocken uns. Wir hören nicht mehr, was Gott jetzt, in diesem Augenblick, zu uns redet. Wir verpassen mit dem Augenblick das ganze Leben. Denn immer wieder steht dieses vor uns, in jedem Augenblick.

Die Bibel ist ein grosser historischer Erfahrungsraum, ein Echoraum auch für unsere heutigen Erfahrungen. Hier wird verarbeitet, was die Menschen erlebt haben. Die Bibel begleitet sie in Trost und Zuspruch auf ihrem Weg. So redet sie, über grossen zeitlichen Abstand hinweg, auch zu uns.

Eine biblische Predigt
„Heute», sagt die Bibel, «wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht, wie es geschah bei der Verbitterung“.

Heutees ist eine Botschaft für heute, jetzt! Für das, was mich jetzt beschäftigt!

Wenn ihr seine Stimme hören werdetHeute werden wir seine Stimme hören, heute wird er zu uns reden in dieser Sache, die uns jetzt gerade beschäftigt und vielleicht verdüstert. Gott ist keine Sache unserer Vergangenheit.

So verstockt eure Herzen nichtIch soll aufmerken, nicht weiterfahren in meiner üblichen Art, nicht weitertrotten in der Furche, die ich gezogen habe wie der Ochse auf dem Acker, der nur die viele Arbeit vor sich sieht.

Wie es geschah bei der VerbitterungDas vor allem, der Referenzpunkt all meines Denkens und Fühlens, was sich immer wieder durchsetzt und mein Leben in einem Gefängnis festhält, dass ich immer wieder dieselben Kreise ziehe. Davon soll ich mich lösen und ich kann mich lösen durch den Glauben an Gott, an die Vergebung und Erlösung und neuschaffende Kraft Gottes.

Es gab wohl jenes „schwarze Loch“, es gab wohl jenen Abgrund, in den ich gefallen war, es gab wohl das „nie wieder!“, das meine erschrockene Seele schon in der Kindheit geschworen hat. Es ist wie der Urknall meiner Selbstwerdung und es wirft das Echo noch heute durch das All meiner Gefühle und Gedanken, wie der astronomische Urknall noch heute an der Hintergrund-Strahlung am Himmel abzulesen ist, obwohl das 13 Mia Jahre zurückliegt.

So ist der Moment der Schöpfung auch jetzt präsent. Aber inzwischen ist der Schöpfer in seine Schöpfung eingekehrt, er hat ein Erlösungswort gesprochen, eine neues „Es werde!“ Und ich muss mich nicht mehr um das schwarze Loch drehen. Ich bin auf eine neue Bahn geworfen. Auf einen Nachfolge-Weg, der von der Erde zum Himmel führt. Ja, auch in den Tod, auch in das Schwarze und ins Dunkle. Dadurch wird es begrüsst und aufgenommen. Dadurch wird das Wort verkündigt in der Nacht, von dem Jesaja 61 redet, das Wort der Befreiung. Jesaja 61,1:

„Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“ …

Dadurch werde ich frei, kann die Verbitterung hinter mir lassen und die Versuchung, als das Volk in der Wüste bei Massa und Meriba sprach: „Ist der Herr in unserer Mitte?“ – Ja, er ist in unserer Mitte. Er erleuchtet unseren Augenblick. So führt er das Volk aus der Wüste.

 

Aus Notizen 2015
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Zitiert wird Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo, Fischer Taschenbuch 1994 (der Text zu Dornröschen in III 379, zu Ganymed in III 407).