Säkularisierung – das Kind einer Friedensordnung

Die Aufklärung ist nicht zum vornherein atheistisch. Die Verfassungsdenker des 17. Jahrhunderts wollten nach dem 30jährigen Krieg eine neue Friedensordnung begründen, konnten dafür aber nicht mehr auf die religiöse Grundlegung zurückgreifen, da diese im Konfessionskrieg gerade strittig war. Darum postulierten sie ein „Naturrecht“, das analog zu einem Gottesrecht „über“ den positiven Rechtsordnungen stehen soll und damit als Legitimationsquelle dienen kann.

(Darin ist der Gottesgedanke noch sichtbar. Im Ersten Testament kritisiert Gott die «schlechten Hirten» und kündet an, dass er seinen Messias senden, ja selber herrschen werde. So wird nicht mehr ein Mensch über Menschen herrschen, sondern das Recht selber die Herrschaft ausüben. Die Zwangsherrschaft hört auf. Der Rechtsstaat ist die säkularisierte Ablösegestalt der Gottesherrschaft.)

Versagen der religiösen Begründung
Auf irgendwelche positiven Aussagen über Gott konnten diese Denker nicht zurückgreifen, so prägen sie den methodischen Grundsatz, vorgehen zu wollen „etsi Deus non daretur“, als ob es Gott nicht gäbe. Es sollte allen einleuchten, egal von welcher Frömmigkeitspartei sie waren. Es war eine Grundlegung ohne Inanspruchnahme von Offenbarungs-Wahrheiten oder Gehalten, die nicht verallgemeinerbar waren.

So wurde die Vernunft als Richtschnur aufgerichtet. Es war keine theologisch-religiöse Begründung des Staates, der Friede wurde im Gegenteil gerade durch einen Verzicht auf eine solche Begründung gesichert, was für einen religiösen Lebensentwurf eine ungeheure Zumutung darstellt, da der Glaube sich automatisch auf das ganze Leben auswirkt und das ganze Leben gestalten will.

Es ist eine Errungenschaft der europäischen Geschichte, unter ungeheuren Gräueln eines Welt- und Konfessionskrieges gelernt und eingeprägt, eine Askese und Selbstbeschränkung des theologischen Geistes, welche den Frieden in öffentlichen Angelegenheiten zu sichern gelernt hat, indem man diese dem Streit der Konfessionen und Religionen entzieht und säkularisierte.

Ein Konzept dehnt sich aus…
Diese Bewegung, durch das ein Lebenselement aus der religiösen Gestaltungsmacht herausgenommen wird, dehnte sich später auf andere Bereiche aus. Schon die Herauslösung des internationalen Rechts und des Staates enthielt in sich weitertreibende Elemente, da der Staat als Gesetzgeber und Vertrags-Schliesser ja immer mehr Bereiche einer Regelung unterzog.

Natürlich hatte der Staat schon zuvor eine von der Religion unabhängige Stellung. Die Beziehung war umstritten und reichte von der Dominanz des Staates über die Kirche bis zur umgekehrten Dominanz der Kirche über den Staat. Mit der Reformation gelang es auch kleineren Mächten, sich vom Kaisertum abzuspalten und Hoheit über die kirchlichen Angelegenheiten in ihrem „Innern“ zu erlangen. Die Reformation half weiter bei der Errichtung einer modernen Landeshoheit, indem sie bisherige Materien des kirchlichen Rechts dem Staat überantwortete und aus der religiösen in die natürliche Welt verschob (z. B. Ehe, Heirat, Zivilstandswesen).

Mit der Einsetzung der Vernunft als regula veritatis wurde die Religion nun aber selber einer fremden Ordnungsmacht unterworfen (ganz abgesehen von den Interessen des Staats und seiner Akteure, die sich über Säkularisation kirchliche Gebiete und klösterliche Besitztümer aneigneten). So geriet Religion immer mehr in die Position einer Minderheits-Kultur, die sich vor einem fremden Richter rechtfertigen muss.

Verstecktes Weiterleben des Alten
Die Kirche, die Religion, lebt heute aus fremder Quelle, sie ist geduldet. Daneben lebt aber auch – versteckt – das andere. Der Glaube entdeckt die Quelle immer wieder in sich selbst, in der Begegnung mit dem lebendigen Gott. Daraus erwächst dem säkularen Staat eine Konkurrenzbestimmung.

Manche Gemeinschaften übernehmen das moderne Modell aus freien Stücken. Da dieses Modell aber selber nicht bei seinem legitimen Rahmen Halt macht, sondern selber eine Tendenz hat, sich absolut zu setzen, können Konflikte auftauchen, sobald ein religiöses Leben sich intensiver entwickelt und anfängt, sich für die Ordnung der Welt zu interessieren. Das führt zu Gemeinschaften, die sich mit der Stellung einer Subkultur begnügen. Es gibt aber auch Gemeinschaften, die den Anspruch erheben, die dominierende Kultur zu erobern, vor allem dann, wenn diese mehr und mehr Aufgaben nicht mehr erfüllt, wenn es mehr und mehr zu Fehlleistungen kommt.

Kulturkampf und Übergriffe
So kann es zu einer Art „Kulturkampf“ kommen, wie bei der katholischen Kirche im 19. Jh., als sie die Modernisierung wegen ihrer weltanschaulichen Folgen ablehnte. Im Modell Kulturkampf leben nicht mehr verschiedene Wahrheitsansprüche pluralistisch nebeneinander, hier erhebt ein Anspruch den Thronfolge-Anspruch. Er wird dem herrschenden Modell polemisch entgegengehalten.

Es mag Gruppen geben, die vielleicht sogar vor Gewalt nicht zurückschrecken. So kann es – als fernes Echo auf die Konfessionskriege des 17. Jh. – zu neuen religiös mitbedingten Kämpfen kommen. Das Friedensmodell des 17. Jh. versagt für diesen Fall, weil es bedingt, dass der säkulare Gestaltungsbereich sich auf einen für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens unumgänglichen Bereich begrenzt.

Hypertrophie des Säkularen
Diese Begrenzung auf einen für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens unumgänglichen Bereich ist heute nicht mehr gegeben, vor allem, weil auch Gesellschaft und Wirtschaft die säkulare Definitionsmacht immer weiter ausdehnen. Die säkulare Gesellschaft hat ein Tabu nach dem andern gebrochen. Politik und Wirtschaft fanden im Tabubruch geradezu ein Mittel zur Schaffung von Werbeaufmerksamkeit.

Die moderne Gesellschaft setzt sich selber absolut, ohne über einen inhaltlichen Kanon von gemeinsamen Überzeugungen zu verfügen. Nicht mehr die Vernunft tritt als «regula veritatis» auf, sondern der Erfolg auf dem Markt. Absolut ist die formale Überzeugung, dass jeder Anspruch sich vor dem Markt behaupten müsse, bevor er ein jederzeit revidierbares Konsuminteresse findet.

(Das reformierte Gegenstück des katholischen Lehramtes, die Behauptung, dass nicht eine Institution in einem festgelegten Verfahren die Wahrheit eines Glaubenssatzes findet, sondern ein offener historischer Prozess, in dem sich die Wahrheit durchsetzt, hat hier ein nachäffendes Satyrspiel gefunden: wahr ist jetzt, was sich im Markt der Meinungen behauptet).

Das Modell trägt nicht mehr
Das Friedensmodell des 17. Jh. trägt also nicht mehr, weil der säkulare Gestaltungs-Bereich sich nicht mehr auf ein für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens unumgänglichen Bereich begrenzt und weil die negativen Folgen immer deutlicher werden. Darum die vielen Bewegungen, die von einem Ende der Moderne, von Postmoderne, von neuer Religiosität, von Fundamentalismus, von neuer religiöser Gewalt, von Post-Aufklärung etc. sprechen. Der gesellschaftsweite Konsens der dominierenden Kultur ist dünn geworden.

Und die Religion? Wie agiert sie auf dem von der Säkularisierung leergefegten Feld? Die Religion kann versuchen, sich und ihre Güter neu zu artikulieren, ausgehend von der Befindlichkeit der Menschen, so dass diese ein «Aha-Erlebnis» haben: Das ist es, was mich schon immer beschäftigt hat! (Tua res agitur). Um auf solche Weise sprechen zu lernen, muss man ganz hinabtauchen in das, was die Zeitgenossen eigentlich bewegt und was sie plagt. Das kann einer immer nur für sich. Vielleicht haben andere es ähnlich erlebt? Wie gross der Konsens ist, der so erreicht wird, wird sich weisen.

Neu buchstabieren lernen
Dann muss man – erfahrungsgesättigt – neu buchstabieren, was das heissen kann, was der Glaube sagt. Was heisst: „sich anschliessen, gehalten sein, auf dem Weg sein, in die Mitte treten“? Was ist Schönheit und Erfüllung? Was heisst es aber auch, durch Leid und Krankheit einen Weg zu finden? Die Religion verfügte früher in „Gott“, „Heil“ und „Reich Gottes“ über oberste Synthesen, in denen alles vermittelt und versöhnt werden konnte. Dazu gehören auch der Tod und selbst der Tod der Schöpfung. Ein durch die Säkularisierung hindurchgegangener Glaube wird das weniger philosophisch einkleiden und trotzdem als Wahrheit verstehen, die symbolisch erfahren werden kann. So hilft der Glaube auch heute, Leben und Tod anzunehmen, sich in etwas Grossem und Umfassenden zu verankern und verwandelt zu werden in eine Wirklichkeit, die nicht vergeht. Daraus lässt sich Kraft und Motivation finden für das Leben und die Aufgaben dieser Zeit.

 

Beachten Sie den Beitrag «Die offene Gesellschaft und ihre Verteidigung»

Foto von David Montanari, Pexels

Aus Notizen 2008