Tag Archive for: Geschichte

«Auferstehung», «Himmelfahrt» – Zeitgenossen können wenig damit anfangen, auch in die Bibel ist das spät gekommen. Sie antwortet damit auf Herausforderungen ihrer Zeit. Wie lässt sich die Wirklichkeit begreifen, wenn sie sich widerständig zeigt gegen alle Hoffnung auf positive Veränderung? Haben Recht und Gerechtigkeit keine Heimat auf dieser Erde?

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Wir sind aus Italien zurück, einen Tag später als geplant wegen des Streiks der Eisenbahner. Ich bin froh, dass wenigstens die Reise geklappt hat und die Kontrolleure uns mit dem alten Billet durchgewinkt haben. Dennoch standen wir zwei Stunden auf der Strecke und wussten nicht, wann es weitergeht. Auf der Fahrt nach Norden wurde das Wetter unfreundlich. Der Wetterdienst warnte vor «extremer Kälte». Wir hörten von einem Busunglück auf einer Strecke, die auch von unseren Kindern befahren wird.
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Die «Offene Gesellschaft» steht wieder auf Transparenten. Sie wird skandiert in Demonstrationen gegen rechtsradikale Parteien und Bewegungen. Sie bildet den Inbegriff des «Westens» und seiner Werte im Abwehrkampf gegen autokratische Regimes und geopolitische Konkurrenten. Aber was sind seine Werte und wie werden sie verteidigt?
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Die Aufklärung ist nicht zum vornherein atheistisch. Die Verfassungsdenker des 17. Jahrhunderts wollten nach dem 30jährigen Krieg eine neue Friedensordnung begründen, konnten dafür aber nicht mehr auf die religiöse Grundlegung zurückgreifen, da diese im Konfessionskrieg gerade strittig war. Darum postulierten sie ein „Naturrecht“, das analog zu einem Gottesrecht „über“ den positiven Rechtsordnungen stehen soll und damit als Legitimationsquelle dienen kann. Weiterlesen

Ich habe gestern die Baruch-Apokalypse gelesen. Da wird erst deutlich, was die Vorstellung von einem Schatz beinhaltet: Die Geräte des zerstörten Tempels werden in der Erde vergraben. Das ist nicht nur ein Tempelschatz, das sind nicht nur Becher aus Gold und Silber. Sie sind ein Unterpfand, dass es einen neuen Tempel geben wird, eine neue Heilszeit. Diese Apokalypse ist ein Beispiel für eine „Geschichtssschreibung von unten“.
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Letzte Woche kam das Gespräch auf den „Teufel“. Ich erinnerte mich an eine Frau, die mich als Pfarrer um Hilfe bat, weil sie sich von teuflischen Gestalten verfolgt fühlte. Als ich mich fragte, wie ich mich für diesen Besuch vorbereiten solle, spürte ich: Ich muss nicht alles Mögliche über Teufel und Dämonen nachlesen. Weiterlesen

Dass Krieg und Gewalt zu traumatisierenden Verletzungen führen, ja das ganze Generationen dadurch geprägt werden, tritt heute wieder vermehrt ins Bewusstsein. Das Gedenken an Auschwitz zeigt, dass der Umgang mit historischen Traumata ein Erbe und eine Aufgabe für Generationen darstellt. Manche Verletzungen wurden geschichtsprägend. Sie beeinflussten die Geschichte einer Nation oder wurden sogar als Kern der Staatswerdung erinnert. Zwei der grössten historischen Traumata, die die Weltgeschichte beeinflusst haben, werden in der Bibel erinnert, mit all den Versuchen, damit umzugehen und den heilenden Kern darin freizulegen. Sie stehen im Zentrum des ersten und zweiten Testamentes. Weiterlesen

Wie kann Friede werden untear Menschen, die seit Generationen unter Konflikten leiden?
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Manche Nationen haben ein sachliches Verhältnis zu ihrem Siedlungsort, zu ihrer Staatlichkeit, zu ihrem Territorium. An anderen Orten ist die Geschichte mit so viel Auf und Ab, Erfolg und Leid, verbunden, dass die Verbindung schicksalshaft erscheint. Oft wird das Verhältnis religiös gesehen, das Land erscheint als Gottesgabe, das Volk als Verheissungsträger. Das Christentum, im Römischen Reich gross geworden, spricht von einem universalen Reich Gottes. In solchen Begriffen verbinden sich religiöse und weltliche Gehalte. Das gilt es zu verstehen.

Was ist Israel, was ist die Kirche?
Im Theologiestudium begegnet mir immer wieder die Rede vom Gottesvolk, vom Reich Gottes und vom Gelobten Land. In der «Kirchengeschichte» und in der «Geschichte Israels» wird erzählt, wie es diesen Grössen in dieser Welt ergeht. Dabei taucht eine Schwierigkeit auf: Kirche, Volk Gottes, Israel sind in der biblischen Verwendung Ganzheitsaussagen. Sie lassen sich nicht einfach in Begriffen der empirischen Welt abbilden. Sonst landet das Gespräch in Sackgassen.

Sackgassen der Diskussion
In der Bibel ist „Israel“ ein theologischer Begriff. Eine historische Engführung in der „Geschichte Israels“ muss in dieselbe Sackgasse führen wie die „Leben-Jesu-Forschung“ in der Theologie-Geschichte. Viele Autoren plagen sich mit der Vor- und Frühgeschichte Israels: „Wo beginnt jene Grösse, die als „Israel“ anzusprechen ist?“ Es beginnt mit dem Glaubens-Verhältnis, es beginnt mit dem Verhältnis von Gott und seinem Volk, mit dem Akt des Bekenntnisses, es beginnt einmal und immer wieder neu. In der „Geschichte“ ist dafür kein Anfang auszumachen, genauso wenig, wie die Leben-Jesu-Forschung in der Geschichte einen Anfang der Einheit Jesus-Christus ausmachen kann.

Historisch findet man allenfalls Spuren eines historischen Jesus, aber als „Jesus, der Christus“ lebt er nur in Bekenntnis, im „Kerygma“, und also in Bekenntnistexten. Ebenso kann der kerygmatische Charakter des Israel-Verhältnisses nicht historisch unterlaufen werden – ausser in einer Geschichts-Theologie, in welcher „Geschichte“ als direkte Offenbarung Gottes aufgefasst wird. Dort fallen historische und theologische Wahrheit zusammen; der Glaube kann sich „historisch“ seiner selbst vergewissern. Theologie und Geschichte sind aufeinander zugeordnet. Nach dem Bruch dieser Einheit nach dem Zweiten Weltkrieg (das geschah schon früher, wurde aber erst dann breit rezipiert) ist das nicht mehr möglich. Jetzt noch historisch nach einer Vor- oder Frühgeschichte Israels zu fragen (und dabei jene theologische Grösse zu meinen) ist methodisch nicht möglich und erkenntnistheoretisch unsinnig.)

 

Inhaltsverzeichnis

Wer ist „Israel“?. 2

Ethnische Engführung. 2

Positivistische Engführung. 3

Ethische Engführung. 4

Umkehr 4

Zusammenfassung. 5

 

 

Wer ist „Israel“?

In der hebräischen Bibel wird Israel schon in den Vätern präfiguriert. An sie gehen die Verheissungen und über sie an ihre Nachkommen. Über die Volks- und Nachkommens-Verheissung sind die Patriarchen mit den folgenden Geschlechtern verbunden. Genealogie dient als Band, ähnlich wie die apostolische Sukzession im Katholizismus.

Ist das mehr als ein Bild? Die Menschheit und also das empirisch erscheinende Volk Gottes besteht zum grössten Teil aus Toten: denen die vorher gelebt haben und denen die noch folgen. Es ist ein über-empirischer Ganzheitsbegriff, der mit der empirischen Grösse der heute und hier lebenden Menschen nicht abgedeckt werden kann. Also muss der Partner Gottes in der Volk-Gottes-Verheissung auch über-empirisch umschrieben werden, z.B. eben in Form einer Patriarchen-Gestalt: eines Stammvaters eines Volkes, aus dessen «Samen» die kommenden Geschlechter hervorgehen.

Der Rest und das Ganze
(Eindrücklich für diese Frage ist die „Rest“-Vorstellung bei Jesaja. Nach dem Untergang des Nord- und Südreichs bleibt ein Rest, der jetzt das Volk Gottes verkörpert. Erst fällt nur das Nordreich Israel. Juda sagt: Wir sind übriggeblieben! Also waren wir fast wie Sodom. Es gab noch einen Rest von Gerechten, daher gibt es einen Rest von Geretteten. Dann fällt auch Südreich. Ergo: Wir sind ganz wie Sodom, es gab keinen Rest von Gerechten und Geretteten. Die Restvorstellung wandelt sich: Soll es denn wirklich sein, dass Gott die Menschheit ganz aufgegeben hätte? Das hat er ja auch nach der Sintflut nicht getan, er hat einen Rest bewahrt, aus dem wie aus einer Arche ein neues Volk Gottes hervorging.

Es entsteht also ein Rest-Bild im Sinn einer Arché, eines „principiums“, eines keimhaften Restes.  Bei Jesaia in Naturbildern: der Baumstumpf – obwohl der Baum ganz abgeschnitten ist, kann wie durch ein Wunder aus dem Stumpf ein neuer Sprössling emporwachsen. Oder das Bild des Samens. Der Wald ist abgebrannt, aber aus den in der Erde ruhenden Samen sprosst neuer Wald. Oder das Bild des Kindes. Es ist im Mutterschoss noch verborgen, aber aus ihm sprosst ein neues Volk. Das verbindet sich mit der Hoffnung, dass Israel, als Volk Gottes, unter einem neuen Davididen neu erstehen wird. Das Kind aus dem Geschlecht Davids ist schon da. Das «Ganze» des neuen Gottesvolkes entsteht wie das Wachsen eines Kindes: der Friedefürst und sein Volk.

Das zweite Testament formuliert aus diesen Motiven eine Kindheits-Geschichte Jesu: er ist der keimhafte Rest, aus dem das Ganze kommt, er ist der kindliche Davidide, aus dem das Gottesreich neu ersteht.)

Ethnische Engführung

Aufgrund der Väter-Geschichten kann man das Volk Israel also genealogisch umschreiben. Gegen eine ethnisch definierte Engführung eines solchen genealogischen Verständnisses, wie es in der Diaspora, fast notwendig, entstehen muss, hilft eine Besinnung auf den überempirischen Charakter des Gottes-Volkes, was die genealogische Redeweise als Gleichnis erkennen lässt.

Aber auch bei den Vätern ist Genealogie ohnehin nicht das einzige Band. Schon dort wird Zugehörigkeit durch einen Bekenntnis-Akt gestiftet, die Beschneidung.  Denn Zugehörigkeit erfolgt nicht qua physischer Beschaffenheit, sie erfordert eine Antwort des Menschen, sie wächst ihm nicht zu wie die nationale Zugehörigkeit. Auch das Volk Gotts ist eben eine überempirische Grösse, die nicht ein-eindeutig in empirische Grössen abgebildet werden kann. Deshalb deckt sich der Kreis der Beschnittenen schon bei den Vätern nicht mit dem Kreis der genealogisch zu den Patriarchen Gehörigen: Abraham beschneidet auch die Fremden, die bei ihm sind, die genealogisch nicht Zugehörigen.

Positivistische Engführung

Nach der Reichsgründung gibt es nun eine empirische Grösse, die sich „Israel“ nennt, das Nordreich. (Die Autoren, die sich aufmachen, eine „Geschichte Israels“ zu schreiben, atmen auf: endlich ein fester Anhaltspunkt. Wenn schon Vor- und Frühgeschichte zweifelhaft sind, hier kann die Darstellung endlich auf festem Boden einsetzen. Denkste! Das ist eine positivistische Engführung, welche empirische und überempirische Grössen identifiziert.)

Insofern wir alle in empirischen Verhältnisse leben, sind wir alle auf den Versuch verwiesen, das Reich Gottes schon hier zum Ausdruck zu bringen. Wenn also eine Reichsgründung, eine Staatenbildung gelingt (wie im modernen Israel), muss das nicht zur Versuchung werden, beide Ebenen zu vermischen?  So kann bei positivistischer Engführung eine nationale Definition der Grösse Israel (als Verheissungsträger) entstehen (so wie man halt zur „Kirche“ gehört, wenn man in sie hineingeboren ist).  Das muss ins Abseits führen.

Prophetische Kritik
Ohnehin, jede historische Verwirklichung überhistorischer Grössen steht bleibend in der Differenz: Das im Modus der Verheissung Gegebene und im Glauben Angeeignete ist immer kultur-schöpferisch, es tendiert dazu, empirischen Ausdruck zu finden. Aber es ist immer auch kultur-kritisch; es geht über jeden Versuch hinaus, der immer nur vorläufig sein kann.

Die Differenz zwischen den empirischen und intelligiblen Gehalten im Gottesvolk-Begriff ruft die prophetische Kritik hervor: das Reich Gottes ist nicht „da“, es ist verborgen. Das Recht ist nicht am Verhalten der Menschen einfach ablesbar. Wenn wir vom Gesetz wissen, dann kontrafaktisch, weil das Gewissen uns daran mahnt, weil die Gebote es uns vor Augen stellen. Gott ist allenfalls im Gebot „da“, aber noch nicht in seiner Reichsherrschaft. Das Recht wird aber «offenbar» im Gericht. Im Urteil und in der Rechtfertigung wird offenbar, wer und was recht bzw. unrecht ist.

Eine genealogische oder nationale Definition wird hier aufgesprengt: zum Volk Gottes gehört nicht einfach, wer zur Nachkommenschaft der Patriarchen gehört oder wer zur nationalen Grösse Israel gehört. (Wo ist sie denn geblieben, diese nationale Grösse? Von den Assyrern zerstört. – Sollten die Assyrer stärker sein als Gott, sollte Gott kein Volk mehr haben, nur weil es den Assyrern so gefällt? Das sei ferne! Hier offenbart sich Gott, im Gericht, das sich der Assyrer als Mittel bedient. Damit wird aber auch das Volk Gottes neu definiert).

Die Propheten sprechen von einem “Buch“, in das die Zugehörigen des Gottes-Volkes eingetragen werden. Das Buch ist noch verborgen, nur Gott kennt es, aber im Gericht wird es für alle offenbar. (Die Zugehörigkeit wird „am Ende“ offenbar. Die Eschatologie wird beigezogen um das Ineinander von Ganzheit und sinnlicher Wirklichkeit in der Geschichte zu umschreiben.)

Ethische Engführung

Wird das Volk Gottes hier zu einer ethischen Grösse? Nützt es gar nichts mehr, über die Genealogie an den Verheissungen teilzuhaben? Dass die Ganzheit als „Volk Gottes“ nicht über eine ethische Verhaltenszumutung an die Menschen verwirklicht werden kann, wussten auch die Propheten. Sie haben es bitter erfahren. Denn das Volk antwortet nicht auf den Umkehrruf, es ist verstockt (und als die Katastrophen immer weitergehen, heisst es: Gott selbst hat sie verstockt, bis das Gericht zu Ende ist. Dann ist die Schuld abgebüsst. Dann kommt ein neuer Anfang: Dann gilt wieder die Verheissung: Wer die «Richtigkeit» einhält, wird Erfolg haben, wer dagegen verstösst, wird untergehen. Diese Konzeption gerät aber in die Krise, bis zur Schuldvertiefung, bis zur Erkenntnis: der Mensch kann das Gesetz gar nicht halten. Er kann aus eigener Kraft Sein und Sollen nicht versöhnen. Wenn diese nicht schon in Gott zusammenstimmen, gibt es kein Heil und keine Ganzheit.

Aus der Klage gegen den Schöpfer geht Gott in der Theodizee als Sieger hervor.  Gott hat die Welt gut geschaffen, aber der Mensch ist aus eigener Schuld in diese Unfähigkeit gefallen. Die Güte Gottes als Schöpfer und Erhalter zeigt sich jetzt aber in seiner Neuen Schöpfung, in seinem Erlösungswerk, in welchen Motiven und Traditionen das auch immer ausgesagt wird: er schafft einen «neuen Menschen», der sich nicht in dem unvereinbaren Dualismus von Gebot und Herz zerreibt, sondern dem das Gesetz direkt ins Herz geschrieben ist. Er führt uns «aus der Sklaverei» und erlöst uns wie seinerzeit in Ägypten. Er wird aus dem «Rest», der der Ausrottung entgangen ist, ein «neues Volk Gottes» erstehen lassen. Er sendet einen «Herrscher aus dem Geschlecht Davids» …)

Das Tun des Nichttuns
So wie die Propheten alte, vorläufige Gottes-Volk-Vorstellungen, die in eine Krise geraten waren, aufheben und neue formulieren, so wird in ihrer Tradition die weitere Erfahrung im Sinn einer Schuldvertiefung fortgeschrieben. Dieser läuft aber eine Fortschreibung der Verheissungen parallel. Die von Gott seinem Volk zugesagte Ganzheit überwindet auch diese historisch neu erfahrenen Brüche und Schuldmöglichkeiten des Menschen. Das Reich Gottes kann nicht durch Gebots-Frömmigkeit errichtet werden. Es ist ein gnadenhaftes Geschenk Gottes, wobei die Freiheit des Menschen aber nicht einfach aufgehoben wird. Diese „Dialektik“ oder das Spannungsverhältnis von Gottes-Gabe und Gottes-Forderung, von Glaube und Verantwortung, von Religion und Ethik, wird im Dekalog mit seinen beiden Tafelhälften ausgesagt, vor allem im Sabbat-Gebot, das in jener Zeit ins Zentrum rückt.

Es gebietet ein Nicht-Tun. Das Tun des Menschen, das zur Gerechtigkeit führt, ist das Gedenken, dass das Heil von Gott kommt. Erst so wird er frei aus der Lähmung der blossen Ethik, die aus innerer Notwendigkeit hypertroph werden muss (der Mensch ist nun mal nicht das Subjekt der Geschichte, das seine Existenzgrundlagen selber in Händen hält. Er findet sich vor, hat sich nicht selbst geschaffen…).

Umkehr

So gewinnt der Umkehrruf einen neuen Gehalt. Er ist nicht nur ethische Umkehr, sondern, wie es der Name sagt: Umkehr zu Gott, in dem Sein und Sollen bereits zusammenstimmen, ohne dass das dem Menschen aber als quasi ontologischer Besitz einfach zukommt. Umkehr ist weder ein ethischer Akt allein, eine Tatvermittlung von Sein und Sollen durch den Menschen, noch ein symbolischer Akt allein: die Ganzheitsrepräsentation, das im Glauben erfahrene Zusammenstimmen von Sein und Sollen bereits in dieser empirischen Welt, wo beides real noch auseinanderklafft.

Umkehr ist ein Begriff auf der Scheide zwischen Ethik und Religion, von Verantworten und Glauben. Im zweiten Testament heisst es «Metanoia»: Es ist ein metanoetischer Akt, wo immer der Übergang von intelligiblem Glauben in empirisches Tun gegeben ist (Ethik), wo es sich aber darin nicht erschöpft, denn aus der Enge der empirischen Grenzen ist umgekehrt immer der Übergang zur Ganzheit möglich.

Das Ganze in einem Augenblick
So kann Jesus am Kreuz dem Verbrecher neben sich noch in dessen letztem Lebens-Augenblick das Heil zusagen. «Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein.» Hier hat das Ganze in einem Augenblick Platz, sei es als glaubend erfahrene Heilsrepräsentation, sei es Befreiung aus der Lähmung blosser Ethik zur Tatwerdung.

Zusammenfassung

Auch wenn der heutige nicht-jüdische Synagogen-Besucher den Eindruck hat, dass der Begriff «Volk Israel» hier mit einer ethisch definierten Grösse gleichgesetzt wird (was aus der historischen Situation erklärbar ist), die hebräische Bibel hat viel umfassendere Antworten darauf parat. Es geht um dieselben Fragen, wie sie sich die christliche Kirche seit je stellen musste und auch heute stellen muss. Es geht um Heilszugehörigkeit, um das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch, um die Ganzheit.

„Volk Gottes“, „Kirche“ und „Israel“ stehen im Spannungsfeld sich wechselseitig bedingender Grössen: Weder können sie als empirisch auffindbare Grössen in ihrem vollen Bedeutungs-Gehalt ausgesagt werden, noch leben sie allein in bloss intelligiblen Gehalten. Wie der Begriff der „Menschheit“ selbst gehören sie beiden Bereichen an, in wechselseitiger Beziehung. Sie müssen empirisch konkret und zeitlich werden, gehen in der „Verwirklichung“ aber nicht auf (sie ver-wirken sich nicht). Insofern stiften sie empirische «Wirklichkeit“ und stehen dieser in all ihren Ausprägungen auch kritisch gegenüber.

Wenn sie nicht einfach empirisch feststellbar und umgrenzbar sind, so gelingt es doch auch nicht, sie nur ethisch zu definieren: „wer das und das tut, der gehört dazu!“, weil die Grenzen des Menschen das verhindern. Er ist nicht das Subjekt der letztendlichen Versöhnung von Sein und Sollen. Und doch, wenn es eine solche Versöhnung nicht gäbe, höbe sich Ethik in Absurdität auf und Leben wäre vollends unmöglich. Das Zusammenstimmen von Sein und Sollen in einer Ganzheit kann deshalb auch symbolisch in den Bedingungen der empirisch begrenzten Lebenswelt repräsentiert werden. Es wird im Glauben ergriffen, so dass sich der Lebensvollzug vertrauensvoll darauf verlassen kann, Verantwortung wird wieder möglich. Neben dem Spannungsfeld empirisch-intelligibler Gehalte steht das Gottes-Volk also auch im Spannungsfeld von Glauben und Verantworten, Ethik und Religion.

Umkehr als vermittelnde Grösse
Die Einheit all dieser Spannungen liegt nun in einem Begriff, der selber die Polarität in sich aufnimmt. Weder gehört er nur der empirischen, noch nur der intelligiblen Sphäre an. Weder ist er nur ein Glaubensbegriff noch nur ein religiöser Begriff: Umkehr, Metanoia. Zum Volk Gottes, zur Kirche, zu Israel gehört, wer umkehrt. Umkehr ist das, was die biblischen Autoren selbst in der letzten Stufe der Schuldvertiefung dem Menschen noch zumuten. Selbst wenn all seine Fähigkeiten für korrumpiert gehalten werden, umkehren kann er immer noch, und sei es im letzten Augenblick des Verbrechers am Kreuz.

Mögliche Autonomie
Es ist aber nicht einfach ein Symbolbegriff, der Freiheit und Verantwortung aufhöbe, weil alles vom Glauben erwartet wird. Er stiftet Freiheit, nicht im Sinn einer absoluten ethischen Autonomie. Aber im Sinn einer ethischen Autonomie, wie sie dem Menschen möglich ist:  Als Befreiung zur Tatversöhnung zwischen Sein und Sollen unter der Voraussetzung, dass sich beides überhaupt versöhnen lässt. Die Vertrauenshaltung des Glaubens sagt das als Geschenk Gottes aus. Die Welt ist kein Chaos, sondern da ist ein Gott, ein lebendiger Gott.

Die Einheit der Lebenswelt beschränkt sich nicht auf den physikalischen Bereich, wo sie in Form einer „universellen Weltformel“ ausgesagt wird (die gesuchte Vereinigung aller bekannten Energieformen, nachdem durch Einstein schon die Bereiche Energie und Materie auf die Formel «E= m x c 2» zurückgeführt werden konnten), auch die notwendigen Lebensintuitionen von Vertrauen und Verantwortung sind dort aufgehoben. Leben ist möglich; und alles, was Leben ermöglicht, wird vertrauensvoll in Gott gesetzt.

 

Aus Notizen 1988
Foto von pw

Wo steht die Kirche? Kirche als religiöse Instanz scheint heute kaum noch vorhanden, in einer anderen Form begegnet sie an allen Enden. Die Hoffnungen sind aus der Religion ausgewandert, die Versprechungen erfolgen nicht mehr im Namen eines Gottes, die Sehnsucht bindet sich an Gehalte dieser Welt, die aber doch mit religiöser Kraft aufgeladen werden. Das kann als Fortschritts-Versprechen erfolgen, wenn das Handeln in dieser Welt optimistisch eingeschätzt wird. Weiterlesen