Die offene Gesellschaft und ihre Verteidigung

Die «Offene Gesellschaft» steht wieder auf Transparenten. Sie wird skandiert in Demonstrationen gegen rechtsradikale Parteien und Bewegungen. Sie bildet den Inbegriff des «Westens» und seiner Werte im Abwehrkampf gegen autokratische Regimes und geopolitische Konkurrenten. Aber was sind seine Werte und wie werden sie verteidigt?

Eine Friedensordnung
Nach dem letzten Weltkrieg wurde nicht nur die UNO als Friedensinstrument gegründet, auch weltanschaulich suchte man nach einer neuen Ordnung, um die Gräuel von Faschismus und Kommunismus zu überwinden und ein neues Abgleiten in totalitäre Systeme von Grund auf auszuschliessen.

Der vor den Nazis nach England emigrierte österreichische Philosoph Karl Raimund Popper hat damals ein Konzept entworfen, das für viele Jahre wegweisend blieb. 1945 veröffentlichte er das Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Und noch heute, wenn Politiker angesichts autokratischer oder islamistischer Angriffe gefragt werden, was denn die Wertebasis des „Westens“ ausmache, berufen sie sich auf die „offene Gesellschaft“, wie Popper sie konzipiert hat.

Die offene Gesellschaft
Popper unterschied nicht zwischen Stalinismus und Faschismus, sondern analysierte sie beide unter dem Titel „Totalitarismus“. Das Übel beruhte demnach auf einer Weltanschauung, die sich selber total setzte. Ihre Parteigänger fühlten sich in ihren Erkenntnismöglichkeiten derart sicher, dass sie Widerstrebende zu ihrem Glück zwingen und sich selber als „Vorhut der Geschichte“ begreifen konnten. Der konkrete historische Gang liess sich dann revolutionär abkürzen, denn alle Diskussionen um Ziele oder Wege der menschlichen Gemeinschaft waren schon abschiessend in der Ideologie beantwortet.

Die Schlussfolgerung für die Zukunft konnte nur lauten, den Skeptizismus gegen solch totalitäre Entwürfe zur Staatsmaxime zu machen. Die Gewaltenteilung musste bis ins Denken hinein fortgesetzt werden. Es durfte nicht geschehen, dass eine Weltanschauung allein das öffentliche Leben dominierte, denn alle Erkenntnis tendierte zur Absolutsetzung. Die menschliche Vernunft sucht zwar immer eine Synthese und fragt nach dem höchsten Einheitsprinzip aller Wirklichkeit, dieser dialektischen Vernunft wurde aber jetzt jeder eigenständige Erkenntniswert abgesprochen.

Der Weg der Erkenntnis
Der „kritische Rationalismus“, wie ihn Popper auch wissenschafts-theoretisch vertrat, zeichnete ein Bild des Erkenntnisfortschritts, wo der Vernunft nur die Aufgabe zukam, spontane Hypothesen zu bilden. Der Erfahrung kam es dann zu, diese Hypothesen zu prüfen. Was die Erfahrung verwarf, war ausgeschieden; was sie nicht widerlegte, galt bis auf weiteres, aber ohne eigenständigen Erkenntnisanspruch.

Ähnliches galt für die politische Debatte im sogenannten Pluralismus. Die Weltanschauungen waren alle im politischen Prozess beteiligt, sie hatten aber zum vornherein nur den Status einer Hypothese. Mit jeder Wahl wurde ihr Zukunfts-Entwurf falsifiziert oder bis auf weiteres stehen gelassen.

Gewollter Relativismus
„Pluralismus“ nach Poppers Konzept meint nicht die Tatsache, dass sich in einer multikulturellen Welt verschiedene Weltentwürfe gegenüberstehen. Es zieht eine normative Folgerung daraus. Der Pluralismus, die Relativität von Weltanschauungen, wird zu einer Staats-Maxime. Sie werden einander gegenübergestellt, um ihre potentiell totalitären Folgen schon im Ansatz zu neutralisieren.

Das entspricht dem Weg der westlichen Verfassungs-Entwicklung. Die Religionskriege wurden im 17. Jh. beendet, indem die konkurrierenden Ansprüche der Konfessionen paritätisch anerkannt wurden. So konnten sie auf Reichsgebiet nebeneinander koexistieren. Nach dem Untergang des Reiches ging diese Parität als Grundsatz der religiösen Neutralität in die Gesetzgebung der Einzelstaaten ein.

Religionskritik und Verfassung
Insofern beruht die Befriedung der westlichen Gesellschaften unter den Bedingungen konfessioneller Konkurrenz auf einer institutionalisierten Religions-Kritik in der Verfassungstradition. Im Pluralismus-Konzept wird diese Lösung aber nochmals radikalisiert. Die totalitären Gräuel auf der einen Seite schaukeln auch die skeptizistische Kritik auf der anderen Seite in die Höhe. Da ist nicht mehr die liberale Hoffnung, dass die politische Diskussion nach dem Vorbild des Markt-Wettbewerbs die beste Lösung herausarbeite. Da kommt es nur noch darauf an, die Lösungsentwürfe, die in sich alle notwendig falsch sind, gegeneinander zu neutralisieren, um totalitäre Übergriffe zu vermeiden.

Ein Staat ohne Begründung
In diesem Konzept wurde der Faschismus verarbeitet im Sinn einer Totalitarismus-Kritik, die auch den Stalinismus einbezog und dabei bis zu einem erkenntnis-theoretischen Skeptizismus fortschritt. Ein Rückfall sollte verhindert werden durch ein Verfassungskonzept, das nicht selber wieder auf Begründungen beruhte, sondern nur in einer „balance of power“ der Weltentwürfe bestand.

Auf das Übermass an Geltung in den Staatsentwürfen der „rechten“ und „linken“ Ideologien folgte ein Übermass an Relativierung im Pluralismus-Konzept, das jedem Geltungsanspruch misstraut. Dieser Entwurf kann sich nicht selber positiv begründen, sondern lebt von der Abwehr totalisierender Wahrheits-Ansprüche.

Die weltanschauliche Neutralität des Staates, im Zeitalter der Konfessionskriege erworben, wird im Zeitalter des Totalitarismus zu einem Pluralismus von Staatsentwürfen – eine Art Notwehr-Verfassung, die das Ziel von Freiheit und Frieden nur noch negativ umschreiben kann im Waffenstillstand ideologischer Gegner.

Hier wird die Religionskritik institutionalisiert, indem Religion als Urbild totalitär-dogmatistischer Übermarchung wie eine der Ideologien behandelt wird – und das heisst von Verfassungswegen aus dem Anspruch auf Gestaltung des öffentlichen Raumes ausgeschlossen. Religion gehört in den Privatbereich. Will sie in der staatlichen Öffentlichkeit tätig werden, ist sie auf den Weg der pluralistischen Konkurrenz mit anderen Weltdeutungen verwiesen.

Und heute?
Viele Jahre hat dieses Konzept seinen Dienst getan. Heute, wo nicht nur verschiedene Staaten, sondern auch Kulturen konfliktiv aufeinandertreffen, fällt die Blutarmut dieses Modells auf. Die „offene Gesellschaft“ kann sich nicht inhaltlich begründen, sie lehnt eine solche Begründung ja auf militante Weise ab. Sie kann sich somit auch ihren eigenen Bürgern nicht erklären (ausser in dem einzigen Motiv, dass damit der Totalitarismus abgewehrt werde).

Und sie ist eine ausgesprochen schwache Basis, wenn junge Menschen nach einem Ort suchen in der Gemeinschaft. Sie möchten sich engagieren, sich einreihen in eine Bewegung, wo sie ihr Tun, wie klein es auch sein mag angesichts der Weltprobleme, als sinnvollen Beitrag erleben. Aber der Staat hat keine Meinung, die Kirche wird wie eine potentiell-totalitäre Organisation zurückgebunden, und der Freiraum wird von der Werbung aufgefüllt mit den Gütern einer Wirtschaft, die die äusseren Bedürfnisse auf historisch einmalige Weise befriedigt, aber die inneren Bedürfnisse leer lassen muss.

Der weltanschauliche Skeptizismus (nicht die philosophische Skepsis) stammt eigentlich aus dem Arsenal des „Kalten Krieges“. Es ist eine Waffe, die jetzt entschärft werden kann und muss. Denn heute reicht es nicht mehr aus, potentiell totalitäre Ideologien in Schach zu halten. Aufbauen ist ebenso wichtig oder fast wichtiger geworden als niederhalten.

Und die Kirche?
Wenn die Kirche aus dieser Sackgasse herauskommen will, muss sie die Mitschuld am Totalitarismus, wo diese besteht, bekennen und Redeformen entwickeln, die die absoluten Gehalte religiösen Heils symbolisch vermitteln. Die Antwort kann nicht in einer Relativierung der Heilsaussagen bestehen, so dass man im Gottesdienst nur noch vom „Nazarener“ spricht oder den Gottesbegriff ganz aufgibt, wie ein pensionierter Pfarrkollege kürzlich in einer Zeitung forderte.

Ein Jesus, der nicht mehr mit Gott zusammengedacht wird, kann vielleicht als moralisches Vorbild dienen. Aber er wird nicht die Welt retten. An ihn werden sich keine Gebete richten, mit denen die Gläubigen leben und sterben können.

Das „Heil“ im religiösen Sinn ist kein empirischer Zustand, den man jetzt verkleinern müsste, um dem Totalitarismus-Vorwurf zu entgegen. Es ist eine Glaubenszusage, die die Menschen die Kraft finden lässt, jeden Tag neu zu beginnen, auf ihre Aufgaben zuzugehen, auch Krankheit und Schicksal zu ertragen, in der Hoffnung, dass es auch für ihr Leben einst ein „Ankommen“ geben wird.

Das Heil tendiert zwar auf eine Verwirklichung in der empirischen Welt, aber es geht in dieser nicht auf. Das „Reich Gottes“ wird nicht in einer Fortschritts-Geschichte erstritten, es ist gewissermassen ein Grenzwert für alle Geschichte, wo diese hinstrebt, aber doch nie hingelangt. Denn wenn Gott es heraufführt, endet die Geschichte und die Wirklichkeit verändert sich. So motiviert es das menschliche Tun, ist aber immer auch sein Korrektiv, die kritische Instanz, von der alle Gesellschaftsentwürfe kritisiert werden können und müssen.

Die geforderte Kleinhaltung der Kirche betrifft den weltlichen Herrschaftsanspruch, der früher religiös legitimiert worden war. Er betrifft nicht die theologischen Aussagen. So können wir Gott wieder „Gott“ sein lassen und eine Brücke bauen zu einer wirklichen Christologie, die Jesus wieder von Gott her versteht.

Eine solche selbstgewisse Lebensweise im Konzert der Kulturen wird dann auch von andern bemerkt werden. Und gefragt nach den Werten des „Westens“ können wir dann mehr sagen, als dass wir gegen den Totalitarismus sind. So notwendig dieses Bekenntnis gerade heute auch wieder ist.

 

Beachten Sie den Beitrag «Säkularisierung – das Kind einer Friedensordnung»

Foto von Wendy Wei